Schachspiel ohne schwarze Züge
Das Jubiläum der Veröffentlichung von Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ und W. Daniel Wilsons Studie „Goethe und die Juden“ regen zu kanonkritischen Relektüren an
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Erscheinen von Johann Wolfgang Goethes Liebes- und Suizid-Briefroman Die Leiden des jungen Werthers im Jahr 1774 hat bereits zu der erwartbaren Anhäufung von Events, Konferenzen und Jubiläumspublikationen geführt. Frieder von Ammon und Alexander Košenina haben eine davon im Wehrhahn Verlag herausgegeben: 250 Jahre Werther. Neben der „Vorbemerkung“ der Herausgeber enthält der Band elf Aufsätze zu Goethes kanonisiertem Debüt. Es geht u.a. um den Einfluss des Textes auf zeitgenössische und spätere AutorInnen, um die Verfilmungen des Romans und um das Verhältnis von Realismus, Realität und Fiktion im Werther, als „ein Grundproblem modernen Erzählens“ (so der letzte Beitrag von Frieder von Ammon).
Košenina entdeckt Goethes Roman in diesem Zusammenhang als ein erstes Beispiel für die von Maxim Biller 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausgerufene „Ichzeit“ neu. Er versteht den Werther als Initiation einer nunmehr also schon jahrhundertelang anhaltenden subjektiven Schreibweise, einer „Menschenkunde aus strikt individueller Perspektive“, die starke Authentizitätseffekte zeitige und ähnlich wie bei Rainald Goetz, Wolfgang Herrndorf oder Christian Kracht die Frage nach konkreten autobiografischen Anteilen des Erzählens provoziere. Goethe wie auch der bei Košenina zu Vergleichszwecken hinzugezogene, längst vergessene Autor namens Willer, der 1778 im Windschatten des sensationellen Goethe-Debüts von 1774 ein Werther-Drama verfasste, erzeugten demnach zu ihrer Zeit in ihren Texten jene von Biller beschworene Illusion von Wahrheit und den Eindruck, dass die dargestellten Leiden des liebeskranken Protagonisten denen der Verfasser entsprächen. Demnach, so urteilt Košenina abschließend, dürfte sich Billers Behauptung, dass „nie eine Autorengeneration so narzisstisch wie unsere war“, „durch die radikale Subjektivität und Ichverliebtheit im Sturm und Drang weiter relativieren lassen“.
Doch warum wurde Goethes früher Roman so nachhaltig kanonisiert und blieb bis heute Schullektüre? Einen ersten Punkt nennen die Herausgeber gleich zu Beginn in ihrem Vorwort: „Dieser Roman lässt sich auch heute noch mühelos lesen, er erschließt sich gleichsam wie von selbst, ohne dass man dabei die Hilfestellungen der Literaturwissenschaft in Anspruch nehmen müsste.“ Als weiteren Grund führen sie die überragende Wirkung des Textes an, die bis heute anhält, etwa im Werk Wolfgang Herrndorfs, der den Werther in seinem Bestseller Tschick erwähnt und sich auch im Kontext seines Freitods im Jahr 2013 darauf berief. Ein Text, der den Freitod aus Liebeskummer so empathisch darstellt und nachfühlbar macht, ist und bleibt bis heute eine Provokation, ja ein Tabubruch.
Alle Aufsätze im Band 250 Jahre Werther sind gut lesbar und können auch einem fachfremden Publikum gut als Einführung in die Thematik dienen. Zu den instruktivsten Beiträgen zählen etwa Cord Berghahns kenntnisreicher Überblick zu Adaptionen des Werther-Stoffes in der musikalischen Moderne nach Richard Wagner und Moritz Strohschneiders erhellende literaturgeschichtliche Darstellung über „Goethes ‚Werther‘ in der Homosexuellenbewegung um 1900“. In letzterem Aufsatz wird deutlich, wie gut die Figur Werthers für eine empathische Darstellung des Leidens der kriminalisierten Schwulen im Kaiserreich eingesetzt werden konnte. Strohschneider stellt den Tagebuchroman eines gewissen Narkissos vor, der 1902 im Leipziger Max Spohr Verlag erschien: Der neue Werther. Strohschneiders These dazu lautet, dass dieser Roman in Goethes Werther „ein literarisches Modell findet, das es ihm ermöglicht, positiv von einem Liebesverlangen zu erzählen, das zu seiner Zeit als Krankheit galt, öffentlich tabuisiert und durch den § 175 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich juristisch sanktioniert war“.
Es gab aber im 19. Jahrhundert auch schon eine weniger ernstgemeinte Rezeption, insbesondere in Österreich: Annette Antoines Beitrag über Werther-Karikaturen in Wiener Lokalpossen belegt, wie beliebt Goethes empfindsames Werk mit seiner Selbstmord-Thematik gerade auch im Wiener Vorstadttheater war. Dem dortigen fröhlichen Publikum konnte zur Unterhaltung auf dem Theater gar nicht genug gesungen werden, und es schlug sich bei Ratschlägen wie denen des Schlusschors in Joseph Ferdinand Kringsteiners Parodie Werthers Leiden. Eine lokale Posse mit Gesang (1807) lachend auf die Schenkel: Kringsteiners Werther stürzt sich wegen seiner unglücklichen Liebe zu Lotte in die Donau, wird jedoch ausgerechnet von einem Pudel aus den Fluten gerettet und kommt mit seiner Angebeteten aufgrund eines edelmütigen Verzichts ihres Bräutigams Albert schließlich doch noch zusammen. Daher mahnt der Schlusschor dieser Posse mit Gesang, sich bloß nicht wegen einer Schönen „ins kalte Donaubad“ zu stürzen – denn „will eine nicht, gibt’s zehne, / die mit einem Mitleid hat“.
Ganz unabhängig von der Qualität oder Ausrichtung dieser vielfältigen und im 20. Jahrhundert ins Filmmedium übergreifenden Werther-Remakes spricht die schiere Breite dieser Goethe-Rezeption für sich. Selbst einer der größten Goethe-Kritiker der Nachkriegszeit, der im Sammelband 250 Jahre Werther nicht vorkommt, konzedierte, dass es sich beim Werther immer noch um dessen „bestes Produkt“ handele: Die Rede ist von Arno Schmidt. Als Avantgardist orientierte sich Schmidt im 18. Jahrhundert jedoch eher an Christoph Martin Wieland und entwickelte in seinem Funk-Essay über dieses große Vorbild aus der Zeit der Weimarer Klassik eine Werther-Kritik, die er in vielen seiner Texte der Zeit wiederholte: Der Werther sei ein „geniales Werk, das sich als ‹Briefroman› deklarierte – was man lediglich daran merkt, daß ab und zu ein ‹lieber Freund› apostrophiert wird, den man ansonsten nicht im Geringsten näher kennen lernt. : Dabei ist es doch gerade das primitivste Kennzeichen eines Brief‹wechsels›, daß sich zumindest zwei – wenn nicht gar mehrere – gleichwertige Individualitäten in ihren diversen Erlebnisreihen entfalten sollen! Der ‹Werther› ist ein Tagebuch; ganz simpel! –“.
In der Diskussion zwischen Sprecher A und B heißt es in Schmidts Wieland-Funkessay schließlich weiter:
A: Aber, verstehen Sie mich recht! : es müssen mindestens zwei gleichberechtigte Landschaften und zeitlich parallele Erlebnisreihen vorliegen! Dann, und nur dann hat der Briefroman überhaupt einen Sinn.
B.: Ah, jetzt verstehe ich Ihre Bemerkung über den kostbaren ‹Werther› erst richtig – die ich vorhin, ich will es nur gestehen, für sehr anmaßend hielt. Im ‹Werther› ist also der Fall eingetreten, daß ein großer Künstler sich absolut in der Form vergriffen hat : man hört ja nur Werther; von zwei einander das Gleichgewicht haltenden mächtigen Landschafts= und Erlebnisgruppen ist überhaupt keine Rede. Goethe hat die Briefform völlig unnützlich geführt? Er hat zur ‹Erledigung› eines Menschen, einer Landschaft, eine Form benützen wollen, die für zwei Menschen, zwei Landschaften zuständig ist?
A.: Genau das!
Im Versuch, den übermächtigen Konkurrenten Goethe aus dem Weg zu räumen, dessen Einfluss sich Arno Schmidt gleichwohl nicht entziehen konnte, führte der Nachkriegsautor diesen Kritikpunkt in jener Werkphase gleich mehrfach an. So etwa auch in seinem Essay Literatur : Tradition oder Experiment?, wo Schmidt das Argument erneut paraphrasiert, wie im Funkessay wieder unter Verweis auf das positive zeitgenössische Gegenbeispiel Wieland:
‹Werther›, so bewundernswert er immer sein mag, führt die Briefform, die immer wiederauftauchende Anrede an den ‹geliebten Freund›, völlig unnützlich! Man hört nämlich diesen fernen Partner überhaupt nicht; er bleibt der Schatten eines Traums : dergleichen aber ist wider den Geist eines ‹Briefromans›! Ist eine Schachpartie, von der wir nur die weißen Züge kennen – oder die schwarzen, wie man will. Wenn man einen vollkommenen Briefroman lesen will – den vollkommensten der Weltliteratur überhaupt – so greife man zu Wielands ‹Aristipp›; einem Modellfall literarischer Formung, dem selbst schreibenden Praktiker zur Schulung unerläßlich.
Der „Schatten eines Traums“ oder lediglich die weißen Züge einer nur halb wiedergegebenen Schachpartie – so könnte man auch den gewiss lesenswerten Sammelband von Frieder von Ammon und Alexander Košenina beschreiben, da die relativ kurze Aufsatzsammlung notwendigerweise nur einen Bruchteil der populärkulturellen Folgephänomene – oder vielleicht auch die in gewissen Medien mangelnde explizite Rezeption – von Goethes Werther-Erfolg antippen kann.
Jenseits des schulischen Kanons verblüfft zum Beispiel, dass es zwar eine Graphic-Novel-Adaption von Goethes Faust gibt, aber keine der Leiden des jungen Werthers. Geradezu uferlos ist dagegen die allgemeine popkulturelle Befassung mit dem Thema des Suizids aufgrund verschmähter Liebe oder auch anderer Gründe.
Neben Can’t Stand Losing You von The Police oder Fade to Black und Cyanide von Metallica erbrachte eine kurze Umfrage bei Twitter / X u.a. folgende Titel: Farin Urlaubs OK oder Die Toten Hosen mit Alles aus Liebe. Es wäre sicher zu weit hergeholt, solche Songs als eine Form der Goethe-Rezeption einzustufen. Dennoch stehen sie für eine andauernde Auseinandersetzung mit dem extrem emotionalisierenden Widerhallraum des Freitods und seiner Begleiterscheinungen. Auffällig ist dabei eine häufig zu beobachtende Wendung hin zu Rachefantasien und toxischer Männlichkeit, bin hin zum erweiterten Selbstmord bei den Toten Hosen:
Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist
Und bringe mich für dich umKomm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist
Und bringe uns beide um
Vielleicht ist dieser gewalttätige Dreh aber doch auch ein fernes Echo von Goethes Roman als ‚Erinnerungsort‘. Der männliche Narzissmus und die partriarchale Eifersucht führt in diesen Pop-Narrativen nicht nur zur Selbstzerstörung. Der Suizid wird in den Lyrics auch zu einer drastischen, misogynen Strafe für die Frau, die den Liebhaber verschmähte. So heißt es in der seltsam verschattet intonierten Peripetie des zitierten Songs von The Police:
I guess this is our last goodbye
And you don’t care, so I won’t cry
And you’ll be sorry when I’m dead
When all this guilt will be on your head
I guess you‘d call it suicide
But I’m too full, to swallow my pride
Eine Frage, die deshalb noch weiter erörtert werden müsste, als dies im Band 250 Jahre Werther geschieht, ist die nach einer dezidierteren kanonkritischen Relektüre von Goethes Werther und seinem Geschlechterbild. Lottes Perspektive wird in Goethes Roman ausgespart, der sich auf diejenige des narzisstischen Stalkers Werther beschränkt. Seine ungebetenen patriarchalen Besitzansprüche auf die Frau werden bereits früh im Roman deutlich, wenn Werther schreibt: „Wilhelm, um ehrlich zu sein, that ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte, als mit mir, und wenn ich darüber zu Grunde gehen müßte, du verstehst mich.“
Wie mochte es jedoch für eine junge Frau wie Lotte gewesen sein, die nun einmal ihrem Verlobten Albert versprochen war und sich den strengen Konventionen ihrer Zeit nach tunlichst daran zu halten hatte, plötzlich jeden Tag diesen durchgeknallten Werther vor der Tür stehen zu haben? Dabei kommt es bei Goethe zu bizarren Szenen. In einer dieser Situationen stürzt sich Werther in einer ekstatischen Übersprungshandlung herzend auf eines der Kinder aus Lottes Umkreis, das unter seinen wilden Küssen schreiend losheult und damit beruhigt werden muss, mit Lottes Hilfe sein Gesicht am Brunnen von der wilden Knutsch-Attacke zu reinigen. „Sie haben übel gethan“, tadelt Lotte hier den betroffenen Werther. Malchen, das kleine Mädchen, wäscht sich danach sogar immer weiter – eine Szene, die Werther in der Folge als Taufakt verharmlost: „Wie ich da so stand, und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine mit seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespühlt, und die Schmach abgethan würde, einen häßlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte, es ist genug, und das Kind doch immer fortwusch, als wenn Viel mehr thäte als Wenig – Ich sage Dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respect nie einer Taufhandlung beygewohnt.“
Hätte ein derartiger von Werther provozierter Eklat und eine solche, daraus resultierende Waschzwang-Konstellation, lange bevor Sigmund Freud derartige Neurosen als Krankheitsbilder beschrieb, nicht auch für eine literarische Figur wie Lotte etwas noch Bedrohlicheres haben müssen, als es die expliziten Distanzierungen und Tadelungen der Frauenfigur, die es durchweg gewiss gibt („Sie haben übel gethan“), nahelegen? Die den Frauen in der Zeit rigide zugeschriebene Rolle war es gewiss, sich auch bei solchen Ereignissen stets freundlich, still, duldsam und huldvoll allen und jedem gegenüber zu verhalten. Unter welchen tatsächlichen Druck und in welche Konflikte Werthers rücksichtloses Werben Lotte katapultieren muss, wird in Goethes erzählter Welt jedoch kaum erörtert. Die sich dahinter verbergende verletzliche Position der Frau wird im Text bestenfalls implizit nachfühlbar und bleibt damit eine vertane literarische Chance.
Lotte hat bei Goethe keinerlei Agency, keine wirkliche Stimme. Die „Ichzeit“ gilt hier buchstäblich nur dem männlichen Protagisten und seinem männlichen Blick auf die begehrte, aber bereits vergebene Lotte. Werther denkt in diesem Konflikt ganz selbstverständlich nur an sich, und die LeserInnen werden über weite Strecken des Textes mit seinen haltlosen Projektionen auf die angehimmelte Frau behelligt, von der bis zuletzt nur er annimmt oder hofft, sie liebe ihn genauso wie er sie. Erst ganz am Ende, in der sublimatorischen und in der zweiten Ausgabe des Romans von 1787 um bedeutsame Perspektiven auf Lottes darauf folgende innere Konflikte erweiterten Ossian-Passage, die ähnlich wie die Wagner-Pianoauszug-Szene in Thomas Manns Erzählung Tristan als Ersatzhandlung für eine verbotene erotische Eskapade steht, legt uns Goethes fiktiver Herausgeber-Erzähler eine tatsächliche Gegenseitigkeit des Gefühls der beiden Figuren füreinander nahe.
