Ein burschikoser Schnelldurchgang mit Lücken

Ein analytischer Blick auf Katja Hoyers Buch „Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte. 1871 – 1918“

Von Petra BrixelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Brixel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur oder was?

Auf der Internetplattform Literaturkritik.de wird Literatur kritisiert – wie der Name sagt. Doch wer verbindet mit Kritik schon Angenehmes, impliziert der Begriff doch eher Negatives. Da klingt Rezension weitaus freundlicher.

Bei der Besprechung des vorliegenden Buches Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte geht es nicht vorrangig um eine Analyse historischer Ereignisse, sondern der Fokus liegt auf der sprachlichen, d.h. literarischen Darstellung des Inhalts. Ob also Otto von Bismarck sich an der Jagd nach Kolonien aktiv beteiligt hat oder eher widerwillig, ob Kaiser Wilhelm II. den Ersten Weltkrieg forciert hat oder er ihm aufgezwungen wurde und der Kaiser hineingeschliddert ist, wurde bereits in Hunderten von wissenschaftlichen Büchern erörtert, mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Die Autorin von Im Kaiserreich hat es sich zur Aufgabe gemacht herauszufiltern, was ihr von dem vielfältigen Angebot wissenschaftlicher Forschung wert schien zu übernehmen. Sie bezieht Stellung durch die Auswahl der Themen sowie durch ihre Diktion. Von populärwissenschaftlicher Literatur werden keine archivarischen Entdeckungen erwartet, sondern die Darstellungen von Informationen in gut lesbarer und verständlicher Form. Unter diesem Aspekt geht es im Folgenden nicht um die Verifizierung eines komplexen Themas, sondern um die sprachliche Präsentation, also „Literatur“.

Warum ist Geschichte langweilig?

Dass das Fach Geschichte je zu Lieblingsfächern in der Schule gehörte, kann generationenübergreifend verneint werden. Geschichte sei langweilig, ist unisono zu hören. Erstaunlich dabei ist, dass diese Abwehrhaltung auch in der heutigen „Generation Alpha“ zum Ausdruck gebracht wird. Es waren nicht (nur) die „Altvorderen“, die in den 1950er und 1960er Jahren ihren Schüler:innen keine Liebe zur Geschichte vermitteln konnten, sondern es sind offensichtlich auch die Lehrer:innen des 21. Jahrhunderts, die mit trockenem Unterricht das Fach Geschichte unattraktiv machen.

„Man muss die Vergangenheit kennen, wenigsten einigermaßen ahnen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu kennen. Ohne Kenntnis der Geschichte ist dem Menschen alles, was um ihn vorgeht, schlechterdings unbegreiflich, geradezu ein Rätsel“. Dieses Zitat des Schweizer Schriftstellers und Historikers Johannes Scherr (1817–1886) wird nach wie vor als Legitimation für die Bedeutung von Geschichtsvermittlung – sei es Unterricht oder wissenschaftliche Forschung – angeführt. August Bebel (1840–1913) hat es so formuliert: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“.

Ein Blick in den Chatroom des Internets mit der Frage, welches Image der Geschichtsunterricht hat, zeigt deutlich, dass bei Geschichte der Daumen nach unten geht. „Ich persönlich langweile mich während der Stunde immer total“ und „Es kommt darauf an, um was es geht, alles vor dem ersten Weltkrieg finde ich vollkommen uninteressant“, sind zwei exemplarische Eintragungen.

Der „Geschichte Podcast“ („Geschichten aus der Geschichte“) im Internet zeigt, dass durchaus ein Interesse an Geschichte besteht, dass es aber auf das „Wie“ der Vermittlung ankommt. So schreibt eine Schülerin: „Auch finde ich es voll unsinnig, dass wir nur über Kriege und Politik reden, denn selbst wenn ich das recht spannend finde, haben doch die Menschen früher noch andere Sachen gemacht.“ Die Schüler:innen erwarten also vom Geschichtsunterricht nicht nur „Kriege und Politik“, sondern dass sie sich mit den Menschen der Vergangenheit – und zwar Menschen „wie ich und du“ – vergleichen bzw. identifizieren können.

