Alles ein bisschen grelle oder was?
Stefanie de Velascos Protagonistinnen wandeln auf den Spuren eines Schöneberger Kiezes zwischen Hundeleine, Laubenpieper und weiblicher Selbstbestimmung
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Autorin, 1978 als Kind spanischer Einwanderer in Oberhausen geboren, wagt ein inhaltlich, formalästhetisch wie sprachlich iinteressantes Experiment. Im hier besprochenen Roman geht es um drei Frauen, Charly, eine erfolglose Schauspielerin, Grit, eine auf den literarischen Durchbruch wartende Autorin und Kessie, die als Lehrerin in einer Sprachschule arbeitet. Letztere wird insbesondere beim Besuch bei ihrer an progressiver supranukleärer Blickparese erkrankten Mutter in Köln beschrieben. Alle Frauen sind um die 40, und haben sich entschlossen, keine Kinder zu bekommen, was gar nicht so einfach ist, zum einen wegen einer im Laufe des Romans festgestellten eigenen Schwangerschaft (Charly) oder einiger Gebährender in der Umgebung, zum anderen, weil sie immer noch von Weltsichten, Haltungen und Einstellungen umgeben sind. So legt es zumindest der Roman nahe, in der Gebären für die Identität von Frauen, selbst unter noch so progressiven Verhältnissen, besondere identitätsstiftende Bedeutung hat.
Unter diesen Vorzeichen lässt sich beim hier besprochenen Werk von einer Art zeitgenössischen Gesellschaftsroman sprechen. Wenn man so will, spielen weibliche Selbstbestimmung in Bezug auf Gebären und Fortpflanzung, was etwa an den Kapiteltiteln Menstruation, Follikelphase, Ovulation, Lutealphase und am Schluss nochmal Menstruation deutlich wird, und Hunde (-leinen) wie „Herr Trott“, eine exponierte Rolle, aber auch Laubenpieper bzw. Schrebergärten. In einen von ihnen, der den Eltern ihres Freundes Anno gehört, zieht sich Grit zurück, als ihre Schwester Alice mit ihrem „normopathischen” Schwager in spe Dirk und den Zwillingen bzw. „Terrorneffen” Otto und Wilhelm für eine Woche bei ihrem Freund Anno wohnen. Dorthin ist sie auch deswegen geflüchtet, weil sie aus ihrer WG herausgeflogen ist und fortan übergangsweise dort wohnt, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist. An der Beschreibung kleiner Kommunikationsszenen wird der Widerspruch des Drangs nach Freiheit und den Sich-Verzetteln im Klein-Klein von Geboten und Verboten in diesem scheinbar so weltoffenen und liberalen Berlin virulent.
Der Roman spielt größtenteils in Berlin, aber eben nicht in Mitte, Friedrichhshain, Schönweide oder „Prenzlberg”, sondern im gediegenen Schöneberg, allerdings im Grelle-Kiez – der Name ist Programm – was nicht ohne Bedeutung für den Zusammenhang des Romans ist: Vieles soll durchaus von der Autorin intendiert, als etwas zu grell erscheinen. Weitere Szenen mit häufiger Darstellung von Dialogsituationen spielen in einem fiktiven Ort Ihrscheid in NRW (was an Orte wie Burscheid, Neuwied oder Ähnliches. erinnert) oder auch, wie schon erwähnt, in Köln. Letzterer Ort trägt zum Teil etwas verdeckte autobiografische Züge im weiteren Sinne. Als die Mutter im Krankenhaus liegt, wird der spanische Name Gonzáles immer wieder falsch geschrieben: „Die Ärztin drehte ihren Bildschirm in Kessies Richtung. Darauf sind Bilder zu sehen, ein Gehirn, grobkörnig wie eine Mondlandschaft, oben links steht Gonzales – falsch geschrieben.”
Das formal innovative Element des Romans besteht dabei darin, dass der rote Faden zwischen den Protagonistinnen hin und her wechselt, je nachdem, wer gerade welche Nachricht an wen schreibt. Auf diese Weise wird immer ein Stück jeweils aus der Sicht einer der Protagonistinnen geschildert.
Zu Beginn der Lektüre war der Rezensent versucht, bei Stefanie de Velascos Roman an Konzepte und Vorbildern von Popliterat*innen der 90er wie Elke Naters u.a. zu denken, was sich etwa daran zeigt, dass Markennamen oder auch Mode insgesamt, nicht mehr ganz neue wie aktuelle, zumindest unterschwellig, neben unbefriedigenden finanziellen Verhältnissen, dargestellt werden. Was das Werk darüber hinaus interessant und spannend macht, ist in erster Linie die Haltung der Autorin eines sehr illusionslosen, fast sarkastisch zu nennenden Humors, der sich etwa in Sätzen äußert wie:
In vier Wochen wird sie offiziell mit diesem Kretin verschwägert sein – ein Typ, der aussieht wie eine Provinzversion von Quentin Tarrantino, einer von diesen Rheinländern, die ihren Berlinhass seit der Wende noch härter feiern als ihren widerlichen Karneval.
Im Gegensatz zur Popliteratur der 90er verbleibt zudem immer eine Art wortwörtlich „nicht ganz so geleckter Hintergrund”, etwa wenn die Protagonistin oder eine der Protagonistinnen, statt sich die Kleidung zu waschen, immer wieder eine alte Unterhose anzieht bzw. die benutzte umdreht.
Auf gewisse Weise entsteht bei der Lektüre der Eindruck, dass es sich um die Darstellung von Lebensverhältnissen 40-jähriger, ewig Pubertierender handelt. Insofern weist der Roman weitere Parallelen zu Romanen der 90er oder der Nullerjahre auf. Das Thema wird in Sätzen der Gynäkologin Grits, auf deren Frage, was sie in den nächsten Jahren erwarten würde, nämlich „Pubertät nur rückwärts” auch direkt angesprochen. Berlin erweist sich dabei als Stadt der Möglichkeit ewiger Pubertät, bei der sich die Autorin am Ende bedankt: „Und danke Berlin, du barbusige Bich, du pure Hure-, ich liebe dich.” Das Thema wird darüber hinaus in der Beziehung zu den Eltern variiert, indem Grit ihre Eltern etwa darum bittet, ihr finanziell bei der Übernahme des Schrebergartens zu helfen, der von Arnos Eltern verkauft werden soll.
Die Autorin charakterisiert eine klare, scharfe, äußerst präzise Sprache mit umgangsprachlichen Elementen, bisweilen der Jugendsprache entnommen, darin ihrem 2013 erschienen Debütroman Tigermilch ähnlich, der in andere Sprachen übersetzt und auch verfilmt wurde, 2019 erzählt sie in Kein Teil der Welt von einer Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas, wofür sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert wurde, ebenfalls erschienen bei dem „Jugendverlag” und Spezialist für „Coming-of-Age-Romane” Kiepenheuer & Witsch.
In allen ihren Werken spielen Hunde als Motiv eine bedeutsame Rolle: Sowohl im Leben der Autorin; im Klappentext des hier besprochenen Textes wird erwähnt, dass sie mit Hund in Berlin wohnt, als auch für die Protagonistin Grit, deren Hund, Herr Trott, gerade gestorben sind. Beinahe schon klassisch wird an manchen Stellen humorvoll das Klischee Hunde gegen Kinder aufgenommen, und Kinderhaben und -kriegen gegen den Lebensstil der Protagonistinnen: „(…) Kinder, die Kinder sind weg, ich kriege auch keine Wohnung.”
An anderen Stellen schimmern zudem die klammen materiellen Verhältnisse der Protagonistinnen durch (hierin zeigt sich wieder eine Ähnlichkeit zur Popliteratur), auch wenn Grit etwa immer wieder Sachen aus den Abfällen der Discounter zieht und von Annos Schwager Dirk darauf angesprochen wird: „Ist das wieder aus dem Müll?” Er verbietet seinen Kindern, die von Grit mitgebrachten Zimtschnecken zu essen.
Sprachlich auffallend sind die lockeren, zum Teil etwas anzüglichen Sprüche, wie der zärtlich wie harte Witz, der manchmal im Halse stecken bleibt, immer wieder von lebensklugen Bemerkungen wie „Auch Grandiosität muss man sich leisten können” oder „Wie kann ein gesunder Mensch so leicht auf die andere Seite der Skala rutschen”, sekundiert. Dazu gesellen sich aphorismenartige Bemerkungen, etwa auch in der Kombination der Motive des Hunds und der Liebe:
Wenn du die Liebe immer bei dir haben willst, verwandelt sie sich in einen Hund, dann braucht sie einen Schlafplatz und einen Fressplatz und einen Platz, wo sie hinmachen kann.
Zum anderen sind es die genauen Beobachtungen, auch gerade die interkulturellen oder kulturkontrastiven Bemerkungen zwischen Spanien und Deutschland, zum Teil miteinander verbunden, was mit den Witz des Werks ausmacht, als beispielsweise Kressis Mutter im Krankenhaus liegt, und alte Gegensätze und Vorurteile einer Spanierin gegenüber deutscher (Ess-) Kultur wieder zum Vorschein kommen.
Besonders ergreifend ist der Dialog zwischen Tochter und Mutter, als Kessie sie nach dem Schlüssel ihrer Wohnung fragt, und diese darauf antwortet: „Du hast keinen Schlüssel mehr Mutter.” Dieser Teil des Werks ist durchsetzt von tragikomischen Elementen, was sich etwa in der (Nicht-) Renovierung einer riesigen Christusfigur im Krankenhaus verdeutlicht:
Alles hat etwas gewollt Vernachlässigtes, absichtlich Makelhaftes, als wollte man keinen Zweifel daran zulassen, dass das hier die letzte Station ist.
Insgesamt ist das Werk einem breiteren Lesepublikum sehr zu empfehlen, es ist ein kluges und sprachmächtiges Buch einer Autorin, die in der erwähnten Kombination der unterschiedlichen Motive sehr souverän daherkommt und die in jüngerer Zukunft weiter auf sich aufmerksam machen wird. Und am Schluss wird als Rahmen des Romans eine schöne und versöhnliche Pointe präsentiert, die aber hier nicht verraten werden soll.
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