Der skeptische Gast
Matthias Nawrat reist in „Über allem ein weiter Himmel“ an die Ränder Europas
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Roman Der traurige Gast war 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Geschrieben hat ihn der 1979 im schlesischen Opole (Oppeln) geborene, in Bamberg aufgewachsene und heute in Berlin lebende Matthias Nawrat, der 2012 mit Wir zwei allein debütiert und dann zwei weitere, mehrfach ausgezeichnete und ungemein lesenswerte Romane vorgelegt hat: Unternehmer (2014) und Die vielen Tode unseres Opas Jurek (2015). In eine bestimmte Schublade will er sich keinesfalls stecken lassen: „Das Bildungsbürgertum hat einfach den Ausländerzoo Migrationsliteratur erfunden, um das Fremde auf diese Weise einzuhegen, für die eigene moralische Identitätskonstruktion nutzbar zu machen.“ Migrationsliteratur? Nicht mit Matthias Nawrat!
In seinem explizit an Joseph Roths Reisen in die Ukraine und nach Russland anknüpfenden Buch Über allem ein weiter Himmel verspricht er uns „Nachrichten aus Europa“, aus Polen natürlich, wohin er mehrfach gereist ist, und, sehr interessant und anregend, aus Israel. Auch aus Ljubljana, Timişoara, Budapest, Minsk und Skopje. Und aus zwei Städten, die jenseits des Ural und damit streng genommen in Asien liegen: Nowosibirsk und Tjumen. Dort hat er sich 2016 und 2018 aufgehalten, als Russland die Krim bereits okkupiert, den großen Krieg gegen die Ukraine aber noch nicht vom Zaun gebrochen hatte. Über Geschichte und Politik wird immer wieder kontrovers diskutiert: „Die Ukraine ist einerseits Europa, andererseits Russland.“ Hmm. Der postkommunistische „homo sovjeticus“ und die russische Gesellschaft überhaupt werden mit Sympathie geschildert und zugleich kritisch beäugt. Prinzipiell mit Zuversicht: „In gewisser Weise werden erst jetzt das letzte Jahrhundert, der Kalte Krieg und so weiter verabschiedet.“ Wirklich? Die Sicht des Westens auf Russland hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert, hauptsächlich wegen der Politik. Über allem ein weiter Himmel ist ein hochpolitisches Buch. Ob Nawrats „Nachrichten“ noch aktuell sind?
Zunächst einmal sind sie durchgängig interessant und gut zu lesen, auch weil der Autor immer von ganz konkreten Alltagsbeobachtungen und ganz konkreten Menschen ausgeht. „Etwas an dem geografischen Raum, in dem ich mich befinde, fängt an, zu mir zu sprechen“, heißt es gleich zu Beginn – eine Art Motto dieses Buchs, das eine Unmenge kluger Aufzeichnungen enthält und doch kein Reportagen- oder Essayband ist. Sehr sympathisch ist die ehrliche Skepsis des Besuchers, der sich vor allem darüber klar ist, dass ihn seine mangelhaften Sprachkenntnisse von den Menschen trennen, denen er in den Gastländern begegnet. Der sich fragt: „Wie stark bin ich von der deutschen, der polnischen, der eurozentristischen Geschichtsschreibung beeinflusst?“. Und der genau spürt: „Ich bin ein Fremder, der aufpassen muss, was er sagt.“ Abgesehen davon ist er, wie alle Reisenden, nicht immer in Bestform: „Es passiert nicht viel in mir“, stellt er in Tel Aviv fest. „Die Reise scheint mir nur wie das Lebendigwerden eines Reiseführers über Israel, oder täusche ich mich?“. Selbstverständlich kann der Autor von seinem Bildungswissen und seiner Belesenheit nicht gänzlich absehen – aber sie dominieren nirgendwo seine wache Wahrnehmung. „Wir leben“, erinnert er sich und uns, „im 21. Jahrhundert“. Nicht der Vergangenheit, sondern dem Sound des Jetzt ist Matthias Nawrat auf der Spur. Das erhält seinen „Nachrichten aus Europa“ ihre Aktualität. Auch wenn sich die Welt rasant verändert.
|
||