Es gibt jedoch zugleich fortwährend Signale im Text, die diese Liebe Lottes für Werther zweifelhaft erscheinen lassen. Sie habe ihm seine „Exzesse“ vorgeworfen, klagt Werther etwa am 8. November, also schon gegen Ende seiner „Leiden“. Gegen den Strich gelesen drängt sich hier noch eine ganz andere Beobachtung auf: Was in der erwähnten Brunnen-Szene nach heutigen Maßstäben wie ein demonstrativer sexueller Übergriff auf ein Kind in Lottes Gegenwart aussieht, der in Wahrheit ihr selbst gilt, kann als Schatten einer latenten Gewaltandrohung Werthers gegenüber Lotte verstanden werden. Werthers Empfindsamkeit, seine eruptive Impulsivität als typisches Motiv des Sturm und Drang, birgt hier also tendenziell schon jene toxische Männlichkeit, welche Jahrhunderte später die patriarchale Rock- und Populärkultur so fasziniert hat. Schließlich brechen bei Werther sogar offene Mordgedanken gegenüber dem Nebenbuhler Albert durch, wenn er auch stets davor zurückschreckt: „Wenn ich mich so in Träumen verliehre, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren: Wie, wenn Albert stürbe! Du würdest! Ja, sie würde – und dann lauf ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe führt, vor denen ich zurückbebe.“
Diese latente Mordlust Werthers wird in Goethes späterer Überarbeitung des Romans durch die hinzugefügte Szene mit jenem jungen Knecht noch einmal verstärkt, der aus Eifersucht den neuen Liebhaber der von ihm geliebten Bauernwitwe ermordet und dies mit den Worten begründet: „Keiner wird sie haben, sie wird keinen haben.“ Werthers spontane Anteilnahme, sein eruptives Mitleid mit diesem Verbrecher und sein manischer Drang, den Meuchelmörder gegenüber dem Amtmann und Albert in Schutz zu nehmen, gerät zu einer weiteren impliziten Drohung an die Adresse des befreundeten Paars, die zum endgültigen Bruch Alberts mit dem Konkurrenten um die Liebe Lottes führt.
Kurz: Der erweiterte Suizid, der bei den Toten Hosen am Ende des Songs steht, wird auch in Werthers Abschiedsbrief explizit erwogen, was seine Entscheidung, sich ‚für‘ Lotte umzubringen, ähnlich klar als Gewalt gegen die Frau lesen lässt wie bei den Deutschrockern aus Düsseldorf:
Ich will sterben! – Es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für Dich, ja Lotte, warum sollt ich’s verschweigen: eins von uns dreyen muss hinweg, und das will ich seyn. O meine Beste, in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – Deinen Mann zu ermorden! – Dich! – mich! – So seys denn!
Dieser so schließlich nur teilweise Selbstmord wird mit diesem letzten Brief an Lotte zu einem gleichzeitigen tödlichen Angriff auf die adressierte Frau und ihren Ehemann, deren Leben und auch deren Ehe danach beschädigt, wenn nicht endgültig zerstört wird. In einem der letzten Sätze des Romans, nach Werthers Tod, heißt es explizit: „Man fürchtete für Lottes Leben.“ Operation gelungen, Patient tot: „Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist / Und bringe uns beide um.“
Im Blick auf die Frage, wie es um die Zukunft des kanonisierten Werther-Textes bestellt ist, gibt es also durchaus noch Gesprächsbedarf. Dass Goethe, wahrscheinlich der am meisten interpretierte Autor der deutschsprachigen Literaturgeschichte überhaupt, in vielerlei Hinsicht bis heute hagiographisch und im Nimbus selektiver Legendenbildungen rezipiert und kanonisiert wurde, legt eine weitere Neuerscheinung zu einem Verhältnis nahe, dass im Werther noch keine Rolle spielt: W. Daniel Wilsons Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft. Wilsons Recherche zu diesem in der Germanistik nach wie vor heiklen Thema fördert etliche Quellen zutage, die in den letzten zwei Jahrhunderten ignoriert oder kaum je kritisch betrachtet wurden. Als politischer Akteur und literarischer Experimentator konnte der Weimarer Klassiker Juden durchaus heftig verspotten und hassen: Er äußerte sich etwa heftig gegen die Gewährung des Rechts für Juden, in der Stadt Jena auch nur zu übernachten, und war bis ins hohe Alter strikt gegen christlich-jüdische Mischehen. Zugleich schrieb der junge Goethe eine „Judenpredigt“, einen offenbar satirisch gemeinten Text, der das Jiddische nachäfft und mit dem Stereotyp jüdischer Rache und jüdischer Völkermordabsichten hantiert. Wilson sieht sich als Amerikaner angesichts dieser zeitlebens von Goethe unveröffentlichten literarischen Versuchsanordnung, in der eine jüdische Predigerfigur mit einem Gemisch aus hessischen und literaturjiddischen Lautbrocken radebrecht, an das rassistische Phänomen des Blackfacings erinnert.
Kaum zu glauben: Wilson ist tatsächlich einer der ersten, der sich Goethes ambivalentes Verhältnis zu ‚den Juden‘ differenziert und umfassend ansieht, nachdem Philosemiten und jüdische LeserInnen seit dem 19. Jahrhundert versuchten, ihn unter Auslassung oder in Unkenntnis solcher verstörender Dokumente emphatisch als Judenfreund hochzuhalten, während Nationalsozialisten wie Adolf Hitler und Joseph Goebbels ihn zur Zeit des „Dritten Reichs“ als zweifellosen Antisemiten zu vereinnahmen suchten. Nach 1945 kam es schließlich zu dem bekannten Goethe-Kult, der den Klassiker als Inbegriff des ‚anderen Deutschlands‘ aus der literaturgeschichtlichen Rumpelkiste hervorholte. In diesem verlogenen Nachkriegs-Boom, in dem Altnazi-Germanisten Goethe-Ausgaben besorgten, war eine Behandlung einer möglichen tatsächlichen Judenfeindschaft bei Goethe tabuisiert und wäre als Wiederaufnahme von Nazi-Literaturpropaganda à la Goebbels auch leicht zu denunzieren gewesen.