Viele Kriege, kaum Menschen

Kann Katja Hoyer mit ihrem Buch Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte. 18711918 einen solchen Anspruch einlösen? Schwerlich. Es ist ihr Anliegen zu zeigen, wie Politik im 19. Jahrhundert – auch „das lange 19. Jahrhundert“ genannt (von 1789 bis 1919) – gemacht wurde und wie sich Kriege entwickelt haben. Die Autorin zeigt die Chronologie politischer Entwicklungen und Reaktionen auf, erklärt Kausalitäten und verbindet all dies mit Otto von Bismarck, Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Wilhelm II. Das Inhaltsverzeichnis gibt die Linie vor: Die fünf Kapitel lauten „Aufstieg“, „Bismarcks Reich“, „Drei Kaiser und ein Kanzler“, „Wilhelms Reich“ und „Die Katastrophe“. Dazu gibt es Unterkapitel, in denen es auch „menschelt“, vor allem in Anekdoten und Geschichten (die angesichts ihrer Ausführlichkeit in keiner Relation zu den politischen Themen stehen). Da geht es um den Hauptmann von Köpenick als Beispiel für Bürokratie, um die Kriegseuphorie im Hause von Käthe Kollwitz, um den rauchenden Bismarck, um das Heldentum in dem Gemälde des Malers Anton von Werner und um Moralvorstellungen im Märchen Rotkäppchen.

Leider fehlt ein Personenverzeichnis, sonst würde deutlich, dass das Personal in diesem Buch überschaubar ist und vorwiegend aus Entscheidungsträgern, d.h. aus Politikern, Adeligen, Königen bzw. Kaisern und in der Regel Männern besteht.

Folgt man Hoyers Narrativ, so benutzen Otto von Bismarck und die jeweiligen Könige und Kaiser das Volk als Staffage für ihre Ziele. „Geschichte von unten“ ist allerdings seit etlichen Jahren eine neue Herangehensweise an Narrative, die Menschen in den Blick nehmen, die die Auswirkungen der Politik ertragen und erleiden müssen. Ein Beispiel ist die Lektüre mit dem Titel Kneipengespräche im Kaiserreich. Die Stimmungsberichte der Hamburger Polizei 1882-1914, hrsg. von Richard Evans. Näher kann man nicht am Volk des 19. Jahrhunderts sein.

Warum ein weiteres Buch?

Sieht man von den Anekdoten in Katja Hoyers Buch ab, so sind „Politik und Kriege“ die Hauptthemen. Da stellt sich die Frage, für wen das Buch geschrieben wurde und warum Katja Hoyer in eine Lücke auf dem deutschen Buchmarkt gestoßen zu sein scheint. Das Buch muss also ein Bedürfnis befriedigen. Hier ist auf das Cover zu schauen, das mit dem SPIEGEL–typischen Eyecatcher – ein kleines rotes Rechteck – versehen und infolgedessen verkaufsfördernd gedacht ist. Nein, es ist (noch) kein SPIEGEL-Bestseller, sondern von der „SPIEGEL Bestseller-Autorin“. Ein kleiner Unterschied, fast zu übersehen, doch genauso gewollt: einmal Bestseller, immer Bestseller. An diesen Vorschusslorbeeren muss sich das Buch messen lassen.

Katja Hoyer, 1985 in der damaligen DDR geboren, hat Geschichte in Jena studiert und arbeitet seit 2010 in Großbritannien. Laut Klappentext kommentiert sie für den BBC und forscht am King`s College geschichtliche und politische Themen. Sie ist Kolumnistin für Zeitungen in Großbritannien, den USA und Deutschland.

Der Verlag hält den Abschluss eines Master of Arts in Geschichte und den Titel einer Kolumnistin für ausreichend, ihr ein so schwergewichtiges Thema wie das komplette 19. Jahrhundert zu überlassen.

An Werken über Herrscher, Politik und Politiker und über Kriege im 19. Jahrhundert mangelt es allerdings auf dem Büchermarkt nicht. Und was nicht mehr aufgelegt wird – in den Landes- und Universitätsbibliotheken sind sie alle zu finden, die Bücher über das Kaiserreich, seine Protagonisten und die Kriege. (Allein in der Stuttgarter Landesbibliothek gibt es sechs Regalmeter Bücher über die Zeit des Kaiserreichs, die Staatsgründung und die begleitenden Kriege. Ausführlicher und umfangreicher geht es nicht.)

Gerade das 19. Jahrhundert ist bestens analysiert worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch, das auf Literatur- und kaum auf eigenem Quellenstudium basiert? Kann mehr als „alter Wein in neuen Schläuchen“ herauskommen?

Der Titel war schon vergeben

Dass nun ein weiteres Buch erscheinen musste, könnte dem Zeitgeist geschuldet sein, der – ähnlich Wikipedia – einen kurzen Überblick in gestraffter Form bevorzugt, und zwar in moderner Sprache. (Wie zeitgemäß die zu sein hat, wird weiter unten diskutiert.)

