Verdruss am Dasein?

Fedor Pellmanns Gedichte in „Nur noch den Abend erreichen“ sind Ernüchterungskapseln

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So viel steht fest, die Texte von Fedor Pellmann sind Gedichte. Sie haben Strophengestalt mit abgesetzten Verszeilen, besitzen einen Titel und sind maximal eine Seite lang; die Sammlung ist als Gedichtband ausgewiesen und der Autor spricht im Dank selbst von „meinen Gedichten“ (S. 141). Folgende drei Stücke sollen exemplarisch den lyrischen Stil vorführen. 

WALDEN

Eine weitere Filzdecke, Salz,
Gummipaste, Lederriemen, Karabinerhaken,
Antibiotikum, Aspirin, Schnaps,
Schokolade, Dosenobst, Winchester, Öl, Planen,
Spaten, Draht, Zange, 100 Patronen
Kaliber 45, Feuerzeuge, Thoreau.
Die Hunde nehme ich mit. (S. 97)

Der Titel und die Dingliste suggerieren eine Nachahmung der berühmten Aussteigerepisode Thoreaus. Nachahmung, auch weil Antibiotikum und Aspirin historisch nicht in die Zeit um 1850 passen. Das Wort „Thoreau“ verstärkt die Referenz des Titels, kann metonymisch auch das schriftstellerische Œuvre des Amerikaners meinen. Der letzte Satz unterbricht das Wörter-Kino, das Sprecher-Ich kann sein Walden-Abenteuer so präzisieren, nämlich die Hunde beim Reenactment dabeihaben zu wollen. Während das Gedicht in produktivem Sinn aufgeht, sind die beiden anderen Stücke änigmatisch bis opak.

ORT

Dort ist kein Licht,
außer den Stürmen an den Küsten.
Denn wir sitzen beisammen und stammeln,
wenn wir hinaussehen zu dem Ort.
Dort ist kein Horizont, wo die Planken
und Taue verblassen. Dort, wo wir auf Grund laufen
und Gliedmaßen abschlagen und die Gefangenen zurücklassen. (S. 22)

Besitzt dieser Ort konkrete Koordinaten? Handelt es sich um eine Untiefe im Meer? Der unbestimmte Ort scheint maritim konnotiert und lässt sich als deiktischer Fluchtpunkt für das dreimalige „dort“ begreifen, das zu einem lichtlosen, horizontlosen, brutalen und angstbesetzten Irgendwo weist.

ZEIT

Wir starten in einer DC 10.
Die vier Motoren vibrieren. Darüber hinaus
geschieht nichts. Jetzt wieder
weisen die Wände Perlen auf.
Nur der Rumpf bewegt sich
in den Himmel.
Der Tankerbug zertrümmert die See.
Es kommen Gäste herein, und
und wir betrachten die Hände. (S. 123)

Unmerkliches Zeit-Vergehen und die Synchronizität von Ereignissen mögen hier im Mittelpunkt stehen. Heben auch das Cockpit, die Tragflächen, Motoren (die DC 10 besitzt realtypisch nur drei) und Insassen des lyrischen Fliegers ab? Oder findet eine Traumsequenz mit surrealem Geschehen Ausdruck (nur der Rumpf bewegt sich himmelwärts), und das Ich überkommt ein Gefühl von Zeitlosigkeit? Dem  ‚Segeln‘ des Luftschiffs jedenfalls steht die ‚Segelei‘  des Tankers  gegenüber, denn das englische ‘sailing’ wird auch im Zusammenhang mit Motorschiffen verwendet. Statt die See zu durchpflügen, zertrümmert der Bug sie. Ist das eine Anspielung auf Sturm und Gewalt? Wohinein treten besagte Gäste?  Das Betrachten der Hände, da wird es nahbarer, kann als Geste kontemplativer Zeitlosigkeit wie beschämten Ausweichens verstanden werden.

Die Mitteilungsklarheit der Gedichte variiert erheblich, die lyrische Verschlüsselung ist teilweise enorm. Die Aufmachung des Bandes hingegen ist klar, sechs Abschnitte versammeln insgesamt 112 Gedichte. Einen Faden, der die Abschnitte vernäht, gibt es nicht, zumindest ist er unsichtbar. Der Titel des Bandes Nur noch den Abend erreichen klingt sinister, ist aber mehrdeutig: Wer spricht? Ein müdes Ich? Geht es um Daseinsverdruss? Was ist vor dem Abend geschehen?

Einzelwörter als Titel der meisten Gedichte und in den Texten selbst erzeugen den abgeklärten bis trostlosen Grundton, auf dem die Sammlung resoniert :  ‚Zeit, Ort, Dauer, hier/jetzt, dann/dort/früher‘, ‚Erde, Leben, Biologie‘, ‚Stadt, Haus, Garten‘, ‚sterben, Tod, Totschlag‘, ‚Stahl, Fahrzeuge, Waffen’, ‚Südamerika, Buenos Aires‘ . Ein prominenter Komplex ist ‚Kindheit, Eltern, Generationen‘ . Reminiszenzen des Sprechers an eine eigene Kindheit und die Äußerungen einer meinungsstarken Instanz, die Kinder und Jugendliche als Heranwachsende beobachtet:

ELTERN

Zwei Mütter und Wagen
kommen da. Man muss zusammenlegen,
zuhaus’. Die Hygiene des Asphalts, im Sommer.
Ich werfe dann gerne Erde drauf, Kaugummi nachts
aus dem Fenster spucken, ist die Antwort auf das Recht
der Kinder.

Nun sind sie alle da. Jedes Jahr
klaue ich einem seinen Laster oder
übermale eine untalentierte Kinderzeichnung
am Elternabend.

Die Fortpflanzung wirft sie uns mit Bart
und Piercing auf die Straßen. Die gehen
nicht ums Verrecken aus dem Weg. (S. 11)

Hier steht eine Abneigung gegenüber einer Jugend im Raum, die den Älteren keinen Respekt zollt, die zumindest nicht vor Erwachsenen kuscht. In WIR (S. 55) lachen Erwachsene Kinder aus – warum ist unklar: „Wir gehen nicht mehr zum Arzt. Wir setzen uns auf die Parkbänke. Wir lachen die Kinder aus. Das ist Tagwerk. […]“. In MUTTER ERDE (S. 122) ist die erste Strophe wie ein Schuss: „Die größte Bedrohung für uns sind die Kinder. Ihr Geschrei kündigt unser Ende an. Solange man sie frei laufen lässt, wird es keine Vögel, Großeltern oder Regen geben. […].“ In JUGEND (S. 14) heißt es, dass „bereits die Kinder […] auf alles ihren Mut“ legten, dass es „bei Menschen […] nicht gut“ sei, dass „schamlos […] jedes Gespräch“ sei und „mit den Geburten die Flut und ihr Wahnsinn“ beginne. Wessen Wahnsinn ist hier gemeint? Zum Teil verstören die Zitate, manches ist erst einmal unklar. Vieles bleibt auch mittelbar mehrdeutig und rätselhaft und stellt den praktischen Verstand auf die Probe. Gedichte leben von propositionaler Uneigentlichkeit. Wortwörtlichkeit ist – und ist doch keine Währung von Lyrik. Auch wenn jedes Jota zählt, wollen die Wörter behutsam gelesen werden, sodass der semantische Möglichkeitssinn zur Geltung kommt. Dessen eingedenk, als Zwischenfazit: nicht wenige der Texte, vor allem die Texte in ihrer Summe, evozieren ein gewisses transgenerationelles Missvergnügen und eine Unnahbarkeit gegenüber dem Anderen.

In einem weiteren Komplex wird ein Nachlassen von Elan und Zuversicht, das Verlassenwerden von Angehörigen, eine damit einhergehende Vereinsamung undferner die Enteignung von Lebensgütern und Lebensgeschichte thematisiert, die mit dem Alter und dem Altern verknüpft sind. Zwei Stücke sind prominent platziert. FENSTER, das erste Stück im Band:

Hinter diesem Fenster eines Mehrfamilienhauses
in einem überschaubaren Vorort
wohne ich. Ich sehe täglich
hinaus. Die bebaute Straße, die Autos,
da draußen gibt es Menschen, ein
Hund kommt jeden Tag vorbei.

Ich bin schon alt, mein Zimmer
ist fast leer, meine Frau ist vor Jahren
gestorben. Ich habe alles verkaufen
müssen. Was ich im Leben tat,
liegt dort, andere nehmen es in die
Hand.

