48. Tage der deutschsprachigen Literatur
Der erste Tag endet mit einem klaren Favoriten
Von Bozena Badura
Die erste Lesung des Tages absolvierte Sarah Elena Müller mit dem Text Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette. Die Ich-Erzählerin steht auf der Schwelle. „Das Zimmer jenseits der Schwelle ist ein Gebiet. Rios Gebiet in unserer Wohnung. Alles dort durcheinander, halb eingefallene Kartons kollabieren unter der Last anderer Behältnisse, Spuren ausgedehnter Beschäftigung. […] Aber Rio ist längst weg. Ich stehe auf der Schwelle zu seinem Zimmer mit meinen Jesusgedanken. Ich bin die Rettung.“ Die Ich-Erzählerin durchsucht das Zimmer, wobei sie von der sprechenden Schwelle und einem gewissen Dr. Shaw begleitet wird. Wahrscheinlich entspringen beide nur ihrer Vorstellungskraft. Will das „Ich“ nur helfen, um sich selber besser zu fühlen? Wer ist hier wirklich süchtig?
Meist ist die Jury bei dem ersten Text des Wettbewerbs noch zurückhaltend. Es gilt, sich zunächst neu auf die aktuelle Konstellation einzustellen. Man erfasst den eigenen Standpunkt, sondiert die Meinung der übrigen Juryteilnehmer. Auch bei diesem Text zeigt sich die Jury zunächst positiv gestimmt. Und sobald die literarische Tradition der Schwelle ausreichend geklärt wird, widmet sich die Jury weiteren Aspekten des Textes. Sie lobt die starken Bilder, die sprachliche Gestaltung des Textes (Beispielsweise: Wer ist hier süchtig? Welche Bedeutung hat das Wort „Stoff“?) und seine erzählerische Spannung (Kommt Rio noch? Was, wenn er sie erwischt?). Auch die unzuverlässige Erzählstimme und die im Text vorhandenen Ambivalenzen werden gelobt. Vor allem die sprechende Schwelle sorgt für Diskussion. Denn während beispielsweise Brigitte Schwens-Harrant sprechende Dinge in den Texten durchaus begrüßt, bekennt der neue Juryvorsitzende, Klaus Kastberger, dass er eine Abneigung gegenüber personifizierten Gegenständen hat.
Während der zweiten Lesung hörten die Jurymitglieder und das Publikum den Text Schwestern von Ulrike Heidacher. Die Autorin und Kabarettistin debütierte bereits vor wenigen Jahren mit einem humorvollen Text aus ihrem Bühnenrepertoire. Doch in diesem Auszug aus dem bald erscheinenden Roman Malibu Orange (Leykam Verlag) ging es nicht um den Humor, sondern um den Abschied von einer sterbenden Großmutter.
Im Zimmer ist eine besondere Stimmung, irgendwie feierlich, wie wenn ein Kind geboren wird, der Anfang und das Ende sind sich dann doch ähnlich. Anjas Oma liegt im Bett und atmet ganz ruhig. Anjas Mutter sitzt bei ihr und hält ihre Hand.
Die Diskussion der Jury verläuft lebhaft. Während Klaus Kastberger den von ihm eingeladenen Text tapfer verteidigt und auch Mithu Sanyal alle möglichen Vorzüge des Textes aufzuzählen versucht, bleibt der Gesamteindruck der Jury eher negativ. Die Jurymitglieder sind sich zwar einig, dass der Text wichtige Themen anspreche – wie etwa die Generationskonflikte und den Tod – eine ausreichende Entfaltung bleibe jedoch aus. Alles sei zu zurückhaltend und zu brav.
Auch in dem dritten Text des ersten Tages wird vom Tod erzählt. Der Papa sei verstorben und die Mama müsse nun überlegen, was in der Trauerrede über den Vater erzählt werden soll. So erinnert sich das (wohl bereits erwachsene) Ich in wenig zusammenhängenden Erinnerungen an den Vater. Für die Mutter bleibt wenig Platz. Dabei ist sie diejenige, die das Funktionieren dieser Familie erst möglich machte und eine, die sich immer in den Dienst der anderen stelle, ohne dabei etwas für sich zu verlangen.
Wenn ich an meine Eltern denke, denke ich an den Schreibtisch und das Klavier. Beide sind aus Nussbaumholz. Ansonsten stehen sie für sehr unterschiedliche Welten. Der Schreibtisch steht für Papas Welt. Und Welt hat hier eine ganz konkrete Bedeutung: Papa sammelt Münzen aus der ganzen Welt.