Im Jahr 2021 wurde in England bei The History Press zunächst Katja Hoyers Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918 veröffentlicht, die Übersetzung erschien 2024 bei Hoffmann und Campe.

Warum aber haben Autorin, Übersetzer und Verlag nicht die deutsche Übersetzung von Blood and Iron genommen und sich für den Titel Im Kaiserreich entschieden? Die Begründung mag darin liegen, dass der deutsche Titel Blut und Eisen schon vergeben war. Allein neun Bücher mit diesem Titel sind zwischen 1907 und 2023 erschienen; zuletzt das Werk von Peter H. Wilson mit über 1000 Seiten: Eisen und Blut. Die Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500, in dem Wilson die deutsche Militärgeschichte in einen großen historischen Zusammenhang stellt. Katja Hoyers Blood and Iron konkurriert mit dem englischen Titel von Wilsons Buch Iron and Blood.

Hätte der englischen Originalausgabe der Titel „German Empire“ bzw. „Imperial Germany“ besser zu Gesicht gestanden? Leider war auch dieser Titel vergeben, und zwar mehr als fünfzehnfach auf dem britischen Buchmarkt; Bismarck and die German Empire von Erich Eyck gehört dazu.

Weitere deutsche Bücher mit dem Titel „Blut und Eisen“ sind: Blut und Eisen auch im Innern. Soziale Konflikte, Massenpolitik und Gewalt in Deutschland vor 1914Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang.18641871Mit Eisen und Blut. Die preußisch-deutsche Reichsgründung von 1870/71Blut und Eisen. Deutschland im Ersten WeltkriegBlut und Eisen. Kriegsgeschichten 1914Blut und Eisen. KriegsnovellenBlut und Eisen. Krieg und Kriegertum in alter und neuer Zeit.

Klappentext verheißt Großes

2023 erschien von Katja Hoyer in London Beyond the Wall. East Germany, 1949–1990 und im gleichen Jahr bei Hoffmann und Campe Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990. Die Rezeption des Buches in England war äußerst positiv, während die Übersetzung in Deutschland kritisch – bis zu vernichtenden Rezensionen – gesehen wurde. Was nicht zu einem Ladenhüter führte, denn ZDF, DLF Kultur und ZEIT setzten das Buch Jenseits der Mauer im Juni 2023 auf den 7. Platz der Sachbuch-Bestenliste. Die englische Version wurde in elf Sprachen übersetzt.

Nun haben Verlage das verständliche Bestreben, ihre Bücher an die Leser:innen zu bringen, und nutzen gern euphorische Klappentexte. Der Verlag Hoffmann und Campe schreibt über das vorliegende Buch: „In einer einzigartigen Erzählung über fünf Jahrzehnte, die den Lauf der Geschichte veränderten, […]. Ein Buch, das Geschichte auf brillante Weise zum Leben erweckt.“ Und als Beweis für diese „Einzigartigkeit“ wird der englische Historiker Simon Sebag Montefiore zitiert: „Herausragend, maßgebend und fesselnd.“ Wenn das nichts ist. Dennoch macht der Jubel misstrauisch. Über Sebag Montefiores Stalin-Biografie ist zu lesen, Montefiore verkörpere „ein in der Stalinismusforschung neuartiges Phänomen – das unverhohlene Bestreben, Stalins Leben und Herrschaft einem größtmöglichen Massenpublikum in leicht konsumierbarer Form nahe zu bringen und auf diese Weise kommerziell auszubeuten.“ Ein ähnliches Gefühl beschleicht mich bei Katja Hoyers Buch, impliziert durch den Untertitel: Eine kurze Geschichte.

Wie kurz darf „kurz“ sein?

Eine Autorin, die einhundert Jahre Geschichte in eine Abhandlung von 270 Seiten pressen will, ist zu bewundern, gleichwohl zu bedauern. Es ist davon auszugehen, dass Katja Hoyer vor dem großen Dilemma stand, was sie aus dem einhundert Jahre umfassenden Zeitraum voller praller Ereignisse auswählen soll, um auf der einen Seite zu einem logischen Bild von Ereignissen und ihren Folgen zu kommen und auf der anderen Seite keinen dreibändigen Wälzer zu schaffen.

Doch in einer Zeit, wo Literatur wissenschaftliche Themen für einen möglichst großen Personenkreis verständlich und unterhaltsam vermitteln soll, sind Bücher wie das von Katja Hoyer beliebt. Ihr Augenmerk liegt auf Leser:innen, die sich im Schnelldurchgang einen Überblick verschaffen wollen. Das ist ihre Zielgruppe. So werden komplexe Sachverhalte vermieden und Informationen in einfachen Handlungssträngen wiedergegeben.

Durch ihr Studium hat sich Hoyer mit den Standardwerken über das 19. Jahrhundert befasst. Alles, was zugänglich in Archiven lagert, wurde darin bereits publiziert. Hoyer musste nur zugreifen und zusammenfassen und zitieren. Eine Danksagung, wie sie bei wissenschaftlichen Büchern üblich ist, unterbleibt bei Hoyer. Die populärwissenschaftliche Literatur kennt solcherart Etikette nicht. Am Ende von Hoyers Buch stehen Fußnoten bzw. Anmerkungen und eine Auflistung von Monographien, Aufsätzen, Dokumenten, Quellenangaben und Abbildungsnachweisen.

Was zu kurz gekommen ist

Dass der Titel Im Kaiserreich hohe Erwartungen erzeugt, musste der Autorin bewusst gewesen sein, denn das 19. Jahrhundert umfasste eine Vielfalt an wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen, kulturellen und – natürlich – auch politischen Entwicklungen. Vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war prallvoll mit gesellschaftlichen Bewegungen, auf die die Politik sich gezwungen sah zu reagieren. Hier eine Auswahl zu treffen, um die Geschichte „kurz“ zu machen, war ein heikles Unterfangen. In der Tat gibt es daher Themen, die leider nur am Rande erwähnt werden.

Ein Beispiel ist Hoyers Kommentar zur Frauenbewegung, die wie die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert mit Vehemenz aufbrach. Wie beschreibt Hoyer das? „Unlängst wurde großes Aufhebens um die frühe Frauenbewegung gemacht, die schon Mitte der 1860er Jahre anfing sich zu organisieren.“ Abgesehen von der Frage, was mit „unlängst“ gemeint ist, erachte ich es für dreist, das wissenschaftliche Interesse an der Frauenbewegung mit „großes Aufhebens“ zu entwerten. Anschließend ist die Rede davon, dass es „eine kleine Gruppe von Frauen hauptsächlich bürgerlicher Herkunft war, die den Anspruch erhob, für alle Fabrikarbeiterinnen zu sprechen.“ Ist das so zu interpretieren, dass sich bürgerliche Frauen anmaßten, für Arbeiterinnen die Stimme zu erheben? Oder als Vorwurf, dass die Arbeiterinnen sich dominieren ließen?

In der englischen Ausgabe ist übrigens von einer „tiny group“zu lesen, also war es nicht nur eine „kleine Gruppe“, sondern eine „winzige Gruppe“. (Winzig ist kleiner als klein, fast ein Nichts.) Clara Zetkin – Politikerin, Reichstagsabgeordnete, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin – wird als „Lehrerin und Partnerin eines russischen Revolutionärs“ vorgestellt, also die Frau an der Seite eines Mannes.

Der Slogan „The personal is political“ bezog sich 1970 auf die zweite feministische Welle, die ihren Ursprung in den USA und Europa um 1900 hatte. Es ging bei der Jahrhundertwende um den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen, das Wahlrecht für Frauen und die Mitbestimmung von Frauen in der Politik. Wenn August Bebel 1879 sein Buch Die Frau und der Sozialismus herausbringt (bis 1909 fünfzig Auflagen) und im Jahr 1903 Otto Weininger sein – in Bezug auf das Frauenbild – diametral entgegengesetztes Buch Geschlecht und Charakter veröffentlicht (bis 1908 zehn Auflagen), so ist das auch ein Beispiel für die Zerrissenheit der Gesellschaft. All diese Aspekte werden in Hoyers Buch vernachlässigt.

Von einem Bürgertum, das sich über Besitz und Bildung definiert und in Kunst und Literatur profiliert, ist kaum die Rede. Arbeiterkämpfe, Sozialgesetzgebung und Reformbewegungen prägten das 19. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Sozialen Reformbewegungen gemein war die Kritik an Industrialisierung, Materialismus und Urbanisierung. Die Rückkehr zu einem – wie auch immer gearteten – Naturzustand fand großen Zuspruch. Die Entwicklung der Psychoanalyse darf als Synonym für den Fokus auf die Individualität des Menschen genommen werden. Die rasante Entwicklung der Wirtschaftdurch technische Neuerungen trug zur gefühlten Überforderung der Menschen bei. Massenwaren, in Fabriken maschinell hergestellt, die allgemeine Beschleunigung des Lebens mit Eisen- und Straßenbahn, Automobil und Dampfschiff, der Beginn der Fliegerei, dazu eine schnelle Kommunikation mittels Telefon und Telegrafie … all das wurde als Segen der Technik, aber auch als Teufelszeug erachtet. Zu wenig ist davon im Buch zu lesen

Die Zielgruppe: Schreiben für ein englisches Publikum

Bei der Rezeption des Buches sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich ursprünglich an ein englisches Publikum richtete. So ist Katja Hoyer zu unterstellen, dass sie nach vierzehn Jahren Leben in Großbritannien der englischen Seele und dem englischen Leseverhalten nähergekommen ist. „Wie bringe ich britischer Leserschaft Deutschlands Geschichte bei?“ Galt es da, den englischen Blick auf Deutsche Geschichte zu revidieren, oder füllte das Buch eine Leerstelle in der britisch-deutschen Geschichtswahrnehmung? Das Buch avancierte in Windeseile zum Bestseller in England, und die erste Ausgabe war innerhalb von Tagen ausverkauft.

Womit hängt dieses Phänomen zusammen? Warum sind Engländer:innen so außergewöhnlich interessiert an der deutschen Sichtweise auf deutsche Geschichte? Der Engländer Dr. Joseph Cronin, Direktor des Londoner Leo Baek Instituts, spezialisiert auf Forschung über jüdisches Leben in Deutschland und in Modern German History promoviert, stellt lapidar fest: „It shows that there is still an appetite for German history amongst the British reading public.“ Er zeigt sich allerdings irritiert vom Verhalten einiger Deutscher, als im Jahr 2020 Hunderte von Reichsbürgern mit schwarz-weiß-roten Fahnen des Deutschen Reiches in den Reichstag eindringen wollten. Zu der Renovierung des riesigen Bismarck-Denkmals in Hamburg merkt Cronin an: „Should public money be spent on prettifying a monument to a warmonger and racist?

Wer anfängt, die englische Ausgabe mit der deutschen zu vergleichen, wird sich an der Übersetzung festbeißen. Einige Beispiele sollen genügen. Da heißt es in der englischen Ausgabe „the SPD had become a powerful and dangerous source of opposition“, in der deutschen Ausgabe ist zu lesen: „… war die SPD zu einer starken und ernst zu nehmenden Quelle des Widerstands […] geworden.“ Nun ist m.E. „dangerous“ kaum mit „ernst zu nehmen“ gleichzusetzen, bedeutet doch „dangerous“ eine Form von Bedrohung. Auch ist „opposition“ nicht mit „Widerstand“ zu übersetzen. Den Begriff „ordinary people“ mit „einfache Menschen“ gleichzusetzen, halte ich für unkorrekt. „Einfache Menschen“ werden im Deutschen mit schlichtem Geist konnotiert. Meint Hoyer bzw. der Übersetzer das?

Über Stil-Geschmack lässt sich (nicht) streiten?

Wie oben ausgeführt, liegt mein Fokus auf der sprachlichen Darstellung des Inhalts. Die deutsche Ausgabe ist eine „autorisierte Übersetzung“, also von der Autorin abgesegnet. Wenn ich feststelle, dass Katja Hoyer sich eines burschikosen Schreibstils bedient, so ist mir bewusst, dass in England ein flotter Stil als erfrischend goutiert wird. Mir scheint, Katja Hoyer hat sich vorgenommen, die Geschichte des 19. Jahrhunderts in volksnahe Sprache – die bisweilen ins Schnoddrige abgleitet – herunterzubrechen. Wenn ich lese: „Während seine Untertanen rackerten, litten und starben, spielte der Kaiser mit seinen Spezis fern der Hauptstadt Karten,“ so frage ich mich, was das für „Spezis“ sind und wo und was die Menschen „rackerten“. Im englischen Buch spielt der Kaiser mit seinen „cronies“ Karten, was übersetzbar wäre mit Kumpanen oder Spießgesellen; in jedem Fall ein respektloser Begriff. Ist das gewollt? Durchgängig sind Aussagen zu finden, die im Verhältnis zu ihrer Bedeutung stutzig machen. „Religion hat seither in Deutschland nach der nationalen Identität die zweite Geige gespielt.“ Die zweite Geige! Seither, bis heute?

Um im sprachlich anschaulichen Duktus zu bleiben, ist eine rührselige Beschreibung anzuführen: „Einsam und heimatlos zogen sie [Landarbeiter] durch die kalten Straßen der deutschen Städte“. Hänsel und Gretel lassen grüßen.

Nun mag man einwenden, dass ein Geschichtsbuch nicht den Anspruch hat, ein Stück Weltliteratur zu sein, und dass bei Vermeidung von Fachsprache der Inhalt allgemein verständlich vermittelt werden soll. Das ließe ich gelten, wenn Stil und Inhalt konform gingen, wenn der Stil den Inhalt sprachlich unterstützte und eingängiger machte. Kann es also Katja Hoyer mit ihrer tendenziell legeren Ausdrucksweise gelingen, die Leser:innen an das Buch zu fesseln? Dies hängt vom Geschmack des Lesers und der Leserin ab. Mir macht gerade diese saloppe Ausdrucksweise das Lesen sperrig. Eine übertriebene Lockerheit erzeugt Stirnrunzeln. Einige Beispiele: „Wilhelm hingegen hatte die Nase voll […].“ Und drei Seiten weiter: „Dennoch war allen klar, dass Wilhelm die Nase voll davon hatte, […] den ´König der Bettler` zu spielen.“ – „Schließlich nahm der Kaiser Vernunft an, […].“ – „Jetzt war die Weltpolitik in vollem Gange.“ – „… ließ sich immer eine Mehrheit für die Kosten des Flottenbaus zusammenschustern.“ – „Die Militärs [,,,] schalteten auf stur.“ – „Wenn er […] versucht hätte, dem deutschen Volk seinen Willen aufzuzwingen, wäre der Schuss nach hinten losgegangen.“ Die Liste ließe sich mannigfach verlängern.

In einem toxischen Zeitalter

Ein gesondertes Kapitel verlangt der Begriff „toxisch“ (giftig, vergiftet), der in der Regel eine „vergiftete“, ungute menschliche Beziehung bedeutet. So kennen wir bislang toxische Männlichkeit, toxische Menschen, toxisches Verhalten, auch das toxische Schocksyndrom und Toxische Pommes (Pseudonym einer österreichischen Kabarettistin). Was schon anzeigt, dass sich der Begriff erweitert. Katja Hoyer nutzt den Begriff in neuen Verbindungen. So trieben die Franzosen einen „toxischen Keil“ zwischen die Deutschen, und bei der Auseinandersetzung um Schleswig und Holstein handelte es sich um einen „toxischen Dualismus“. Außerdem gibt es die „toxische Dolchstoßlegende der 1920er Jahre“. Die gleiche Wirkung hat nach Hoyer das „französische Gift“, denn „Europa hatte zugesehen, wie das französische Gift immer stärker emotional aufgeladen war […]“. Welcher Art das Gift war, bleibt unklar.

Beim Wort genommen …

Immer wieder stoße ich mich an unpassenden Begriffen. So erforderte „der Erhalt der nationalen Einheit […] eine Konfliktdiät […]“, und die Franzosen bemühten sich,„separatistisches Getöse […] zu fördern.“ In der englischen Version heißt es „separatist clamour“, was gleichermaßen eine von der Autorin vorgenommene Entwertung eines berechtigten Anliegens bezeichnet. In einem anderen Fall geht es um „chauvinistisches Getöse“.

„Deutschland war zum imperialistischen Tanz zu spät gekommen […]“, klingt poetisch, soll aber besagen, dass Deutschland sich nicht genug Kolonien einverleibt hat.

Weitere Meinungen werfen Fragen auf, z. B. wenn Matthias Erzberger als „lautstarker Politiker des Zentrums“ charakterisiert wird und man sich fragt, warum gerade Erzberger, wo doch andere Politiker ebenso aufgetreten sind.

Freudig wurde die Demokratie nicht in Deutschland aufgenommen, so Hoyers Aussage, denn: „Folglich wurde das Deutsche Reich kurz vor seinem Untergang wider Willen in eine kurze Phase echter Demokratie gezerrt“. Wer „zerrt“ wen gegen wessen Willen?

Beliebig wird es in dem Satz „SPD und USPD versuchten widerwillig, eine Art furchterregenden Geist zu kontrollieren […].“ Was war das für „eine Art“?

Wenn es am 18. März 1848 zu einem „Showdown“ kam, so war damit ein Entscheidungskampf gemeint. „Showdown“ klingt flotter, genauso wie „Flow“, denn „Bismarck handelte in einem realpolitischen Flow“,also in einem Zustand, der ihm fast ekstatisches Wohlfühlen brachte.

Auch religiöse Begriffe können schiefgehen, wie z. B., dass alljährlich am Todestag von Rosa Luxemburg „Prozessionen zu ihrem Grab veranstaltet“ werden. Da verwechselt Hoyer eine politische Großdemonstration mit einer Prozession, einem Umzug der katholischen und orthodoxen Kirche bei religiösen Anlässen. Nein, die katholische Kirche wird sicher nicht eine Liebknecht-Luxemburg-Prozession veranstaltet haben. Genauso wenig wie ein Klassenkampf „gepredigt“, aber von Hoyer so bezeichnet wird.

