Ein Sommer als Erntehelferin
In ihrem Debütroman „Ferymont“ erzählt Lorena Simmel, wie Solidarität die Mühsal der Arbeit erleichtern kann
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Städtchen Ferymont liegt in einer Region zwischen drei Seen, die für ihre intensive Landwirtschaft bekannt ist. Der Anbau von Beeren, Gemüse und Tabak ist anspruchsvoll, weil die Ware jeweils frisch ausgeliefert werden muss. Ohne die Hilfe von Erntehelferinnen und -helfern ist dies nicht zu bewerkstelligen. Davon erzählt Lorena Simmel in Ferymont mit einer Ruhe und Empathie, die die Härten der Arbeit nicht verleugnet, ihr Augenmerk aber in erster Linie auf die Gemeinschaft der Arbeitenden richtet.
Für einen Sommer kehrt die Ich-Erzählerin aus Berlin, wo sie Literatur studiert, nach Hause zurück. Sie ist in Ferymont aufgewachsen. Sie will hier mit Erntearbeit etwas Geld für ihr Studium verdienen und nebenher vielleicht noch ein Seminar an der nahe gelegenen Universität besuchen. So gut sie das „Große Moos“ zwischen den drei Seen kennt, so wenig hat sie bisher davon gewusst, was hier jeden Sommer auf den Feldern los ist. Ein Heer von Helfern und Helferinnen reist aus Portugal, Polen, Rumänien oder Moldawien an, um in stickigen Folientunnels Erdbeeren zu pflücken oder unter der sengenden Sonne auf staubigen Äckern Gemüse zu ernten. Viele kommen alljährlich, sie kennen die streng getaktete Arbeit. Zu diesen zählt Daria mit ihrer Familie. Sie ist ähnlich alt wie die Erzählerin, ihre Lebensumstände könnten indes nicht unterschiedlicher sein.
Arbeit trennt, Arbeit verbindet. Was von beidem überwiegt, hängt von den Umständen ab. Erntearbeit ist kräftezehrend und meist schlecht bezahlt. Daria, die als Gruppenleiterin fungiert, versucht Hektik so gut es geht zu vermeiden. Die Arbeitenden bilden bei ihr eine Solidargemeinschaft, die sich trotz Stückakkord gegenseitig auch aushilft. Sie selbst beweist es in einem Schlüsselmoment des Romans. Als sich ein Kontrolleur erkundigt, wer unter der Nummer 41 Erdbeeren mit Dellen abgeliefert habe, meldet sich Daria anstelle der Erzählerin. Der bewährten Pflückerin wird nicht geglaubt, aber sie insistiert: „Doch! Wirklich ich war es (…) Ich habe heute morgen die Nummern verwechselt“. Solidarität ist für Daria selbstverständlich. Sie bestätigt es in einer zweiten Szene. Auf dem Betrieb kursiert eine „schwarze Liste“ mit den Namen jener, die mangelhaft arbeiten. Als Gruppenleiterin entscheidet Daria, „alle einmal auf die Liste zu setzen und die Schuld so auf alle zu verteilen“. Als eine verlässliche Arbeiterin protestiert, hält sie ihr entgegen, dass ihr System gerecht und so allen gedient sei, weil es trotzdem eine Kontrolle gebe. Die Logik dahinter mag nicht allen einleuchten, doch Daria geht es um das Miteinander. Diese Haltung färbt auf die ganze Geschichte ab, die Lorena Simmel erzählt. Ferymont ist ein wundersames Debüt, in dem nichts Spektakuläres geschieht. Die Erzählerin hält ihr Tageswerk fest, achtet auf ihre Arbeitskolleginnen und nimmt zurückhaltend Anteil an deren Leben. Die körperliche Anstrengung und die problematischen Arbeitsbedingungen werden nicht verheimlicht, sie bilden aber auch keinen Anlass für Konflikte und Aufbegehren. Der eine Arbeitgeber wirkt trotz allem sympathisch und etwas scheu, ein anderer gibt sich mürrisch, erkundigt sich aber gerne nach den Lebensumständen seiner Angestellten. Zudem ist bei ihm der Stundenlohn höher. Auch sie sind nur Teil der brutalen Handelskette, wenn beispielsweise ein Supermarkt eine große Spontanbestellung subito geliefert haben will.
Die Autorin lässt das anklingen, nimmt aber Partei für jene wie Daria, die froh um diese Arbeit sind und sich mit den Gegebenheiten arrangiert haben. Sie haben alle ein zweites Leben, zuhause wartet meist eine Familie, die das Geld benötigt, und oft ein zweiter Job für den Winter. Daria beispielsweise arbeitet in Moldawien halbjährlich als Gerichtsvollzieherin. Über den Skandal solcher Ungleichheiten helfen die kleinen Gesten der Hilfe und Solidarität hinweg, die für Daria selbstverständlich sind. Die Erzählerin schließt mir ihr Freundschaft, sie nimmt sie mit zum Curlingspiel mit der Tante. Auch zu Konrad, Weronika oder Darek findet sie freundschaftlichen Zugang. Gemeinsam ernten sie im Lauf der Monate Spargeln, pflücken Beeren oder bringen Tabak ein. Am Sonntag verrichten sie Hausarbeit und ruhen sich aus oder treffen sich zum Geplauder, um am Montag früh wieder für die Feldarbeit bereit zu sein. Die Erzählerin fügt sich in diesen Kreislauf ein, nur hin und wieder bricht sie aus, beispielsweise an die Universität. Vielleicht ist es genau dies, das ihr Zurückhaltung auferlegt. Sie bleibt eine von außen, ihre Freundschaften bewahren daher einen Anflug von Schüchternheit und Diskretion – es sind Freundschaften für einen Sommer.
Lorena Simmel kennt die Gegend um das Städtchen Ferymont, das in Wirklichkeit Ins heisst. Was sich hier jeden Sommer abspielt, erzählt sie ohne sezierende Schärfe. Sie beobachtet und beschreibt mit ruhiger Gelassenheit, wie die Erntehelfenden sich in der Fremde einrichten. Die Tage sind lang, der Stückakkord hart und mitunter von maschinenhafter Effizienz, wenn eine Tausendzahl von flatternden Hühnern in einen Lastwagen verfrachtet werden muss – für 50 Franken die Stunde. Das mag verharmlosend klingen, doch der Autorin scheint es um etwas anderes zu gehen. Sie zeichnet das Bild einer Arbeitsgemeinschaft auf Zeit, in der sich alle um eine gute Atmosphäre bemühen, gemäß ihren Bedürfnissen. Vertrauen ist dabei nicht das Resultat von persönlicher Innigkeit, sondern von Rücksicht und Anteilnahme. Für unnötige Erregung hat es keinen Platz. Daran verändert auch der tragische Tod von Daria nichts. Sie verstirbt in einem stickigen Tunnel an einem Herz-Kreislauf-Versagen. Sie wollte unbedingt noch eine Schicht anhängen. Selbst diese tief betrauerte Katastrophe wird nicht laut vernehmlich den Arbeitsverhältnissen angelastet. Sie ist Teil eines Laufs der Dinge, der mal Glück, mal Unglück bereit hält. Nur die Erzählerin sieht die Arbeit und ebenso die heimische Landschaft mit neuen Augen.
Was immer geschieht, die Menschlichkeit behauptet hier ihren Wert. Diese Einsicht hält Lorena Simmels Roman bereit. Die Erzählerin schaut auf die kleinen Gesten und Handreichungen der Menschen bei ihrer Arbeit. Als Kontrapunkt hebt sie zwischendurch den Blick und lässt ihn in die Weite des Seelands schweifen, um ihn neu zu justieren. In diesem Zusammenspiel bewahrt das Buch jederzeit eine subtile Spannung und behutsame Stimmigkeit.
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