Lesen, schreiben und erinnern

Stefan Goldmann legt gesammelte Aufsätze zu „Topik und Memoria“ vor

Von Hendrik AchenbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hendrik Achenbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fülle an fundierten Beiträgen zur Topikforschung, die Stefan Goldmann vorgelegt hat, ist schlichtweg beeindruckend. In diesen Kontext ist auch eine Reihe von Aufsätzen einzuordnen, die ursprünglich zwischen 1989 und 2000 erschienen sind und nun in einem Sammelband vorliegen. Diese Beiträge sind ohne Zweifel ‚gut gealtert‘ und gerade in einem Forschungsbereich, der von der Literatur- und Kulturwissenschaft jahrzehntelang stiefmütterlich behandelt wurde, von unbestreitbarem Wert. Zur Konzeption des Bandes sind indes kritische Bemerkungen angezeigt.

Zunächst einmal lassen Titel und Aufmachung des Buches nicht unbedingt darauf schließen, dass es sich um eine Sammlung von Aufsätzen handelt, die bereits vor zwei bis drei Jahrzehnten vorgelegt wurden. Stattdessen erhebt der Band den Anspruch, so die Verlagsbeschreibung, die „interdisziplinäre Topos-Forschung“ in einer Weise darzustellen, dass sie sich „als ein methodisches Paradigma einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft empf[iehlt]“. Auch wenn der vorliegende Band eine ganze Reihe von Beiträgen enthält, die auf dem Forschungsfeld der Topik nach wie vor hoch relevant sind, kann er diesem Anspruch kaum gerecht werden. Dafür bedürfte es eines Sammelbandes, der Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren mit diversen literatur- und kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands bündelt. Mit einem zusätzlichen Beitrag, der eine Zusammenschau der von Goldmann vorgelegten Forschungsergebnisse kursorisch mit dem aktuellen Forschungsstand abgleicht, wäre ein erster Schritt in diese Richtung aber durchaus möglich gewesen. Der Autor stellt in der mit „Vorerinnerung“ überschriebenen Einleitung dagegen fest, dass der von ihm vorgelegte Band „nicht der Ort [ist], eine Synthese oder gar ein System aus diesen Einzelstudien zu entwickeln.“

Goldmann weist am Ende der Einleitung darauf hin, dass die Beiträge in Topik und Memoria „nahezu unverändert“ abgedruckt sind, erläutert dies jedoch nicht näher. Ohne einen Vergleich mit den ursprünglichen Fassungen der Texte besteht die einzig augenfällige Ergänzung der Beiträge in Querverweisen im Anmerkungsapparat, welche die versammelten Aufsätze inhaltlich miteinander verknüpfen. Solche Verweise sind der Lektüre dienlich, stehen aber durch die Verwendung des Worts ‚Kapitel‘ symptomatisch dafür, dass der Band als etwas erscheint, das er nicht ist. Zwar sind die einzelnen Aufsätze in der Tat wie Kapitel durchnummeriert. Es handelt sich im vorliegenden Fall aber eben nicht um eine kapitelweise aufgebaute Monografie, sondern um eine Wiedervorlage gesammelter Aufsätze in einem Band.

Wie bereits erwähnt, wurden diese Beiträge unabhängig voneinander in unterschiedlichen Periodika und Sammelbänden publiziert. Dies hat nachvollziehbarerweise zur Folge, dass der Leser bei einer vollständigen Lektüre des Bandes wiederholt auf ähnliche Schilderungen von grundlegenden Sachverhalten stößt. Ein gutes Beispiel dafür bildet die Beschreibung der officia oratoris, also der Arbeitsschritte, die ein Redner zu durchlaufen hat, um seine Rede so abzufassen und zu halten, wie es die antike Rhetorik vorgibt. Mit einem Verständnis von Topik als „Suchsystem zum Auffinden von ‚Argumenten‘“ (Uwe Hebekus) sind die officia oratoris in entscheidender Weise verbunden, weshalb es in unabhängig voneinander publizierten Einzelbeiträgen in der Regel sinnvoll ist, auf sie einzugehen. Gleichzeitig gibt es an dem fachwissenschaftlichen Grundverständnis dieser Arbeitsschritte nichts zu rütteln – es handelt sich um Handbuchwissen, das nur referiert werden muss, um den Kontext für die jeweilige Fragestellung zu bilden. Es ist offensichtlich, warum man in dem vorliegenden Band wieder und wieder mit entsprechenden Beschreibungen konfrontiert wird. Diese dürften bei der Komplettlektüre als unnötig oder gar störend empfunden werden.

Stefan Goldmann zeigt in der Einleitung inhaltliche Verbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen auf und beschreibt deren Fragestellungen und Zielrichtungen in komprimierter Form. Hier gelingt ihm eine überzeugende Darstellung und ein guter Einstieg ins Thema. Allerdings weicht er dabei von der Reihenfolge der Beiträge im Band ab, welche sich wiederum nicht an das jeweilige Jahr der ursprünglichen Veröffentlichung hält. Die Gründe dafür sind nicht ersichtlich, mögen aber mit dem „gewachsenen Zusammenhang“ zu tun haben, in dem, so der Autor, die Aufsätze nun „erstmals […] erscheinen können.“

Bereits ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des Bandes lässt Schwerpunkte von Goldmanns Forschungen zur Topik erkennen. Dazu zählen etwa deren antike Herkunft und Grundlagen, das Verhältnis von Topik und Autobiografie sowie topische Denkprozesse und -figuren. Die wissenschaftliche Relevanz und Qualität der Beiträge in diesem Band sind durchgängig hoch.

Beispielhaft zur Lektüre empfohlen sei der Aufsatz mit dem Titel Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius, in dem Goldmann eine wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Überlegung anstellt. Curtius veröffentlichte 1948 eine Untersuchung mit dem Titel Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, deren Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Topikforschung immens ist. Goldmann setzt sich in seinem Beitrag mit der von Eduard Norden in der 1910 erschienenen Einleitung in die Altertumswissenschaft aufgestellten Forderung nach „eine[r] Topik der Motive in Poesie und Prosa“ auseinander und kann seine These, dass diese Forderung „den geistesgeschichtlichen Ausgangspunkt für Curtius’ eigene Toposforschung darstellt“, überzeugend begründen.

Ebenfalls empfohlen sei Lesen, Schreiben und das topische Denken bei G. Chr. Lichtenberg, ein Aufsatz, in dem Goldmann unter anderem anhand von Lichtenbergs Sudelbüchern nicht weniger als vier Dimensionen des topischen Lesens, Schreibens und Denkens anschaulich und exakt herausarbeitet, die Lichtenberg als „genuine[n] Vertreter […] eines topisch-kombinatorischen Bildungshabitus“ erscheinen lassen.

Goldmanns Aufsätze bedienen sich eines dichten literatur- und kulturwissenschaftlichen Schreibstils mit klar formulierten Thesen und nachvollziehbaren Begründungen. Sie bringen umfangreiche Anmerkungsapparate mit, in denen sich eine Vielzahl von Verweisen auch auf ältere Forschungsliteratur, zum Beispiel aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, findet. Dies ist keinesfalls ein Manko, sondern ein Reichtum, der es auch der gegenwärtigen Forschung ermöglicht, den einen oder anderen Schatz zu heben. Eine dritte Eigenschaft, die mehrere Aufsätze dieses Bandes verbindet, hat mit den antiken Grundlagen der Topik zu tun. Goldmann bezieht sich immer wieder auf griechische und lateinische Grundlagentexte, zitiert diese und stellt in der Regel eine Übersetzung der Zitate ins Deutsche zur Verfügung. Von solchen Referenzen werden altphilologisch geschulte Leserinnen und Leser sicher zusätzlich profitieren. Trotzdem lassen sich die entsprechenden Beiträge auch dann mit Gewinn lesen, wenn man nicht über solche Kenntnisse verfügt.

Den Abschluss von Topik und Memoria bildet der Beitrag Zur neuzeitlichen Geschichte des Topik-Begriffs von 1999, der in den Drucknachweisen als Artikel aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWPh) von Joachim Ritter und Karlfried Gründer geführt wird. Dieser Text gibt sich bei der Lektüre auch als Fachwörterbuchartikel zu erkennen, unterscheidet er sich doch von den anderen Beiträgen durch eine komprimierte, überblicksartige Schreibweise, die seiner ursprünglichen Funktion angemessen ist.

Ist ein solcher Text in einem Aufsatzband fehl am Platze? Nicht unbedingt, aber wichtiger ist, dass sich bei seiner Lektüre eine verpasste Chance zeigt. Es hätte sich angeboten, die Darstellung, die im 16. Jahrhundert bei Erasmus von Rotterdam beginnt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Peter Jehn, Lothar Bornscheuer sowie Dieter Breuer und Helmut Schanze endet, auszuweiten und mit Forschungsergebnissen zu ergänzen, die nach 1999 erschienen sind und somit bei der ursprünglichen Publikation im HWPh nicht berücksichtigt werden konnten. Zu erwähnen sind hier etwa die von Thomas Schirren und Gerd Ueding herausgegebenen Ergebnisse des interdisziplinären Symposiums zur Topik und Rhetorik (2000) oder die einschlägigen Beiträge von Frauke Berndt. In solch aktualisierter Form hätte dieser letzte Beitrag dem Band einen guten Abschluss beschert und zusätzlichen Wert verliehen.

Der Sammelband Topik und Memoria stellt die Breite und Tiefe von Stefan Goldmanns Forschungsarbeit zur Topik in eindrucksvoller Weise dar. Für Wissenschaftler, die an einzelnen der hier dargestellten Themenbereiche arbeiten möchten (etwa der antiken Genese der Topik oder deren Verhältnis zur Autobiografie), stellen die jeweiligen Einzelbeiträge auch Jahrzehnte nach ihrer ursprünglichen Publikation fundierte Ergebnisse und Anknüpfungspunkte bereit. Dies leisten die Beiträge allerdings in derselben Weise, wenn sie bibliothekarisch über die ursprüngliche Publikation bezogen werden. Dem umfassend interessierten Topikforscher kann der Band aber auch zur vollständigen Lektüre empfohlen werden.

Titelbild

Stefan Goldmann: Topik und Memoria. Beiträge zu einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft.
Schwabe Verlag, Basel 2023.
211 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783796548420

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