Spielmanns Flucht
Peter Henischs Roman „Nichts als Himmel“
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter den wichtigen deutschsprachigen Gegenwartsautoren ist der Wiener Peter Henisch einer der unbekanntesten – zumindest in Deutschland. Andernorts (nicht nur in seiner österreichischen Heimat) weiß man die Qualitäten dieses vielseitigen und im Alter noch ungemein produktiven Autors, der auch als Musiker einen Namen hat, mehr zu schätzen. Er hat Dutzende von Erzählungen und Romanen geschrieben, dazu Gedichte, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Vieles wurde in andere Sprachen übersetzt, einiges auch verfilmt.
Mittlerweile lebt Henisch zeitweise in Italien. Dort spielt der im vergangenen Jahr rechtzeitig zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienene Roman Nichts als Himmel. Hauptfigur ist Paul Spielmann – ein Protagonist, den Henischs Leser aus früheren Romanen (Siebenhalb Leben, 2018 und Eine sehr kleine Frau, 2007) kennen. Spielmann reist im Sommer 2021 auf den Spuren seiner Freunde Julia und Marco (Henisch-Lesern vertraut aus Mortimer und Miss Molly – vgl. literaturikritik.de 3/2013) in ein toskanisches Dorf. Eine Eigenart Henischs ist es, Bücher weiterzuschreiben, nachdem sie erschienen sind. Die Figuren leben im Kopf des Autors fort; den Roman Die kleine Figur meines Vaters beispielsweise hat er von Auflage zu Auflage verändert. Andere – wie der vorliegende – greifen auf das Personal früherer Bücher zurück. Das erinnert ein bisschen an Uwe Johnsons „Erzählfamilie“, aber sonst haben Henischs Bücher wenig mit denen des grüblerischen Mecklenburgers gemein.
Zum Inhalt: Paul Spielmann war Lehrer, seine Ehe ist gescheitert und mit Mitte fünfzig versucht er einen Neuanfang als Musiker. Als der misslingt, flüchtet er in die toskanische Urlaubswohnung seiner Wiener Freunde Marco und Julia. Marco ist Arzt und stammt aus Turin, seine Frau Julia ist Psychotherapeutin, bei der Spielmann einst Patient war und mit der ihn eine latente Liebesbeziehung verbindet. Vom Frühjahr bis zum Herbst lebt Spielmann nun im fiktiven Dorf San Vito. Er streift durch den Ort, trifft sich mit Dorfbewohnern und einer zugewanderten deutschen Künstlerin, schreibt E-Mails an Julia, hängt Erinnerungen nach, beobachtet den Himmel und die Schwalben und beginnt, mit einer Kamera, die er in der Schublade findet, zu fotografieren. Die Krisen und Katastrophen des Sommers 2021, in dem die Handlung spielt, machen auch um Toskana-Dörfer keinen Bogen. Die Corona-Pandemie, eine durch den Tourismus beförderte Gentrifizierung sowie das Erstarken der politischen Rechten erlebt der Protagonist hautnah, den überstürzten Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan (und die nachgeholte Fußball-Europameisterschaft) bekommt er aus dem Fernsehen mit. Sein mehr oder weniger entspannter Alltag wird nachhaltig gestört durch das Auftauchen von Abdallah, einem Afrikaner, der auf der Flucht übers Mittelmeer den Bruder verloren hatte und danach für kurze Zeit sein Glück in Riace fand, jenem kalabrischen Ort, der als „Dorf der Begegnung“ aufblühte, bis das erfolgreiche Experiment, ein sterbendes süditalienisches Dorf mit der Hilfe von Migranten wiederzubeleben, von rechtsgerichteten Politikern beendet wurde. Aus der erneuten Internierung ist Abdallah geflohen und sucht bei Spielmann Unterschlupf. Nach ein paar Wochen verspricht dessen Nachbarin Valeria, jene in San Vito lebende deutsche Künstlerin, die Abdallah zufällig aus Riace kennt, den Geflüchteten im Kofferraum ihres Autos nach Deutschland zu schmuggeln. Ob das gelingt, bleibt offen.
Ein österreichischer Lehrer und Musiker, der seine Midlife-Crisis in einem toskanischen Dorf therapiert, der mit Einheimischen die Kehrseiten des Tourismus erörtert, an Covid erkrankt und mit einem traumatisierten afrikanischen Mittelmeer-Flüchtling konfrontiert wird, das Ganze gewürzt mit einer kräftigen Prise Zufall – aus solchen Zutaten hätte ein mittelmäßiger Autor eine schwer verdauliche Kolportage angerührt.
Nicht so Peter Henisch. Der hat einen wunderbaren kleinen Roman geschrieben – gleichermaßen poetisch wie politisch. Inhaltsschwerer Stoff wird leicht lesbar aufbereitet, das Ganze ist durchzogen von präzisen Alltagsminiaturen: Kneipenszenen, eine Begegnung auf dem Polizeirevier, ein kurzer Auftritt von Giorgia Meloni (deren Stimme an Gianna Nannini erinnert). Den lockeren Duktus, in dem politische Themen präsentiert werden, unterstreichen beiläufig eingestreute italienische Sätze. Ein unangestrengt leichtfüßiges Buch, in dem man sich trotz seiner Thematik nachgerade wohlfühlt.
Henischs Buch ist kein realistischer Roman, eher eine literarische Inszenierung, in der aktuelle Probleme durchgespielt werden. Paul Spielmann mag Eigenschaften des Autors haben. Vor allem aber dient die Figur dazu, denkbare Erfahrungen zu simulieren. Aufgegriffen werden auch Motive aus Henischs Roman Mortimer und Miss Molly (der selbst mit Metafiktionalität spielt). Das klingt kompliziert, wird aber virtuos präsentiert. Der Musiker Henisch hat wohl mitgeschrieben. Nichts als Himmel erinnert an Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis (vgl. literaturkritik.de 9/2016). Henischs Roman ist allerdings in einem positiven Sinn einfacher – weniger eitel und nicht so bedeutungsschwanger.
Die Leichtigkeit, mit der hier Liebesgeschichten, Lebenskrisen, Naturschilderungen, Alltagbeobachtungen und aktuelle Tagespolitik verknüpft werden, ist eine Rarität in der deutschsprachigen Literatur. Warum dieser Roman vom Feuilleton kaum zur Kenntnis genommen wurde und sein Autor hierzulande so wenig bekannt ist, bleibt ein Rätsel.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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