Eine Familiengeschichte gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2024

Alternative Perspektiven auf die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Der Bachmann-Wettbewerb 2024 wurde mit der Preisverleihung am 01.07.2024 offiziell beendet. Es waren insgesamt fünf Tage voller Literatur, Sonnenstrahlen, guter Geschichten und spannender Diskussionen, sowohl unter den Juror*innen als auch in den Pausen unter dem Publikum vor Ort. 

Die Preisträger*innen

Den Ingeborg-Bachmann-Preis 2024 gewann Tijan Sila mit dem Text Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde. Darin erzählt er autofiktional, wie der Ich-Erzähler und dessen Eltern vor dem Krieg in Jugoslawien flüchteten und wie die akademischen Titel der Eltern in Deutschland ihren Wert verloren, sodass beide arbeitslos wurden. Die Mutter erkrankte an Schizophrenie, der Vater hinterlässt nach seinem Tod eine Messiewohnung. Damit charakterisiert er nicht nur ein Kriegstrauma, sondern Schicksale, die sich in dieser oder einer ähnlichen Form hinter der verschlossenen Tür einer Wohnung auch heutzutage wiederholen könnten.

Der Deutschlandfunk-Preis ging an Denis Pfabe für Die Möglichkeit einer Ordnung. Der Text, der auf der Oberfläche einen Mann porträtiert, der in einem Baumarkt nach Baumaterialien für die Haussanierung sucht, verhandelt in der Tiefenebene das Scheitern eines Kinderwunsches.

Der Kelag-Preis ging nach einer Stichwahl an Tamara Štajner für Luft nach unten, eine Auseinandersetzung mit der Kindheit und der übermächtigen Mutter. Zwischen Liebe und Hass versucht die Autorin das Verhalten der Mutter zu erklären und sich mit ihr, womöglich kurz vor ihrem Tod, innerlich zu versöhnen.

Den 3SAT-Preis sowie den BKS Bank-Publikumspreis gewann – ebenfalls nach einer Stichwahl – Johanna Sebauer. Mit ihrem Text Das Gurkerl verhandelt sie zwischenmenschliche Dynamik, die sich nach einem Spritzer von Gurkenwasser ins Auge eines Redaktionskollegen zu einer medialen ‚Gurkerl-Schlacht‘ entfacht. Zur Gefährlichkeit von ätzendem Gurkenwasser werden nicht nur Kolumnen und Gegenartikel geschrieben, sondern auch Demonstrationen organisiert. Eine gekonnt komponierte Satire über die Wirksamkeit von Medien und die Empörungsspirale der Gesellschaft, die sowohl das Publikum als auch die Jury in eine heitere Stimmung versetzte.

Ein kurzer Blick auf die ausgezeichneten Texte verrät, dass die drei höchstdotierten Preise an Texte verliehen wurden, die Familienkriesen verhandeln. Alle sind autofiktional und werden aus einer subjektiven Ich-Perspektive erzählt. Sie kreisen um die Abwesenheit und den Verlust, um die versagten Möglichkeiten und die unerfüllten Träume. Dennoch ist keiner dieser Texte durch Wut bestimmt. Es ist vielmehr ein Versuch, mit der gegebenen Situation klar zu kommen, um weitergehen zu können. Von dieser Thematik wich lediglich der vierte prämierte Text ab, indem er auf Satire und Humor setzte.

Weitere Texte des Wettbewerbs

2024 war insgesamt sowohl sprachlich als auch erzähltechnisch ein starker Jahrgang. Weitere Themen, die in den übrigen zehn Texten verhandelt wurden, waren: Drogenabhängigkeit und Helfersyndrom; eine von Krankenschwestern umgebene, sterbende Großmutter; ein Nachruf an den Vater; eine selbstbewusste Geschäftsfrau aus der Modebranche; ein Experiment, in dem die menschliche Natur und die schief gelaufene Kindheit korrigiert werden könnten; ein Haus, das das Echo aller seiner bisherigen Bewohner*innen erklingen lässt; eine Mutter mit Milchstau, die von einem Fußballer träumt; eine Corona-Erkrankte, die eine Krähe namens Karl aufzieht; eine beeindruckende Leseperformance, die von der Flucht aus dem Nordirak, einer tragischen Kindheit und der Suche nach Identität handelt. Überwogen haben dabei stets die Ich-Perspektive und eine minutiöse Betrachtung der Welt in ihren Details.