Allerdings hielt sich diese Form einer einseitigen Goethe-Rezeption zwecks einer Rehabilitierung Deutschlands, gegen die sich in der Ära Adenauer auch Arno Schmidt als Goethe-Kritiker einsetzte, bis in die Gegenwart. Wie Wilson uns erinnert, wählte noch Martin Walser in seiner berüchtigten Paulskirchenrede anlässlich des Erhalts des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1998, also 50 Jahre später, den angeblich vollkommen ideologiefreien Goethe als „Zufluchtswinkel“ vor der „Auschwitzkeule“, der „Dauerrepräsentation“ oder „Instrumentalisierung unserer Schande“. Hier musste Goethe als Feigenblatt eines lupenreinen Schuldabwehr-Antisemitismus herhalten. Walser entwarf das Bild einer Weimarer Klassik, die der Französischen Revolution von 1789 mit nobler Besonnenheit gegenübergestanden habe, wie Wilson rekapituliert:
Mitten im heißen politischen Streit sei Goethe souverän seiner Dichtung nachgegangen. Goethe, den Walser irrtümlich als politikabgewandt schilderte, und Schiller, den er irrtümlich zu den Revolutionsfreunden rechnete, hätten in einer zerrissenen Zeit gegenseitig „Toleranz“ geübt. Goethe und Schiller, so die Implikation, drückten in ihrer Politikverdrossenheit dem deutschen Volk das Gütesiegel der ‚Normalität‘ auf.
Wilsons Studie belegt nun anhand reichhaltigen und oft bisher noch unbekannten Archivmaterials, dass der historische Goethe als Privat- und Amtsperson und Geheimer Rat im Dienst des Weimarer Herzogs gegenüber den Juden alles andere als tolerant agierte. Genauer gesagt bietet sich ein verstörend ambivalentes Bild: Persönliche, offen stereotype und judenfeindliche Briefe oder Notizen, aber auch einzelne Ministerialvoten gegen jüdische Interessen stehen bei Goethe einer von Wilson so genannten „Öffentlichkeitsarbeit“ gegenüber, mit der dieser versuchte, den Eindruck zu erwecken, dass „er ein ausgesprochener Judenfreund war“.
Auf der anderen Seite zeigt Wilson, dass auch literarische Texte Goethes, die etwa von Nazis wie Goebbels durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate als klar antisemitische Statements des Autors ausgewiesen wurden, im Gegenzug als Ensemble, und zwar inklusive der im NS ausgelassenen Kontexte, durchaus nicht so eindeutig für eine tolerantere Haltung gegenüber Juden warben, wie das die Forschung nach 1945 gerne darstellte. Im Gegenteil fördert Wilson hier allerhand judenfeindliche Klischees zutage, die Goethe keinesfalls kritisierte, sondern offenbar für bare Münze nahm. So beharrt Goethes Stück Das Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern (1778 uraufgeführt, 1789 veröffentlicht) auf der angeblichen Geldgier der Juden, deren übler Behandlung von Frauen und der Feigheit der jüdischen Figur des Finanziers und Geldleihers Mardochai, den der Autor noch dazu wie eine Spottfigur der typischen theatralischen Judenburleske des 18. Jahrhunderts mit übertriebener Ängstlichkeit „jüdeln“ lässt, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben.
Nicht zuletzt spielte Goethe diese Figur auch noch selbst als Darsteller auf dem Theater, wenn er auch versuchte, die Rolle wieder loszuwerden. „Befiel den Dichter“, so fragt sich Wilson hier unter Rückgriff auf eine abwertende Bemerkung über das Jiddische, die sich in Goethes Autobiographie findet, „ein mulmiges Gefühl, eine solche judenfeindliche Karikatur – wohl auch mit dem unerfreulichen Akzent (Dichtung und Wahrheit) – erneut zum Besten zu geben, den Juden in seiner stereotypen Angst dem Gelächter des feinen Publikums preiszugeben?“ Eine eindeutige Antwort muss hier mangels Dokumenten ausbleiben, zumal Goethe sein Theaterstück selbst offenbar nie bereute und elf Jahre später eigens in seine Schriften aufnahm. So verwundert es nicht, dass auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren Betrachtungen über das „beharrlichste Volk der Erde“ stehen, das aber lediglich durch fortwährenden Betrug so lange durchgehalten habe. In der Fassung letzter Hand der Wanderjahre von 1829 spitzt Goethes Erzähler, dessen Haltung hier auffällig mit der in Goethes privaten Schriften konform geht, diese Ablehnung noch einmal dahingehend zu, dass er postuliert, in seiner geplanten „Auswanderergesellschaft“ werde man „keinen Juden unter uns“ dulden. Nach Wilsons Ergebnissen handelt es sich dabei schlicht um einen literarischen „Niederschlag der politischen Haltung des Dichters zur Emanzipation“.
Alles in allem wirken Wilsons Recherchen also überaus ernüchternd: In einer Phase Anfang des 19. Jahrhunderts, in der die Emanzipation der Juden allenthalben vorangetrieben wurde, wenn auch nicht in seiner zurückgebliebenen Heimatstadt Frankfurt, das lange an der Ghettoisierung der dortigen jüdischen Gemeinde festhielt und dieser horrende Steuersummen abpresste, blieb Goethe auf Linie dieser antisemitischen Judenpolitik und verschärfte seine Haltung gegenüber den Juden in der Folge sogar noch weiter. In seinen Briefen machte er sich etwa über den angesehenen Weimarer Finanzier Jakob Elkan als „wahren Juden“ lustig, womit dieser als Sinnbild uralter Stereotypen wie Betrügerei und Geldgier hingestellt wurde, und verspottete Moses Mendelssohns angebliche „jüdische Pfiffe“ in dessen Schriften. Damit nicht genug. Goethe begrüßte sogar ausdrücklich eine anonyme antisemitische Broschüre, in der von Juden als „nomadisierenden Horden“ die Rede war und diese der „asiatischen Barbarey“ bezichtigt wurden. Daran hatte er lediglich zu kritisieren, dass ihre Rhetorik nicht effektiv genug vorgehe. Mit anderen Worten: Goethe stellte sich nach Wilsons Beweisführung „konsequent auf die Seite der Judengegner“, während er in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit zumindest oberflächlich und anhand klischeehafter Floskeln den Eindruck zu erwecken versuchte, er habe sich gegenüber der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt stets freundlich und anteilnehmend verhalten. „Doch in Wirklichkeit beherrschte um die Zeit dieser Niederschrift die gehässige Missbilligung jüdischer Emanzipationsbestrebungen Goethes Gedanken“, so Wilsons niederschmetternde Enthüllung.
Doch die Studie bleibt bei diesem Vorwurf nicht stehen. Zur Zeit der Verschärfung des nationalistischen und nun zunehmend ethnisch definierten sogenannten Frühantisemitismus der postnapoleonischen Ära ließ Goethe seinen „Gefühlen freien Lauf, als er den Wechsel des judenfeindlichen Professors Jakob Friedrich Fries (1773–1843) von Heidelberg an die Universität Jena begrüßte“. Wilson wundert sich, dass Goethes diesbezügliche Äußerungen noch nie „zum Gegenstand einer eingehenden Analyse im historischen Kontext“ geworden seien, obwohl „Fries’ tonangebender antiemanzipatorischer Judenhass unter Historikern bekannt“ sei.
In der Tat hat es insbesondere dieser Teil von Wilsons Untersuchung in sich. Wer bis dato glaubte, der standhafte Nationalismus- und Romantikkritiker Goethe habe in jener Zeit, angesichts von bereits auf den modernen, rassistischen Antisemitismus vorausweisenden Schriften von Autoren wie Ernst Moritz Arndt bis Achim von Arnim, kritisch von derartigen Auswüchsen Abstand gewahrt, sieht sich erneut bitter enttäuscht: Goethe hatte bereits 1783 in Weimar ein Gesetz mit abgezeichnet, dass Juden den Handel in Jena verbot, und freute sich nun mit einem neu in sein Weimarer Herzogtum berufenen Hassprediger-Professor wie dem Antisemiten Fries, dass diese Regelung nach der Niederlage Napoleons und dessen Verdiensten für die Emanzipation der Juden wieder eingeführt wurde. Die diskriminierende Regelung sah ein Übernachtungsverbot für „Handelsjuden“ in Jena vor, die faktisch deren Ausweisung aus der Stadt bedeutete – „eine in der Tat längst der Vergangenheit angehörige, drastische Maßnahme“, wie Wilson konstatiert. „Die sämmtliche Judenschaft erzittert“, freute sich Goethe dagegen in einem seiner Briefe der Zeit voller Häme und begab sich damit laut Wilson „in die Nähe der damals erstarkenden nationalistisch-judenfeindlichen Kräfte wie etwa der Deutschen Tischgesellschaft von Achim von Arnim und anderen in Berlin, die ähnlich höhnten“.
Das ist starker Tobak. Goethe schrieb dem Antisemiten Fries sogar einen begeisterten Brief und bat darum, mit ihm dessen ihm offenbar zusagende „Ansichten über so wichtige Gegenstände“ in einem persönlichen Treffen zu besprechen. Was Goethe hier so diskutierenswert fand, war wohl Fries „Schrift gegen die Juden“, so Goethes Eintrag in seinem Tagebuch, die er zu diesem Zeitpunkt zuletzt nachweislich gelesen hatte. Damit war wiederum Fries’ Rezension des emanzipationsfeindlichen Buches Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht des Judenhassers Friedrich Rühs gemeint. Laut Wilson war Fries’ Würdigung des Pamphlets von Rühs „eine der berüchtigsten antijüdischen Schriften jener an Judenfeindschaft reichen Zeit“. Sie wurde 1816 als eigenständige Broschüre unter dem Titel Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden in zwei Auflagen nachgedruckt, erreichte ein breiteres Publikum und gehört zu jenem aufwiegelnden Schrifttum, das nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon wie ein Brandbeschleuniger wirkte und die Hep-Hep-Pogrome von 1819 mit vorbereitete: Rahel Varnhagen etwa verwies drei Jahre nach Fries’ Schrift explizit auf dessen fatale Aufhetzung zum „Judensturm“ und nannte die Professoren Fries und Rühs ausdrücklich in diesem Zusammenhang. Goethe wiederum ignorierte die Hep-Hep-Pogrome, dieses erste, die Landesgrenzen überschreitende Pogrom seit dem Mittelalter, das in seiner Vaterstadt Frankfurt noch dazu mit am schwersten wütete, völlig.
Wilsons kritische Darstellung dieser Zusammenhänge wirkt wie ein Paukenschlag. Auch wenn bereits 2020 eine Studie von Karin Schutjer erschienen ist, die sich mit Goethe und dem Judentum auseinandersetzt und die Wilson auch zweimal erwähnt, dürfte seine Arbeit in der Forschung neue Debatten auslösen – zumindest wäre dies zu hoffen. Der Band zeigt eindrücklich, dass Goethe eben doch keine Ausnahmegestalt war, sondern an typischen judenfeindlichen Ressentiments seiner Zeit laborierte. Wilsons kritische Diskussion des Antisemitismus-Begriffs, den er aus historischen Gründen ablehnt, ist hier allerdings müßig: Macht der Autor doch selber deutlich, dass Goethe sich mit den bereits Anfang des 19. Jahrhunderts (und eben nicht erst nach zu dessen Ende) aufkommenden Rassentheorien beschäftigt hat, wobei dessen genauer Standpunkt zur fixen Idee von durch Konversion nicht zu ändernden negativen jüdischen Eigenschaften aus den vorliegenden Selbstzeugnissen und Dokumenten nicht immer eindeutig ablesbar ist. Wilson findet durchaus Anzeichen dafür, dass Goethe selbst die Juden nicht als „Rasse“ sah, „obwohl hinter dieser Schlussfolgerung ein Fragezeichen bleiben muss“. Zweifelsfrei und auf breiter Basis kann Wilson dagegen belegen, dass Goethe sowohl privat als auch als Politiker und, wenn auch nur in vergleichsweise wenigen Fällen, als Schriftsteller konsequent uralte antisemitische Ressentiments pflegte und beibehielt, ja zum Ende seines Lebens hin sogar noch verschärfte.