Im Streit um den Anspruch der Hohenzollern auf den spanischen Thron findet die Autorin die bedauernden Worte vom „armen Leopold“. Ginge es darum, Politiker zu bemitleiden, so könnte sie auch vom „armen“ Bismarck, „armen“ Kaiser Wilhelm und „armen“ Napoleon III. sprechen. Auf ihre Art sind sie alle „arm“ und zu bedauern. Wilhelm I. hätte sogar „um ein Haar abgedankt“, und 1848/49 wäre „um ein Haar die bestehende Ordnung gestürzt.“ Das passt zu der Aussage, dass Wilhelm ein „Kathastrophenpotenzial“ in sich trage.

Wie umgangssprachlich darf es sein?

Nun ließe sich einwenden, sprachliche Ungenauigkeiten seien eben Schreibstil der App-, Tiktok- und SMS-Generation und zu vernachlässigen angesichts des wissenschaftlichen Inhalts. Ich halte dagegen, dass Stil und Inhalt kompatibel sein müssen.

Manch Umgangssprachliches wirkt respektlos, so z. B., dass August Bebel und Wilhelm Liebknecht „hinter Schloss und Riegel“ gebracht wurden. Auch werden manche Begriffe wiederholt, ohne Synonyme zu suchen. Das gilt für „auf einmal“. Da verfügen „Leute auf einmal über Freizeit“ und „die Deutschen auf einmal über die Mittel […].“ Und „auf einmal“ wurde eine Pattsituation unterbrochen.

Ein Rätsel sprachlicher Art ist „mitten während“ in dem Satz „Der Umstand, dass der ehemalige Kanzler und Reichsgründer mitten während der Auflösung seines sorgfältig geknüpften außenpolitischen Netzes starb […].“ In der englischen Version steht übrigens ganz richtig „in the midst“.

Gern verstärkt Hoyer ihre Aussagen durch Übertreibungen. So ist zu lesen von einem „beispiellosen Ausmaß“, von Regionen, die „ins Mittelalter zurückkatapultiert wurden“, von der schwersten Krise, die das Land „jemals erlebt hatte“, von einer „furchtbaren Kartoffelfäule“ und wenige Zeilen später von der „furchtbaren Spanischen Grippe“, und der Ruf von Kaiser Wilhelm II. wurde „irreparabel“ beschädigt. Und wer nicht Zugang zu den technischen Möglichkeiten hatte, „lernte die Welt […] zu hassen.“ Starke Worte, als ginge es nicht schlimmer.

In einem irrt die Autorin, wenn sie meint, den Engländern die Sehnsucht der Deutschen im 19. Jahrhundert nach Ordnung und Disziplin mit dem martialischen Beispiel von Schulschwänzern vor Augen zu halten: „Polizeibeamte griffen sogar Schulschwänzer auf und brachten sie in ihre Schule zurück“. Ich denke, so mancher britische Leser würde sich das auch heute wünschen, und in Deutschland kann auch im Jahr 2024 Schulverweigerung mit Bußgeld von über 1000 Euro geahndet und im Ernstfall auch die Polizei gerufen werden.

Zur Abrundung noch ein wissenschaftlicher Satz in einem ansonsten sprachlich volksnahen Buch: „Dieses Duumvirat übte eine stille Diktatur aus“.

Kaiser Wilhelm II.

Wenn es um Kaiser Wilhelm II. geht, wird von der „infantilen Faszination Wilhelms für Seemacht“ geschrieben und dass „Wilhelms Herrschaft […] von Anfang an auf Skandal ausgerichtet [war]“ und er sich etwas „naiv“ einbildete. Skandalträchtig, naiv und doch berechnend, so stellt Hoyer den Kaiser dar. Außerdem sei Kaiser Wilhelm II. „ein Kind seiner Zeit“ gewesen, ein Unschuldslamm, das nichts anderes kannte als Militarismus und Nationalismus, abhängig vom angeblichen Zeitgeist. Tatsächlich war es umgekehrt: Gerade er hat die Marker der Zeit gesetzt, aktiv, gemeinsam mit seinen Beratern. Er trägt die Verantwortung für Militarismus und Nationalismus. Von denen, die auch „Kinder dieser Zeit“ waren, die sich aber ganz anders entwickelten, die Pazifisten und frühe Europäer wurden, ist bei Hoyer nicht die Rede.

Wertungen erleichtern das Denken

Katja Hoyer wurde noch in der ehemaligen DDR geboren und hat ein Buch über den deutschen Osten publiziert. Interessant ist, wenn sie sagt: „Das fast schon zwanghafte Muster des deutschen Strebens nach nationaler Einheit war für das kommende Jahrhundert vorgezeichnet.“ Und: „Das Gefühl ´abgeschnitten` zu sein, kippte schon bald um in das Gefühl, ´abgehängt` zu werden, und der dadurch aufkommende Unmut löste eine defensive und konservative Gegenbewegung gegen den Fortschritt aus […].“ Beide Aussagen beziehen sich auf die politisch konservative Strömung um 1900.

Katja Hoyer hält mit ihrer Meinung nicht zurück. Ein Beispiel sind die Kriegstoten. Da ist vom „sinnlosen Gemetzel“ einer ganzen Generation zu lesen und von Verlusten „für nichts und wieder nichts“, denn „Millionen von Menschen hatten ihr Leben verloren – für nichts und wieder nichts.“ Ob Krieg einen „Sinn“ hat? Da haben Politiker, Historiker, aber insbesondere die Angehörigen der Toten unterschiedliche Meinungen. Auch der Krieg Ukraine-Russland könnte eines Tages mit dem Satz „für nichts und wieder nichts“ beurteilt werden. Zumindest in den Todesanzeigen und Nachrufen der Gefallenen wird das sinnvolle Heldentum hervorgehoben. Noch eine Meinung Hoyers zum Krieg: „Der Krieg […] hatte auch eine seltsam verbindende Wirkung.“ Warum „seltsam“?

Hoyer spricht von der Zeit um 1900 und betont, wie schlecht die Infrastruktur auf dem Lande war. Es geht ihr darum, die Rückständigkeit aufzuzeigen: „Ohne Telefon, Radio, Fernsehen oder Internet waren Zeitungen die einzige Verbindung zur Welt jenseits des unmittelbaren Umfelds.“ Sollen die Leser:innen die Menschen bedauern, dass sie um 1900 weder Telefon noch Radio noch Fernsehen (!) noch Internet (!!) hatten? Also buchstäblich Mittelalter? Nur die Zeitung! Besonders das Internet wird ihnen gefehlt haben.

Was lässig sein soll, kann auch nach-lässig wirken, wenn Füllwörter bzw. Wörter kryptischer Natur den Text verlängern oder verklären. „Der Kanzler des Norddeutschen Bundes [machte] unschuldig auf seinem Landgut Urlaub.“ Warum „unschuldig“? – Er hatte „bereits einen gewissen Ruf […].“ Und: „Man kommt nicht umhin, Ähnlichkeiten zu gewissen heutigen Politikern festzustellen […].“ Das sitzt, und man hätte gerne gewusst, um welche „gewissen“ Politiker es sich handelt.

„Das erzürnte selbstverständlich die konservative Lobby.“ Warum „selbstverständlich“? Zum Schluss noch etwas Merkwürdiges: „Die Deutschen entwickelten eine merkwürdige Vorliebe für Geschichten […].“ Und: „Diese merkwürdige Mischung aus pragmatischem Realismus […].“

Fazit

Müssen so viele Beispiele für Hoyers ganz persönlichen Stil aufgebracht werden? Ich denke ja, beweisen sie doch den populärwissenschaftlichen Anspruch, der sich in der temperamentvollen Sprache widerspiegelt, bei der sie oftmals ins allzu Burschikose abgleitet. Wie viel Volksnähe tut einem historischen Buch gut? Wer diesen Stil mag, ist gut bedient, auch wenn inhaltlich alter Wein in neuen Schläuchen gereicht wird, bei dem es um berühmte Männer, um Machtverlust und Machterhalt und Imperialismus geht und um den Missbrauch von Völkern auf dem Schachbrett der Politik. Die Entwicklung hin zu einer Deutschen Nation und dann zum Ersten Weltkrieg ist stringent dargestellt, während die rasanten Veränderungen in der Gesellschaft mit all ihren Erschütterungen und Verunsicherungen in dieser sogenannten Belle Epoque nur gestreift werden.

Was an Themen und Seitenaspekten weggelassen wurde, ist in anderen Büchern nachzulesen, derer es viele gibt. Solange man weiß, was unerwähnt blieb. Mein persönliches Fazit ist, mich mit Einzelthemen zu beschäftigen, auf die ich gestoßen bin. Ganz oben auf der Liste stehen Bertha von Suttners Die Waffen nieder, Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent und Florian Illies` 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. 

Titelbild

Katja Hoyer: Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871 – 1918.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024.
272 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783455017281

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