Gruppendynamik in der Jury

In der Jury zeigte sich im Vergleich zu den Vorjahren eine veränderte Dynamik, was sich mit den Änderungen in der Juryzusammensetzung sowie mit der neuen Sitzordnung erklären lässt. Während Thomas Strässle im vergangenen Jahr dadurch aufgefallen ist, dass er die abdriftende Diskussion stets einfangen und zurück zum Text führen konnte, schien er sich in diesem Jahr mehr auf die eigenen Sichtweisen und Argumente zu konzentrieren. Mara Delius blühte dagegen auf, indem sie die in vergangenen Jahren von Insa Wilke vertretene wissenschaftlich-analytische Position in die Jurydiskussion mit einbrachte. Laura de Weck zeigte sich bei ihrem ersten Auftritt in der Jury zurückhaltend und meldete sich vergleichsweise selten zu Wort. In der Mitte der Juror*innen-Runde saß Klaus Kastberger, der als Dienstältester 2024 zum ersten Mal den Vorsitz übernommen hat. Die neue Rolle schien ihn zunächst ein wenig dabei zu bremsen, sich in gewohnter Manier regelmäßig zu Wort zu melden. Dies änderte sich jedoch schnell, als er doch verriet, dass er sprechende Gegenstände nicht ausstehen könne, oder als er einen Text als „langweilig“ bezeichnete und seine allgemeine Abneigung gegenüber Baumärkten bekundete. Immer, wenn er einen Text nicht verstehen konnte, entpuppte sich dieser als ein Text aus der Schweiz – dies sorgte für allgemeine Heiterkeit. Sehr positiv ist 2024 außerdem Brigitte Schwens-Harrant aufgefallen, die sogar in einer Online-Umfrage von literaturcafe.de zu der beliebtesten Bachmannpreis-Jurorin gewählt wurde. Durch ihre objektiv-argumentative Herangehensweise an die Texte, mit der sie sowohl Vorzüge als auch Mängel sachlich und textnah belegte, konnte sie ihre Position in der Jury erneut stärken. Und während Brigitte Schwens-Harrant für ihre Interpretationen und Analysen stets die Regeln der Literaturkritik heranzog, stand Mithu Sanyal eher für eine identifikatorische Lektüre. Den Texten stets wohlgesonnen, vertrat sie einen stark emotionsbasierten Zugang zum Text: Die Texte mussten zu ihr sprechen, sie beeindrucken und berühren. Dieser emotionsgeleitete Zugang zum Text sorgte bei der Jury oft für lebhafte Diskussionen, nicht zuletzt, da der Literaturkritik oft nachgesagt wird, sie folge ohnehin individuellen Perspektiven und Wertungen sowie dem subjektiven Geschmacksurteil. Dadurch erscheint die Belegbarkeit von Argumenten für das Selbstverständnis von Literaturkritik als umso entscheidender. Doch auch dieser Zugang zur Literatur hat in der Jury seine Berechtigung, insbesondere, um eine Brücke zwischen der Jurydiskussion und dem interessierten, aber nicht unbedingt fachkundigen Publikum zu schlagen. Zu den umstrittenen Juror*innen gehörte auch Philipp Tingler, dessen pointierte, auf den Kern reduzierte Aussagen oft polarisierend wirkten, die aber wiederum in vielen Fällen zur Klärung des eigenen Standpunktes aufseiten der Jury beigetragen haben. Hinzukommt, dass er bei dem diesjährigen Bachmannpreis sowohl den erst- als auch den zweiplatzierten Text ins Rennen geschickt hat.

Die Jurydiskussion jenseits der Textinterpretation

Wie jedes Jahr werden von der Jury nicht nur die vorgetragenen Texte verhandelt, sondern auch grundlegende Fragen der Literatur. So wurde zum Beispiel diskutiert, wie viele Adjektive ein Text vertragen könne und ob die Anzahl der Adjektive oder vielmehr ihre Berechtigung im Text bei dem Texturteil eine Rolle spielen sollte. Auch die Frage nach einer „modischen Literatur“ wurde kurz besprochen. Zudem wurde die Selbstbezüglichkeit eines Textes von den Juroren als negativ konstatiert. Im Kontext einer Meldung von Olivia Wenzel wurde die Frage diskutiert, inwieweit sich ein Text aus sich heraus verständlich machen muss. Außerdem spielte dieses Jahr erneut die Frage nach Performance im Studio eine bedeutende Rolle. Denn wie soll ein Text literaturkritisch verhandelt werden, wenn er sich erst mit dem kunstvollen Vortrag vollständig entfaltet, wenn sich die performte Sprache vor den niedergeschriebenen Inhalt drängt?

Fazit

Abschließend ist festzuhalten, dass die diesjährige, von Ferdinand Schmalz gehaltene Klagenfurter Rede zur Literatur (anders als in den Jahren zuvor) – während der späteren Jurydiskussionen, aber auch in dem vorliegenden Text – überraschenderweise kaum eine Rolle spielte. Zu erklären ist dieser Umstand womöglich damit, dass die Strahlkraft seiner Rede angesichts der vielen guten Texte nicht ganz zur Geltung kommen konnte. Die teils sehr fundierten, teils provokativen Jurydiskussionen, die in Einzelfällen spannender waren als die Texte selbst, rundeten den diesjährigen Wettbewerb ab.

Der diesjährige Bachmann-Preis ist Vergangenheit. Doch zum Glück stehen die Daten für die 49. Tage der deutschsprachigen Literatur bereits fest: 25. bis 29. Juni 2025.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen