48. Tage der deutschsprachigen Literatur
Der Wettbewerb endet mit weiteren Favoriten
Von Bozena Badura
Den letzten Lesetag eröffnete Semi Eschmamp, der von Laura de Weck nach Klagenfurt eingeladen wurde. Sein Text Ist Realität selbst da, wo sie nicht hingehört? lässt sich schlecht auf einen Plot reduzieren. Es ist vielmehr ein lustvolles Spiel der Bedeutungen, Zuschreibungen und surrealen Situationen. Es ist eine Textcollage; im Zentrum jedes Kurztextes steht eine andere Hauptfigur. Mal ist es „Das Buch“, das René Maria Petersen entflieht und sich weigert, von ihm geöffnet zu werden, mal „Das Leid“, mal „Die Leichtigkeit des Unerträglichen“ und mal „Die Angst“:
Die Angst drückte sich Sonnencreme aus der Tube in die Hand und verteilte diese einreibend und auf ihrem Körper. Sie machte dies zum ersten Mal, gewissenhaft und aufrichtig, obwohl sie sich auch angewidert fühlte von dieser schmierigen Angelegenheit.
Dann klappte sie den Deckel der Sonnenschutztube zu, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich in den Liegestuhl zurück, die Augen verschlossen, den herrlichen Sonnentag genießend.
Jetzt stellt sich spätestens die Frage, was macht die Angst am Strand? Hat sie nicht wichtigere Aufgaben zu erledigen? Ist das nicht einer der Orte, wo keiner der Angst begegnen will?
Zwar schienen der Jury die Übergänge mal mehr, mal weniger gut gelungen. Auch die Syntax und die Beziehung zwischen den Figuren und Gegenständen scheinen an einigen Stellen nicht ausreichend ausgearbeitet. Doch insgesamt gefiel den Jurorinnen und Juroren dieser Sprung ins Surreale. Der Text erinnere an das Fantastische aus dem 19. Jahrhundert, an die Schwarze Romantik und an E.T.A. Hoffmann. Diskutiert wurde zudem darüber, wer der Protagonist sei und ob es sich in dem Text erkennen lasse. Zusammenfassend wurde konstatiert, dass dieser Text an Traditionslinien des 19. Jahrhunderts anschließe.
Mit einer Satire auf Das Gurkerl begeisterte Johanna Sebauer, die von Klaus Kastberger eingeladen wurde, das Publikum:
Der Pertak hatte den Handballen in die Höhle seines linken Auges gepresst, fluchte und zischte. Man möge sich vorstellen, begann er, er sei dabei gewesen, sein Frühstück zu richten, Semmel, Käse, Wurst, dann habe er aus diesem Gurkenglas, Herr im Himmel, wer hatte den [sic] bloß dieses Gurkenglas in die Redaktion gebracht, schimpfte er und deutete auf die gelblich-trüben 500 Milliliter auf der Anrichte, in denen sich ein paar Gurkerl, noch sichtlich aufgebracht vom gerade Geschehenen, im Kreis drehten. Er habe also ein Gurkerl herausgefischt aus diesem fetzengeschissenen Gurkenglas, habe abgebissen und das Gurkerl, das von ihm erwählte, sei von einer solchen Knackigkeit gewesen, gefedert habe es, das Gurkerl, beim Abbeißen, und habe ihm einen Tropfen dieses scheißdrecksgeschissenen Hurnsgurkerlwassers in sein linkes Auge geschossen, wo es jetzt brannte wie das Höllenfeuer und seinen gesamten Augapfel würde wegätzen, so nämlich fühle sich das an.
Dieser Vorfall löst eine Spirale des Wahnsinns aus. Nun werden Stellungnahmen zur Gefährlichkeit der Essiggurken publiziert, gar Verbote des Verzehrs in einer Kindertagesstätte ausgesprochen, und die Erzählstimme, die eigentlich der Meinung sei, es sei alles übertrieben, muss einen Gegenartikel schreiben.
Bereits die Reaktionen im Studio zeigten, dass Johanna Sebauer mit ihrem Text den Geschmack des Publikums getroffen hat. Es wurde gelacht und applaudiert. Diese heitere Stimmung übertrug sich zugleich auf die Jury, auch wenn Philipp Tingler schnell darauf hinwies, dass Humor im Text ein Risiko darstellt, wobei Johanna Sebauer nicht daran scheitere. Aus anderen Kontexten bekannte Dynamiken, sprachliche Gestaltung, der volkstümliche Ton der Gespräche und sehr präzise Beobachtungen waren nur einige der Vorzüge, die diesem Text attestiert wurden.
Nach der Pause betrat Miedya Mahmod die Bühne. Mit einem lyrischen Text, der sich aus der Spoken-Word-Tradition herleitet und sehr rhythmisch vorgetragen wurde, versetzte Miedya Mahmod sowohl die Jury als auch das Publikum in einen trance-ähnlichen Zustand. Der Text Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da. erzählt von einer schwierigen Kindheit, von Fragen nach der Herkunft, nach der Identität, von einem Kind, das hungrig im Kühlschrank abends nur eine Leere vorfindet. Es ist die Geschichte eines Ichs, das in der Realität nur schwer existieren kann:
Ich öffne den Kühlschrank und lese Atarax. Ich ist sieben und möchte ein yz auf die kleine weiße Schachtel schreiben, ich wird eine Vorliebe für antizyklisches Verhalten, selbstauferlegte Regeln, eine Anziehung für Brüche, ungünstige Parameter und unfeine Aufzählungen der bloßen Entstellung ohrkriechender Metrik wegen entwickeln.
Ich öffne den Kühlschrank und sehe zufriedenstellend kaltgestellte Leere.
Ich öffne den Kühlschrank und höre die Eieruhr ticken, die keine Eieruhr ist, sondern die seinsvergessene Hand Dayas, die ständige Verfügbarkeit des Wassers, die trügerische Widerstandslosigkeit in aller Himmel Richtungen, gen aller Herren Länder, eines Hahns, der auf einer Armatur, die einen Einhebelmischer, der so sicher darin oder darauf sitzt wie der Gockel auf dem sowieso viel zu flachen, viel zu weiten und mittlerweile wieder satellitenschüsselfreien Dach, da geht die Sonne am Abend doch noch runter wie Öl statt das die Welt ihr den Dienst abnehmen muss, fehlt.
Der Text sei mehr Partitur als Text, einer, der nicht schön sein wolle, der einen anderen Zugang verlange. Sprachlosigkeit, Migration, Kindheit, Ängste, Non-Binaritäten seien nur einige der vorgeführten Themen. Eine Anziehung für Brüche, der Rhythmus der Sprache, die Wiederholungen waren nur einige der ästhetischen Elemente des Textes.
Als letzte Vorlesende beendete Tamara Štajner, die von Brigitte Schwens-Harrant nach Klagenfurt eingeladen wurde, die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur. Mit dem Text Luft nach unten präsentierte sie eine Ich-Erzählerin, die sich an die eigene Kindheit erinnert, an die gewalttätige Mutter:
Ja, dich zu hassen, wäre leichter. Dich zu verachten. Aber es ist unmöglich. Du bist die Wurzel. Jahrzehntelang habe ich mir eingeredet, du hättest einfach nicht begriffen, was du da veranstaltest. Inzwischen habe ich einen Haufen Schotter bei Psychotherapeuten, Kinesiologen, ganzheitlichen Bewusstseinsgurus, traditionellen chinesischen bzw. japanischen Medizinern, Hypnotiseuren, plastischen Chirurgen, Essstörungs-, Familienaufstellungs- und nicht zuletzt NLP-Experten sowie Schweigeexerzitien bei den Töchtern des göttlichen Erlösers in der Jacquingasse deponiert. Alles für die Füße. Schau mich an: Ich bin nach wie vor ein Wrack. Nur älter.
Bei diesem Text hatte es die Jury zunächst nicht einfach gehabt, den Einstieg in die Diskussion zu finden. Der Grund lag darin, dass die lesende Autorin kurz vor dem Ende des Textes in Tränen aufgelöst war. Doch nach wenigen Sekunden haben sich die Jurorinnen und Juroren wieder gefangen und eine literaturkritische Auseinandersetzung mit diesem Text konnte beginnen. Die Jury lobte u.a. den Aufbau des Textes, die Ästhetik seiner Sprache, die präzise gewählte Ausdrucksweise.
Mit diesem letzten Text wurde nun der wichtigste Teil dieses Wettbewerbes abgeschlossen. Nun dürfen die Texte ihre Wirkung entfalten und nachhallen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen