Quer durch Dürrenmatt

Der von Lucas Marco Gisi und Irmgard M. Wirtz herausgegebene Sammelband „Wirklichkeit als Fiktion – Fiktion als Wirklichkeit“ setzt ein rezeptionelles Ausrufungszeichen

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die hier besprochene Publikation entspringt einer internationalen Tagung im Schweizerischen Literaturarchiv Bern zum 100. Geburtstag des Autors, organisiert von Lucas Gisi (Neuchâtel) und Irmgard Wirtz (Bern). Die Herausgeber haben es sich zum Ziel gesetzt, die „Wechselbeziehung zwischen Wirklichkeit und Fiktion“, konkret Dürrenmatts Versuche des Erfassens der Wirklichkeit vermittels Fiktion, zu analysieren – wobei eine derart fiktionale Bearbeitung der Wirklichkeit naturgemäß keine Ansammlung von Tatsachen darstellt, aber Bezüge zu jenen aufweist. Treten sie gehäuft auf,  führen letztere dazu, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion mitunter direkt durch den Text verläuft, wie beispielsweise in Achterloo, wo Namensträgern realer Personen wie Jung, Freud und Marx jeweils Spiel- bzw. Wahnrollen zugeordnet werden. Dürrenmatt formulierte: „Die Wirklichkeit ereignet sich, sie spielt sich im ‘ontologischen’, die Fiktion im logischen Bereich ab.“ Marta Famula ist also durchaus zuzustimmen, wenn sie formuliert, Dürrenmatt habe „mögliche Welten“ entworfen, die „als erkenntnistheoretisches Werkzeug dienen und dabei zugleich das Leben modellhaft als ein bedrohtes abbilden.“. In die gleiche Richtung zielt Tanja Nusser mit ihrem Befund, dass Dürrenmatt Modelle kreiert habe, „die experimentell die menschliche Kondition durchspielen, um immer wieder zu dem Punkt zu gelangen, dass das Modell so nicht trägt.“

Es kommt eine Auswahl gestandener AkademikerInnen und ausgewiesener ExpertInnen zu Wort. Die Struktur des Bandes verläuft entlang der Schwerpunkte: „Querfahrten“, „Zeitfragen und Denkräume“, „Dramaturgien“, „Ordnung und Störung“, „Kulturelle Identitäten“ und „Zukunft als Katastrophe und Utopie.“

Im Hinblick auf die Dramen und die Dramaturgie veranschaulicht Peter von Matt für den Meteor den Dreischritt von Einfall, Idee, Ordnung. Monika Schmitz-Emans stellt mit Verweis auf Dürrenmatts oftmals puppenartige Figuren eine Reihe von Adaptionen, vorzugsweise der Dame, in Form des Puppenspiels vor, welche sie als Pendant zu den dramatischen „Spiel-im-Spiel-im-Spiel-Situationen“ sieht. Klaus Müller-Wille verweist auf den Einfluss, welchen Dürrenmatts Kierkegaard-Lektüre auf dessen dramaturgisches Denken ausübte. Andrea Bartl schreibt dem Motiv des Essens und Trinkens in der Panne zu Recht eine strukturgebende Funktion zu – mit dem Fortschreiten des über Traps gehaltenen Gerichts korrespondieren der apéro, die Vor- und Hauptgerichte und so weiter. Richter, Staatsanwalt, Advokat und Henker legen dabei durchgängig einen „Riesendurst“ an den Tag. In den gleichen Motivzusammenhang gehört Christof Hamanns Fokus auf Bärlachs immensen Hunger nach dem, was er unter Gerechtigkeit versteht, wobei er jedoch in der Traditionslinie des „frühneuzeitlichen Souveräns“ einerseits Recht und Moral miteinander vermengt und sich andererseits richterliche Befugnisse anmaßt.

Die Aspekte Zufall als Auslöser von Katastrophen und best- bzw. schlimmstmögliche Wendung werden von Claudia Lieb beziehungsweise Daniel Cuonz ein- und sodann von Dale Adams weitergeführt. Liebs Auffassung nach ist der Unfall, welcher in der Statistik den Normalfall darstellt, in der Dramatik „erst unwahrscheinlich, dann wahrscheinlich und schließlich wirklich.“ Cuonz exemplifiziert anhand Frank der Fünfte und Porträt eines Planeten den „unwahrscheinlichen, aber doch jederzeit möglichen Umschlag einer Krise in eine  Katastrophe.“ Adams erläutert, wie in Das Sterben der Pythia Teiresias‘ Pläne, „das Chaotische planvoll zu ordnen“, zum Scheitern verurteilt sind, da das von Pythia Prophezeite – im Sinne der Wahrscheinlichkeit eigentlich nur theoretisch Mögliche – als „Zufallstreffer“ tatsächlich eintritt. Auch in Die Brücke wird laut Adams „die Wirklichkeit als eine Unwahrscheinlichkeit definiert, die eingetreten ist“ und im Versprechen, so ließe sich ergänzen, ist Matthäis Vorgehen logisch, das Aufgehen seiner Strategie nicht nur möglich, sondern gar wahrscheinlich. Allerdings verhindert ein Un- bzw. Zufall den Erfolg – dies ganz im Einklang mit dem vierten der 21 Punkte zu den Physikern: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“ Diese Wendung ist insofern die einzige der schriftstellerischen Praxis angemessene, um eine Geschichte zu Ende zu denken, den Zuschauer oder Leser somit „vor das Geschehen zu stellen“ – was jedoch nicht bedeutet, dass einzig sie Gültigkeit habe. Vielmehr ist das Mögliche im doppelten Wortsinn ungeheuer. Für unsere gegenwärtige Risikogesellschaft zieht der Schweizer allerdings die Schlussfolgerung, Warnung sei angemessener als Hoffnung, die Aufgabe der Literatur sei es zu beunruhigen, nicht aber zu trösten.

(Religions-)Philosophische Facetten des Werks werden wiederholt thematisiert. Laut Carina Abs sieht Dürrenmatt angesichts der Entmachtung des Gottes der christlichen Tradition zwei Optionen: das Verzweifeln und das Nichtverzweifeln, das Bestehen der Welt seitens des mutigen Menschen. An dieser Stelle setzt Eugenio Spedicato mit seinen Ausführungen zur Individualethik an, indem er auf Einzelgänger als Repräsentanten einer subjektiven Freiheit, als „Spielverderber im bunten Konzert des Konformismus“ abhebt. Insbesondere in Cop aus dem Mitmacher-Komplex, aber auch in den Kommissarfiguren sieht Spedicato „exemplarische Gestalten einer freien Schweiz“, verweist aber (wenn auch nur kurz) ebenso auf die Bedrohungen subjektiven Denkens und Handelns in Form undurchschaubarer gesellschaftlicher Verhältnisse. Sinnbildlich mag hierfür der dreifach gespaltene Marx in Achterloo oder der „sechsfaltige Gott“ in der Erzählung Der Rebell stehen – hier scheitert die Titelfigur ähnlich wie Möbius in den Physikern, die Rechnung geht nicht zugunsten der Welt auf.

Von den Kommissarfiguren ist es nur ein kleiner Schritt hin zur philosophischen Betrachtung des Begriffs des „Verbrechens.“ Andreas Urs Sommer sieht diesen als erkenntnistheoretisches Instrument Dürrenmatts, mit dessen Hilfe er „die Möglichkeiten menschlichen Handelns bis in die tiefsten Abgründe auslotet.“ Zwei Positionen stehen sich dabei gegenüber: die eine, „die an Ordnung glaubt und Ordnung aufrechterhalten will“ und die andere in der Traditionslinie Nietzsches oder auch de Sades, „die weder Moral noch Ordnung für gegeben oder erstrebenswert hält.“ Aus dieser Perspektive wird Moral gar als lebensfeindlich gesehen, denn sie hemme, was der Einzelne meint, ausleben zu wollen (oder zu müssen). Exemplarisch für diese Position mag der Ex-KZ-Arzt Emmenberger im Verdacht stehen.

Elisabeth Bronfen analysiert die aus den Kriminalromanen resultierenden Verfilmungen, zunächst Es geschah am hellichten Tag (1958). Dürrenmatt war mit dem Filmschluss unzufrieden und schrieb die Vorlage im Versprechen dahingehend um, dass die Verhaftung des Mörders nunmehr lediglich in der Rahmenhandlung als Phantasie Matthäis angelegt ist. Die Schuldfrage ist hierbei von hoher Komplexität: Nicht allein der Täter ist schuldig, sondern auch dessen Frau, Mätthäi, der Annemarie als Köder benutzt, und Annemaries Mutter, die ihre Einwilligung hierzu gibt – sogar das Mädchen selbst, das die ihm zugeteilte Rolle gern mitspielt. Sean Penns The Pledge (2001) ist demgegenüber in Reno, Nevada angesiedelt. Hier bekommen wir den Täter nicht zu sehen, vielmehr lenkt Penn den Fokus auf den puritanisch motivierten „Vergeltungsfuror“ des Kommissars Jerry Black, welcher sich im Zuge seiner Bemühungen, das personifizierte Böse zu eliminieren, selbst opfert.

Bedeutsam ist, dass der Band nicht wie sonst zumeist Interviews und Übersetzungen ausspart. Erstere behandelt Gisi, welcher ausführt, wie Dürrenmatt Interviewtexte überarbeitete, weiter- oder gar umschrieb. Hier lässt sich ein Vergleich zu Robert Leuchts Behandlung der Textgenese des Prosadebüts Die Stadt anstellen. Dass die Werke zumindest teilweise in Übersetzung zur Verfügung stehen, ist für die Erweiterung des gegenwärtigen wie zukünftigen Rezeptionsspektrums unerlässlich. Anna Ruchat (Italienisch), Joel Agee (Englisch), Samir Grees (Arabisch), Hiroko Masumoto (Japanisch), Pierre Bühler (Französisch) und Sophia Totzeva (Bulgarisch) verweisen dabei auf die sprachlichen Barrieren, welche es für eine gelungene Übersetzung zu überwinden gilt: Helvetismen und der mitunter betont schweizerische Hintergrund der Werke, den Alexander Honold als „Helvetisierung der Groteske“ bezeichnet (welcher sich allerdings beispielsweise AmerikanerInnen und JapanerInnen nicht umgehend erschließt), Lokalkolorit, der beizubehaltende Rhythmus, Ambivalenzen, Aphorismen, Anspielungen sowie Redewendungen („wie aus dem Bilderbuch“), die in der Zielsprache nicht existieren. Dass der Transfer dennoch gelingen kann, illustrieren unter anderem der Verkaufserfolg von Das Versprechen in arabischer Übersetzung und die intensivierte japanische Rezeption der Physiker nach Fukushima.

Diese sehr sorgsam edierte und facettenreiche Veröffentlichung sei allen Dürrenmatt-Interessierten wärmstens empfohlen. Sie besticht nicht zuletzt dadurch, dass kein Übermaß an Fußnoten die Texthoheit gewinnt und die Beiträge auch von daher nahezu durchgängig gut lesbar sind. Dennoch wendet sich das Buch in der Hauptsache an Kenner der Materie, welche mit der Dramaturgie, dem Grotesken und Absurden sowie der Philosophie Dürrenmatts vertraut sind und in dieser Hinsicht ihre Kenntnis des „Gedankenschlossers“, wie sich Friedrich Dürrenmatt selbst bezeichnete,  wieder auffrischen bzw. abrunden wollen.

Selbst wenn Dürrenmatts Bilder und Zeichnungen (von denen immerhin einige ihren Platz im Band gefunden haben) nur gestreift und abgesehen von Rudolf Käsers Beitrag nicht expliziert behandelt werden, so scheinen doch die für diesen Autoren zentralen Aspekte allesamt im Detail auf. Die im Untertitel versprochenen „neue[n] Perspektiven“ werden dabei ganz ohne Zweifel eröffnet, so beispielsweise von Peter Utz, der auf den Topos der „Dorfgeschichte als Fortschrittsgeschichte“ verweist, welchen Dürrenmatt ins Groteske wendet; von Andreas Mauz, der die Darstellung des Körpers und Sterbens im Kontext der „Endspiel-Dramaturgie“ verortet und von Jürgen Link, welcher (vorzugsweise in den Physikern) „oxymorotische Figuren“ als zentrale Handlungsträger identifiziert. Eine weitere Perspektive präsentiert  Käser mit seinem Aufriss der Geschichtsphilosophie, der vor dem Hintergrund der steigenden Weltbevölkerung um die Zentralbegriffe (individuelle) Freiheit und (allgemeine) Gerechtigkeit kreist. Käser folgert, Dürrenmatt sei angesichts der evolutionären Krise der Menschheit zu einem „evolutionsbiologischen Diagnostiker mit ökologischem Systembewusstsein“ geworden. In diesen Zusammenhang gehören ebenfalls Peter Schnyders Skizze der „geologische[n] Dimension in der Ökologie“ und Beatrice von Matts Deutung der Elsi-Figur, einzige Überlebende der Brandkatastrophe im Durcheinandertal, deren ungeborenes Kind für einen „Neuanfang“ steht. Tom Klimant nähert sich Achterloo auf eine konstruktivistische Weise und verweist dabei auf die noch nahezu vollständig unausgeschöpften theaterpraktischen, literatur- und theaterdidaktischen Potenziale, welche dieser seinerzeit verrissenen und in der Folge ganz zu Unrecht unterrezipierten Parabel der Welt als Irrenhaus innewohnen.

Die Aufsätze von Andreas Kilcher und Elke Pahud de Mortanges lesen sich komplementär zueinander: Ersterer erläutert Dürrenmatts Position im Hinblick auf den Staat Israel. Nicht Neutralität oder gar Kritik sei angebracht, sondern Solidarität angesichts der Tatsache, dass der Ursprung und das „Lebensrecht“ des Staates Israel im Holocaust lägen – eine These, welche nicht unwidersprochen blieb. Dürrenmatts Parabel religiös motivierter Auseinandersetzungen, Abu Chanifa und Anan ben David, so führt wiederum Pahud aus, veranschaulicht, wie sich aus der anfänglichen Ablehnung des jeweils anderen als Muslim beziehungsweise Jude Gemeinsamkeiten beider Religionen in Form „synchronen Erkennens und Anerkennens herauskristallisieren. Ohne Frage eine Utopie angesichts der momentanen Lage im Nahen Osten, jedoch heißt es im Essay über Israel aus dem Jahr 1975 lapidar: „Das Zukünftige ist immer utopisch.“

Dürrenmatt, so formuliert es Totzeva treffend, „ist aktueller denn je.“

Titelbild

Lucas Marco Gisi / Irmgard M. Wirtz (Hg.): Wirklichkeit als Fiktion – Fiktion als Wirklichkeit. Neue Perspektiven auf Friedrich Dürrenmatt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
504 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783835356238

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