Ich gehe noch einmal suchen. Man hat
mir dann kaum zugehört. Freundlich
geht die Welt weiter. Ich habe nichts mehr,
und meine Zeit ist leer. Ich bin ein
alter, weißer Mann. Nun fange ich an,
die Bibel zu schreiben. (S. 8)

Der Alltag des Sprechers, der sich im Leerlauf der Zeit befindet, dessen Frau gestorben ist, dem die aktive Verbindung zu den Mitmenschen fehlt, erscheint trist. Die Figur verfügt nicht länger über seine Lebensleistungen und sie stellt sich noch selbst ins Abseits, wenn sie sich diskursgehorsam als „alter, weißer Mann“ bezeichnet. Dann die Volte: der Depotenzierte behauptet anzufangen, die Bibel zu schreiben. Ein Aufbegehren durch Selbstermächtigung, eine Prophet-Werdung à la abgeschriebener alter weißer Mann, der das Buch der Bücher und das Buch des Lebens schreibt.

DER LETZTE TAG, das Abschlussgedicht im Band, berichtet:

Heute ist mein letzter Tag.
Ich werde Kaffee zubereiten,
dann etwas aus dem Fenster schauen.
Wie immer wird nichts geschehen.
Wie immer, ein Weg, ein Blick,
es kommt nichts zurück.
Es gibt noch Post. Von Osten ziehen
Wolken auf. (S. 133)

Auch hier herrscht ein resignativer Ton. Alleinsein bestimmt die Szene, ferner Langeweile ohne Besuch und Aktion. Das Leben geht indessen weiter, die Post funktioniert, nur im Osten bricht kein neuer Tag an, sondern er sendet Wolken. Was mögen sie bringen?

Mit wiederum depressivem Gestus zeichnet ALTER MANN UND DAS MEER (S. 43) einen Zustand, der als Alt- und Alleinsein gedeutet werden kann: „Jetzt kommt niemand mehr, ich brauche nicht mehr zu warten. Die Freunde sind bei sich. Man kennt mich nicht mehr. […]“

Die Gedichte von Fedor Pellmann betören nicht, sie sind Ernüchterungskapseln. Expressiv unaufgeregt präsentieren sie assoziationsreiche Szenen, teilweise mit nicht nachvollziehbaren Sprüngen; sie erfordern vom Leser Konzentration und ein hohes Maß an Widerspruchsakzeptanz. Die Gedichte sprechen nicht radikal anders als üblicherweise gesprochen wird. Ausgefallene Wörter kommen nicht vor, kaum begegnen Abweichungen von der Normalsprache. Dennoch regiert ein Formwille. Aufgrund der deskriptiven Narrativik und alltagsweltlichen Bezüge muten die Verse wie konzentrierte Beobachtungen eines sprachbewussten Individuums an. Die Gedichte haben ein Mitteilungsbedürfnis, sind aber nicht schwatzhaft, auch wenn Titel wie „Edeka“, „Ikea“ oder „Supermarktjunkie“ das vermuten lassen. Die Texte sind – contradictio in adjecto – opak wie transparent, sie sind Texturen mit klaren Worten und  ‘Verwicklungen. Ostenativ wird auf lyrisches Sprechen als aparte poetische Überformung verzichtet. Die Gedichte kleiden sich ins Vernakulardes modernen Alltags, sprachlich wie bezüglich der Themen, Dinge, Orte, Begebenheiten und Erlebnisse.

Oft möchte man den Dichter konsultieren, wie viel autobiographische Selbsterfahrung in den Texten steckt, ob Verdruss die lyrische Produktion mit angetrieben hat. Denn die Lyrik verleitet dazu, sie mit der persönlichen Erfahrungswelt des Dichters abzugleichen: Pellmann ist Lehrer, beobachtet und begleitet als solcher sicherlich Kinder und Jugendliche beim Erwachsenwerden, hat sich auch lange in Südamerika aufgehalten. Trotz mancher Überschneidungen mag es schlussendlich aufschlussreicher sein, den überindividuellen Anteil des lyrischen Ichs maximal zu veranschlagen. Im Anschluss an Heinz Schlaffers Wesensbestimmung der Lyrik würde so die Frage, welche Sprechhaltung Pellmanns Stücke einnehmen und was genau sie kommunizieren, in den Hintergrund treten. Stattdessen laden die Stücke dann dazu ein, ihrem Zeichenspiel beizuwohnen und es zu bezeugen. Die Gedichte in Gänze zu verstehen, ist unmöglich. Sie sind keine Deklarationen, weder wahr noch falsch. Sie sind Literatur, die Alltagssprechen in ungebundener Prosa mimt, und als Dichtkunst ein Sprechen in Rätseln ist.   

Titelbild

Fedor Pellmann: Nur noch den Abend erreichen. Gedichte.
Jung und Jung, Salzburg 2024.
144 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990274002

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