Ob dies nun Antijudaismus, Judenfeindschaft, oder schon moderner Antisemitismus war, ist letztendlich vielleicht gar nicht so wichtig: Wie Jan Philipp Reemtsma in einem aktuellen Essay zu typischen Irrtümern des Umgangs mit dem Phänomen Antisemitismus schreibt, kann die ideologische Rahmung eines Ressentiments wie eine Frucht verfaulen – in dem Fall, nach der Aufklärung, wäre das die christliche Religion, der Goethe allerdings ohnehin stets ablehnend gegenüber stand – „und der Kern – das Ressentiment – bleibt übrig“. Umgekehrt brauchte es laut Reemtsma aber eben auch nicht unbedingt die Rassenideologie des 19. Jahrhunderts, um die Illusion zu begründen, dass Juden wesensmäßige Eigenschaften hätten, die sie über Jahrhunderte vererbten und die sie nie würden ablegen können, weswegen man sie loswerden – oder eben umbringen – müsse, um das ‚Problem zu lösen‘.
Wie Reemtsma erinnert, tauchte eine solche im Kern rassistische Vorstellung bereits lange vor dem Aufkommen der Rassentheorien im 19. Jahrhundert auf, nämlich zur Zeit der spanischen Inquisition. Der Antisemitismus fußt auf einer unikalen Weltanschauung, die letztlich schon immer auf den Fluchtpunkt der Vertreibung und Vernichtung der Juden zielte. Als irrationale Form der Welterklärung handelt es sich dabei auch nicht um ein bloßes „Vorurteil“, wie Wilson im Blick auf Goethe immer wieder irrig schreibt, sondern um eine Ideologie, die durch Fakten und Aufklärung kaum zu widerlegen ist und die gerade deshalb so resistent, so dauerhaft und so gefährlich ist. Im Grunde zeigt das auch der von Wilson dargestellte Fall Goethe besonders anschaulich. Ist es doch an sich nur schwer nachvollziehbar, warum ausgerechnet dieser Autor von seinem Olymp der Weimarer Klassik herab so unverrückbar und nachhaltig an der Vorstellung von geldgierigen „Schacherjuden“ als Gefahr für die christliche Mehrheitsgesellschaft festhielt, und zwar auch nach der Bekanntschaft mit einer Reihe gebildeter Juden in den 1820er Jahren. Das Phänomen ist hinreichend bekannt. Mit Reemtsma gesprochen genoss auch Goethe den Antisemitismus schlicht als eine Form der lustvollen Selbstbarbarisierung.
Auf der anderen Seite zeigt Wilsons Studie, wie stark der ansteigende Nationalismus der Restaurationsphase in der postnapoleonischen Ära auch jemanden wie Goethe zu radikalisieren vermochte. Es frappiert, dass man zu Goethes Zeit angesichts der Zuwanderung von Juden bereits der Paranoia vor einem ‚großen Austausch‘ verfiel, jener heute von rechten Parteien weltweit und erneut so effektiv geschürten bizarren Angst vor der Vernichtung der westlichen, ‚weißen‘ Kultur durch eine, womöglich durch jüdische Strippenzieher gesteuerte, massive Einwanderung. Schon zu Goethes Zeiten glaubte man allen Ernstes, mehr als 500 jüdische Familien in Frankfurt wären der Anfang einer Übervorteilung der christlichen Mehrheit durch eine entrechtete jüdische Minderheit. Auch Goethe blieb angesichts solcher irrationaler Ängste, die letztlich für die nicht-jüdische Gesellschaft einen kaum bezifferbaren wirtschaftlichen und kulturellen Schaden bedeuteten, keineswegs unabhängig. Er insinuierte in diesem Klima sogar, hinter der Idee der Legalisierung christlich-jüdischer Mischehen stünde eine bestecherische Verschwörung des Bankhauses Rothschild – und könnte mit derartigen antisemitischen Phantasmen heute bestens auf TikTok reüssieren.
Wilsons Abhandlung, die im Versuch, besonders genau und abwägend mit den Quellen zu arbeiten, manchmal etwas redundant und mäandernd argumentiert oder im Urteil unsicher zu werden scheint, zeigt einerseits sehr deutlich, dass diese irrationalen antisemitischen Vorstellungen zu Goethes Zeit bereits ubiquitär auftraten und dass auch Goethe absolut der Überzeugung war, dass es ein Verhängnis bedeuten würde, wenn man ‚die Juden‘ nicht mehr in Ghettos einsperren und stattdessen zu gleichberechtigten Bürgern machen würde. Man sollte diese deprimierende Enthüllung über Goethes antijüdische Ressentiments gleichwohl nicht mit der Phrase bagatellisieren, er sei nun einmal „ein Kind seiner Zeit“ gewesen. Wichtig ist hier schließlich andererseits, was Wilson abschließend über Goethes zeitweise Ambivalenz gegenüber Juden betont: „Goethes Judenfeindschaft war nicht universell verbreitet. Vielmehr waren beide Seiten seiner Haltung zeitüblich.“ Man konnte und musste sich also auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als denkender Mensch entscheiden, auf welcher Seite man stand. Goethe lebte nicht in einer fraglos judenfeindlichen Zeit. Es verhielt sich eher genau anders herum: Trotz der Aufklärung und der zunehmenden Emanzipation der Juden, trotz Lessing und Mendelssohn, trotz Code Napoleon und seiner eigenen anti-nationalen Haltung hegte Goethe bis zuletzt genüsslich antijüdische Ressentiments.
An diesem schlichten Faktum ändern auch einzelne freundschaftliche Verhältnisse Goethes mit (konvertierten) Juden oder Salonnièren nichts. Jüdische Goethe-Fans und effektive MultiplikatorInnen des entstehenden Goethe-Kults wie Rahel Levin (nach ihrer Konversion Varnhagen von Ense) oder das von dem Klassiker am Frauenplan wiederholt dauerhaft und gerne beherbergte Klavier-Wunderkind Felix Mendelssohn-Bartholdy wussten in der Regel nichts von Goethes öffentlich eher selten deutlich werdenden Vorbehalten gegenüber dem Judentum: „Er hielt seine judenfeindlichen Ausfälle in der privaten Sphäre“, erläutert Wilson, „um sich seinen Ruf bei jüdischen Verehrerinnen und Verehrern nicht zu verderben“. Goethe nutzte sie vielmehr strategisch als ‚Werbeträger‘ bzw. wurde durch konvertierte Jüdinnen und Juden auch gar nicht in seinen Ressentiments herausgefordert, da diese UnterstützerInnen also nominell ChristInnen waren und darüber hinaus sogar selbst ihre Ablehnung gegenüber ihrer abgelegten Religion demonstrativ kundtaten (so im Fall von Mendelssohn-Bartholdy und dessen Vater). Wilsons trockener Kommentar dazu: „Goethe hatte zwei ‚Juden‘ vor sich, Vater und Sohn, wie er sie gerne hatte – nämlich keine Juden.“ Ganz abgesehen davon hat es noch nie etwas über den möglichen Antisemitismus einer Person ausgesagt, wenn ‚einige ihrer besten Freunde Juden‘ sein sollen. „Unterm Strich“ sei Goethe „ein heimlicher Judenfeind“ gewesen, folgert Wilson, „freilich kein extremer, was ihn allerdings nicht entlasten kann.“
Goethe äußerte sich zwar nie explizit dahingehend, dass man die Juden allesamt ausweisen oder töten solle, zeigte aber angesichts der Hep-Hep-Pogrome keinerlei Mitleid, ja hier und da sogar offene Häme über die Diskriminierung und Entrechtung der Juden. Goethe schrieb zeitlebens keinen einzigen Text, der sich eindeutig für eine Gleichberechtigung der Juden einsetzte. Wie man es auch dreht und wendet, es lässt sich nach der Lektüre von Wilsons Buch nicht von der Hand weisen, dass der empirische Autor Goethe ein Problem mit Judenhass hatte, dass er seine judenfeindlichen Ansichten aus freien Stücken und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte lebenslang aufrecht erhielt und nicht zuletzt in seiner herausgehobenen Machtposition als Mitglied des Weimarer Beratergremiums des Herzogs, des dreiköpfigen Geheimen Consiliums, mittels Abzeichnung antijüdischer Gesetze politisch in Kraft setzte: „Man kann Goethe ohne viele Umschweife als Judenfeind bezeichnen“, resümiert Wilson, „auch wenn er das Alte Testament für seine Zwecke verwendete und Spinoza sowie einige jüdische Zeitgenossen schätzte. Dabei kann man in Goethes Sprachgebrauch ‚Juden‘ in fast allen Fällen mit den klassischen ‚Schacher- und Wucherjuden‘ gleichsetzen.“
Um zum Ende dieser Doppelrezension vorsorglich den Chor der Cancel-Culture-Paranoiker zu kontern, der nach solch einer nüchternen Feststellung unweigerlich laut werden wird: Nein, niemand, wirklich niemand möchte die Lektüre von Goethes Literatur verbieten. Marcel Reich-Ranicki etwa nahm den Werther in seinen Roman-Kanon auf. Das lässt sich weiterhin gut nachvollziehen – allein schon aufgrund der erstaunlichen historischen Wirkung und dem besonderen Rang des nach wie vor aufregend zu lesenden Textes im Gesamtwerk Goethes. Womöglich hatte Arno Schmidt Recht und es war, alles in allem, sogar Goethes „bestes Produkt“. Trotzdem können und müssen wir den Werther in unserer Zeit auch mit neuen Augen wiederlesen und uns fragen, welche Themen anhand seiner Lektüre in den Schulen und an den Universitäten besonders diskutierenswert sind. Zugleich kann man anhand der hagiographischen Rezeption Goethes nach Auschwitz und mit Wilsons akribisch recherchierter Studie zu dessen Haltung zum Judentum anschaulich machen, wie die Kanonisierung des Klassikers zwecks Fehllesungen und Ignoranz als Mittel der deutschen Schuldabwehr funktionierte – auch und gerade in der „Germanistik“. Zum Verständnis der Gefahr des Antisemitismus in unserer Zeit kann es also auch überaus lehrreich sein, dessen Spuren in Goethes Werk und Leben nachzugehen und so zu verstehen, dass selbst einer der wichtigsten Autoren der Zeit der Aufklärung und der Protagonist der Weimarer Klassik nicht gegen Judenhass gefeit war.
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