Jurczok entspringt der Spoken-Word-Kunst und der Performation. Hier wurden die Erwartungen des fachkundigen Publikums nicht eingelöst. Der zwar gut vorgetragene Text wurde recht gewöhnlich präsentiert. Auch die Jury zeigt sich dem Text gegenüber nicht wohlwollend, selbst wenn es immer wieder positive Meldungen gab, wie z.B. das im Text verarbeitete Motiv des Tauschens oder die Figur der Mutter. Auch die Motive der Entwurzelung und der Enge wurden gelobt. Die kritischen Stimmen betonten dagegen insbesondere die unklare Haltung des Kindes zu den Eltern und die schwer feststellbare Erzählposition. Von wo aus wird diese Geschichte erzählt? Ist es ein kindliches Ich oder ein bereits erwachsenes? Soll in diesem Text eine kindliche Perspektive reproduziert werden? Denn an manchen Textstellen stimmten die Perspektive des erzählenden Ich und die benutzte Sprache nicht überein. Zudem stellten die Jurorinnen und Juroren fest, dass manche Sätze den Text unnötig verlangsamen würden, ohne dabei etwas Textrelevantes hinzuzufügen. Auch der zwischen den gewählten Erinnerungswiedergaben fehlende Spannungsbogen wurde bemängelt. Erkenntnisreich war die Feststellung von Laura de Weck, dass der Text ja im Grunde die Frage danach stellt, wie sich ein Leben zusammenfassen ließe und genau dies versuche ja auch Jurczoks Text.
Der Favorit des Tages und womöglich ein echter Anwärter für den Bachmann-Preis war die Erzählung Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde von Tijan Sila. In diesem Text beschreibt der Ich-Erzähler die Migrationsgeschichte seiner Eltern, ihr Auseinanderfallen nach der Ankunft in der neuen Heimat, ihre psychische Belastung, die mit der Zeit zu einer Krankheit wird.
Heute weiß ich, dass meine Eltern gemeinsam verrückt wurden. Sie gingen Hand in Hand zum Abgrund, doch während meine Mutter, unerschrocken, wie sei nun mal war, sich mit Anlauf hineinstürzte, kroch mein Vater auf allen Vieren zum Schlund. Am Ende prallte er aber nicht sanfter auf, er wurde zu einem waschechten Messi.
Die Jurymitglieder schienen sich gegenseitig in Lobesreden übertreffen zu wollen. In diesem Text stimme einfach alles: die Darstellung der Krankheit, die meisterhaft eingebaute Geschichte Europas, die Familienkonstellation: Mutter-Vater-Kind, die wunderbaren Dialoge, ein gekonntes Doppelspiel der Generationendarstellung, souveräne Symbolik sowie eine gelungene formale und sprachliche Gestaltung. Und auch wenn ein paar Enden lose blieben, seien es nur Kleinigkeiten, die die Qualität des Textes nicht minderten. Heiß diskutiert wurde dagegen die Nicht-Anerkennung des im Ausland erworbenen Doktortitels der Mutter.
Der erste Tag endete mit dem Text Nylfrance von Christine Koschmieder. In erster Linie beschreibt der Text die Beziehung einer selbstbewussten Frau, die sich als Geschäftsfrau in der Modebranche behauptet, zu einem Mann, der sich nur anpasst. Eine Beziehung, die nicht gut ausgeht. Dabei geht es um die Mode, um den veränderten Umgang mit der Ästhetik des Körpers. Nun sollen sich die Stoffe an den Körper anpassen und nicht umgekehrt. Es geht um die Selbstbestimmung der Frau, um die Geschlechterrollen, um eine ungleiche Beziehung zwischen zwei Menschen.
Ihrem Geschäftssinn sind sie zu verdanken, diese dünnen Wände, die niedrigen Cocktailsessel, der elektrische Hähnchengrill, die verglasten Schiebetüren, die nierenförmig abgesteckte Fläche für den Pool, finanziert mit Hunderten Kleinen Schwarzen, Pariser Chick in Nordhessen, als Stoff noch Mangelware war, Traueranzeigen hat sie aus der Zeitung ausgeschnitten, um ein Jahr später die Angehörigen anzuschreiben und ihnen einen guten Preis für die Trauerkleidung zu machen.
Auch diesem Text gegenüber zeigt sich die Jury wohlwollend. Gelobt wird u.a. der Mut, in den Zeiten der Autofiktion eine Geschichte zu erzählen, die nicht die eigene ist. Auch die gut dargestellte Stimmung der Nachkriegszeit wurde gelobt, wie etwa die sprachliche Ebene sowie die Textstruktur im Allgemeinen. Zwar wird dem einen oder dem anderen Jurymitglied in dieser Erzählung zu viel von dem spießigen Harry erzählt, der in seiner Anpassungswut und Spießigkeit unerträglich zu sein scheint, doch die Ambivalenz von Lilo scheint dies auszugleichen. Viel diskutiert wurde zudem die politische Aktualität des Textes sowie die Frage, warum Lilo eigentlich ihren Mann verlässt. Ist es, weil sie weiß, wo sie das bekommt, was sie will?
Der erste Tag endet mit einem preisverdächtigen Favoriten: Tijan Sila. Auch die positiv besprochenen Texte von Christine Koschmieder und Sarah Elena Müller könnten, abhängig davon, was die nächsten zwei Tage an literarischer Qualität zu bieten haben, auf eine Weiterverhandlung am letzten Tag hoffen.
Der zweite Lesetag kann beginnen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen