Besucher im eigenen Leben

Die Fauser-Biographie von Matthias Penzel und Ambros Waibel schafft eine sehr gute Balance von Nähe und Distanz

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich kam für Jörg Fauser zu spät. Ich erlebte ihn aus dem Augenwinkel, in Klagenfurt am Rande der Tage für die deutschsprachige Literatur, mit Ralf Thenior zusammenstehend. Als er mir wieder in den Sinn kam, Jahre später, und ich sein Leser wurde, war er schon lange tot. 1990 las ich mich durch die erste Werkausgabe, 1993 erschienen die Briefe an die Eltern, 2004 die erste Biographie, die zugleich als faszinierende Mediengeschichte der ‚alten‘ Bundesrepublik angelegt war. Das rührte daher, dass die Publikations- und Wirkungsgeschichte Jörg Fausers viel mit besonderen Verlags- und Vertriebskonstellationen zu tun hatte. Dafür standen namhafte Persönlichkeiten wie Hans Magnus Enzensberger, Lutz Reinecke (verheirateter Kroth) oder Axel Matthes. Nicht wenige Förderer und Wegbegleiter sind noch heute tätig und als Zeitzeugen gefragt, darunter Klaus Bädekerl, Dorothea Rein oder Rainer Weiss. Enge Freunde Fausers, die mit ihm umfangreiche Briefwechsel unterhielten, darunter Jürgen Ploog und Carl Weissner, liefern und lieferten wichtige Bausteine zu einer – nun entschieden erweiterten und umsichtig recherchierten – Biographie. Sie hat, wie auch Fausers Œuvre, eine neue Heimat im Diogenes Verlag gefunden.

In welchem Sinne war Fauser „Rebell“, und was verstand er unter dem „Cola-Hinterland“?

Fauser unterschied „Rebell“ und „Revolutionär“: Der Revolutionär wünscht sich eine neue Welt, der Rebell rebelliert gegen die alte, ohne sie abschaffen zu wollen. Er ist der Konservativere von beiden, der Vernünftigere auch. (Den Wechselbalg der „Konservativen Revolution“ à la Armin Mohler diskutierte Fauser nicht – er wäre eine Überlegung wert.) Und das „Cola-Hinterland“ wäre demnach vielleicht die Bundesrepublik Deutschland als nachgelagertes Einzugsgebiet der USA? (Ich weiß es auch nicht, ich habe Jürgen Ploogs Broschüre von 1969, auf die der Terminus zurückgeht, nicht gelesen.)

Manches spricht dafür, dass Fauser ein politisches Profil entwickelte und ein Rollenideal zu leben suchte, das sich schlecht auf einen Nenner bringen ließ. So war er augenscheinlich ein hocheffizienter Journalist und Redakteur mit Distanz zum ‚linken‘ Mainstream, dessen exzessive Arbeitswut plötzlich in völlige Lethargie und Depression umschlagen konnte. Eine Ferndiagnose ex post verbietet sich hier, schon aus mangelnder Kompetenz für eine Ätiologie des Genialischen. Dennoch erinnert mich dieses Momentum dezisionistischer Wechselstimmungen an das alte Bild des Melancholikers, der über ein tiefes, ernstes, originelles Gemüt verfügt, im nächsten Augenblick in heitere Raserei verfällt und exzessive Runden der Selbstgefährdung dreht. E. T. A. Hoffmann ist das klassisch-romantische Beispiel für diesen Typus: ungeheuer begabt, ungeheuer labil, ungeheuer produktiv. Ähnlich wie Fauser wurde auch Hoffmann nicht alt – beider Leben glich, teilweise, dem sprichwörtlichen „Tanz auf dem Vulkan“ (Narcisse-Achille de Salvandy), der alle Lebenskraft vorschnell verzehrte; beider Ordnungsvorstellungen glichen, teilweise, aber auch der behaglichen bürgerlichen Sekurität, in der man – über die Maßen gut – funktionierte und seine Pflicht erfüllte: Hoffmann als begabter, unerschrockener Jurist, Fauser als effizienter, umsichtiger Medienschaffender. Doch genug des Hoffmann-Vergleichs!

In seinen schemenhaften Konturen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ähnelt Fauser in etwa Woody Allens Filmfigur Zelig: Kaum ein damaliger Akteur mag sich an ihn erinnern, und die „Nichtwahrnehmung seiner Präsenz“ seitens der „sich richtig und wichtig Fühlenden“ wirkt nachgerade „gespenstisch“. Mit der Studentenrevolte als der akademischen Opposition mochte er sich ohnehin nicht anfreunden – in Anspielung auf den verehrten Joseph Roth sagt er: „Man kann eben nicht Hiob schreiben und dann mit den ‚Linken‘ paktieren.“ Als angehender Schriftsteller suchte er sich ein Kultur-, kein Subkultur-Mandat, auch wenn er sich an literarischen Underdogs wie Charles Bukowski oder William S. Burroughs orientierte: Denn im Unterschied zur Frankfurter Hausbesetzerszene waren diese Autoren unter Einsatz ihres Lebens poetisch produktiv. Hans Fallada, ihr vielleicht wichtigster historischer Repräsentant, wird Pate seiner Kunstfigur Harry Gelb, und seine Biographen urteilen:

Schreiben statt sterben: Für Leute, die ein paar Erfahrungen mit dem Tod auf Raten gemacht haben, ist und bleibt Die Harry Gelb Story Fausers bestes und wahrhaftigstes Buch.

Die materialreiche Sondierung von Matthias Penzel (Jahrgang 1966) und Ambros Waibel (Jahrgang 1968) folgt den Spuren Jörg Fausers umsichtig und gewitzt und produziert schöne Bilder, die den Autor poetisch, politisch und weltanschaulich positionieren – beispielsweise sprechen sie vom „grünen Sack“ (einer Regierungsbeteiligung unter Joschka Fischer), in den sich „allerlei Katzen stecken ließen“ (das Verständnis liefert der Zusammenhang). Ihre langjährige Recherche unter Zeitzeugen fragt nach dem Leben als „Rohstoff“ für die Fiktion, die in autornahen Romanen und Erzählungen, Essays und Gedichten ein facettiertes Alter ego erschuf: jene typische Fauser-Imago, die „hart am Leben“ gearbeitet und versucht war, jeglichen Kunstverdacht sofort zu zerstreuen. Nahezu alle Bücher, Gedichte, Porträts, die Fauser vorgelegt hat, wirken authentisch, direkt und unverstellt, wirken „erlebt“. Wie leicht oder wie schwer dieser Eindruck der Leichtigkeit und Lebendigkeit erkämpft war, weiß man nicht. Penzel und Waibel arbeiten jedenfalls einen höchst reflektierten Autor heraus, der alles andere als leichtfertig war, sondern konservativ und überlegsam auch in seinem Leistungsethos.

Der Solitär, der die „deutsche Kulturbuchbranche“ ebenso ablehnt wie sie ihn, der sich als „Poeten-Prol“ bezeichnet, gilt manchem als „links“ und manchem als „rechts“. Bekannte sehen ihn auf „sozialdemokratischem Kurs“, Freunde eher als Konservativen. Er wird Mitglied der SPD, und 1982 verteidigt er Ernst Jünger, als dieser sich in Frankfurt einer Meute von „Anbräunern“ ausgesetzt sieht („Autor und Autorschaft“). Über den Wirbel um den Goethepreis an Jünger und Fausers „Jʼaccuse“ im Berliner „Tip“ wird hier ausführlich berichtet. Zwei Zeitzeugen, Karl Günther Hufnagel und Aurel Schmidt, berichten, Fauser habe sich im Freundeskreis als „rechter Anarchist“ tituliert. Ernst Jünger hätte da vielleicht einen passenderen Stempel anzubieten gehabt: er sah sich als Anarch, der um Selbstbeherrschung bemüht sei, wohingegen der Monarch Fremdherrschaft ausüben und der Anarchist Herrschaft überhaupt zerstören wolle. Jedenfalls wollte Fauser eine ‚linke‘ Hegemonie der Kulturschickeria über den Literaturbetrieb nicht hinnehmen, und auch die heutige Sprach- und Gesinnungspolitik hätte er vehement zurückgewiesen. Seine Darstellung von Frauen wird sehr unterschiedlich wahrgenommen: Frauen selbst interpretieren ihn teils als „latent misogyn“ (Christiane Rösinger), als „hardboiled Macho“, teils als „zarte[n] Mann“ (Ina Hartwig), der ungeachtet der zu bedienenden Genre-Regeln „überwältigende“ Texte über Frauen verfasst habe. Verstehe einer die Frauen: Gabriele, Mutter von zwei Söhnen, geschieden, zeigte sich angefixt von dem Typen, sprach ihn an – und ehelichte ihn.

Eingangs zünden die beiden Biographen ein Feuerwerk widersprüchlichster Zuordnungen, die belegen, dass ihr Autor für viele (und viele andere) eine wichtige Projektionsfigur gewesen sein muss. Man gewinnt hier einen sehr guten Eindruck von der Stringenz gängiger Stereotype und Passepartouts – sie eignen sich irgendwie alle und greifen dennoch vielfach zu kurz: Anlass genug, dieser komplexen Persönlichkeit auf den Grund zu gehen. Das bedeutende Elternhaus – der Vater Maler, die Mutter Schauspielerin – führt uns in das westdeutsche Frankfurt der Kriegs- und Nachkriegszeit. Das Auskommen ist nicht üppig, aber die kleine Familie lebt genügsam und kommt über die Runden. Arthur Fauser (1911–1990) beteiligt sich oft an Ausstellungen, verkauft aber wenig; er wird seinen Sohn überleben und einen späten Bilderzyklus „Jörgs Tod“ schaffen. Maria Fauser (1916–2007) war die wohl bekannteste Stimme des hessischen Frauenfunks und die Ernährerin der Familie.

Diese Biographie trifft freilich auch sozialpolitische Aussagen, die heikel wirken – und nicht immer ist klar, aus wessen Perspektive da gesprochen wird: geben Penzel/Waibel ihre eigene Meinung wieder und referieren sie eine Haltung von Fauser, Ploog, Weissner und Co.? Ein Beispiel:

Das Kriminalisieren von Drogenkonsum, andererseits bei Gewalt und Verbrechen mildernde Umstände für alkoholisierte Täter, ist inkonsequent. Der Kampf gegen den Drogenhandel stärkt seit jeher den Überwachungs-, nebenbei den Repressionsapparat der Industrienationen.

Solche Aussagen sind allzu simple Gleichungen für eine Problematik von gesamtgesellschaftlichem Rang. Doch bleibt die Biographie dabei nicht stehen, sondern fächert die Problematik weiter auf. Wertvoll sind die Zeitzeugengespräche, die über zwanzig Jahre geführt wurden und die hier eingeflossen sind, auch mit Ärzten beispielsweise, die Fausers Expertise in Suchtfragen für eigene Therapiezwecke nutzten. Die longue durée der Sondierungen trägt zur Solidität dieser Fauser-Biographie bei, die eine völlige Neufassung und Umarbeitung eines ersten Versuchs (unter gleichem Titel) aus dem Jahr 2004 darstellt. Hier werden markante Stimmungslagen vor allem der sechziger, siebziger und achtziger Jahre eingefangen und zu einem repräsentativen Zeitkolorit ausgemalt. Beachtlich ist auch der Fundus der ausgewerteten Literatur, auf die man stößt, auf nachgelassene Autobiographien, Briefwechsel, Fanzines, Verlagsgeschichten.

Doch wie bedeutsam war Fausers Frühwerk wirklich? Bisweilen gewinnt man den Eindruck, als ob hier viel Energie in resonanzlose Publikationen gesteckt worden sei, die kaum das Niveau von Bierzeitungen erreichten. Sie hießen „UFO“ oder „Gasolin 23“ und brachten auch finanziell nichts ein (sondern verursachen Kosten), und sie entwickelten kein programmatisches Konzept, das einigermaßen griffig oder innovativ gewesen wäre: „New Realism“, so verstand Fauser sein Ziel, „weg von ästhetischem Gelaber und theoretischem Gefasel, abstrakten Positionen, Daseins-Berichten.“ Aber „die Realität selber“ war auch schon Programm der AutorenEdition (um Uwe Friesel, Richard Hey, Hannelies Taschau und Uwe Timm), und das belegt, wie beliebig solches Labeling war (und vermutlich immer noch ist).

In seinen Anfängen liegt ihm (und liebt er) das „Crossover aus unterschiedlichen Gattungen und Darstellungsformen“, etwas, das „in der Musik ein Medley wäre“ – beziehungsweise ein „Genremix weit weg von der klassischen Shortstory“. Und dankenswerterweise ist der Biographie von Penzel/Waibel ein Namensregister beigegeben, „die Königsdisziplin allen Edierens“, wie Tech-Erfinder Donald E. Knuth sagen würde, die man am besten „händisch“ bewältigt. Hier werden etliche Namen, die wichtig waren für den Fauser-Kosmos und die im Haupttext natürlich auch fallen, ins Verzeichnis nicht übernommen, darunter Romuald Karmakar, Dagobert Lindlau und Ralf Thenior. Ein System ist nicht erkennbar: Elmore Leonard wird erfasst, Rudolf Walter Leonhardt nicht; Gottfried Benn wird erfasst, Knut Hamsun nicht, obwohl sie im selben Atemzug genannt werden; Gleiches gilt für Leonard Cohen und Lou Reed, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque. Auch Joseph Roth bekommt seinen Eintrag, Patrick Roth wiederum nicht. Andere Namen sind auch teilweise unvollständig oder falsch wiedergegeben (darunter Walther Killy, Hans Christian Kosler, Rudolf Walter Leonhardt), aber man findet sich zurecht, sobald man begriffen hat, dass Brigitte Hirschfeld eine geborene Schönberg ist. Der wertvolle Anhang bietet unterstützend und orientierend eine Zeittafel, zahllose Nachweise in Gestalt von Anmerkungen, eine Auswahl-Bibliographie, jedoch keine Bibliographie wichtiger Sekundärliteratur (um die es ohnehin dürftig bestellt sein dürfte).

Bisweilen verfallen Fausers Exegeten ins Erzählen à la Fauser: Die Fightnight Muhammed Ali/George Foreman wäre ein Beispiel dafür, wie hier süffig und spannend reportiert wird. Es gibt folglich einen Fauser-Sound, der sich seinen Lesern so unwiderstehlich vermittelt, dass sie gar nicht umhin können, sich seiner zu bedienen. Dann und wann werden Penzel und Waibel auch unhistorisch, wenn etwa vom Laptop oder vom Internet die Rede ist, das die Privatsender ruiniere – von beidem kann vor dem Hintergrund der hier nachzuzeichnenden Lebenslinie noch nicht wirklich die Rede sein. Treffsicher hingegen wird die stilistische Entwicklung Fausers eingefangen und resümiert: „erst Mosaik oder Cut-up, dann Absicherung durch Kollaboration […], dann Hommage, letztendlich Storytelling mit naturalistischen Elementen.“ Insgesamt wird damit eine sehr gute Balance von Nähe und Distanz erreicht. Chapeau!

Titelbild

Matthias Penzel / Ambros Waibel: Rebell im Cola-Hinterland. Jörg Fauser. Die Biografie.
Diogenes Verlag, Zürich 2024.
640 Seiten, 27,99 EUR.
ISBN-13: 9783257614756

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Titelbild

Matthias Penzel / Ambros Waibel: Rebell im Cola-Hinterland. Jörg Fauser – Eine Biographie.
edition TIAMAT, Berlin 2004.
288 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3893200762
ISBN-13: 9783893200764

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