Gefühle in Gläsern und Menschen an Mauern

In „Mädchen zwischen den Zeilen“ erzählt Sylvia Krupicka von einer belasteten Kindheit in Ostberlin

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich habe vor meinen Eltern Angst. Beide zusammen sind in der Lage, mein Leben auszulöschen. Ich bin in ihren Augen nur zugelassen, weil ich mir das Leben mit ihnen hart erarbeite.“ Solche oder ähnliche Schreckenssätze notiert die 13-jährige Simone, autodiegetische Erzählerin, entweder in ihrem Tagebuch oder auf kleinen Zettelchen, die sie danach versteckt. Mit ihren Eltern und ihrem vierjährigen Bruder Roman, genannt Römi, wohnt sie in einer standardisierten Plattenbauwohnung direkt an der Berliner Mauer. Täglich holt sie ihren Bruder vom Kindergarten ab, entsorgt den Müll und erledigt Einkäufe. Nur mit dem strikten Befolgen dieser Anforderungen lässt sich die dauerhafte Gereiztheit der Eltern ertragen. Kommt Simone den Aufgaben einmal nicht nach, ziehen häusliche „Gewitterwolken“ auf.

Zu Beginn der Sommerferien 1973 ist Simone in den vier Jahre älteren Mario verliebt. Dieser hat mit seinem Freund René in der sogenannten Pause, einem kleinen Bereich zwischen einem Holzzaun und dem Drahtzaun vor dem Wachturm der Grenzpolizei, eine Höhle gebaut. Zwei „Vopos“, konkret „Abschnittsbevollmächtigte“, zerstören sie und räuchern sie aus, weil es sich ja um einen Fluchttunnel handeln könne.

Wenig später wundert sich Simone darüber, dass Frau Schultz, eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, der sie manchmal im Haushalt hilft, überall in der Wohnung Pferdebilder hängen hat. Es stellt sich heraus, dass Renés Vater, ein Maler, einen Ausreiseantrag gestellt hat, seine Bilder aber nicht exportiert werden dürfen. Frau Schultz, die als Rentnerin zwischen Ost und West hin- und herreisen darf, wird sie nach und nach über die Mauer schmuggeln.

Nachdem Simone einen ersten verhaltenen Kuss mit Mario ausgetauscht hat, gesteht sie den Eltern, dass sie mit ihm allein unterwegs war. Dies sei „nuttig“ – so die Mutter und schneidet Simone nicht nur, so wie kurz vor dem Urlaub vorgesehen, die Haare etwas kürzer, sondern gleich den ganzen Zopf ab.

Während des Aufenthalts im FDGB-Ferienheim streiten sich die Eltern unablässig und Simone wird krank. Wieder zuhause angekommen, leidet sie immer noch unter Fieberschüben. Eines Morgens kann sie nicht mehr lachen, weil eine Hälfte ihres Gesichts gelähmt ist. Auf die Diagnose Fazialisparese folgt ein längerer Krankenhausaufenthalt.

Zu Simones großem Bedauern bleibt Frau Schultz im Westen.

All die kleinen Elemente und Episoden, versammelt in Kapiteln, die wiederum in zwei Teilen angeordnet sind, fügen sich zu einer Art Milieustudie, zu einem Tableau vom Ostberlin der 1970er Jahre, wo Jugendliche, so wie im Westen und so wie Edgar Wibeau aus Plenzdorfs neuen Leiden des jungen Werthers, es vormacht, Jeans von Levis „hypen“ und wo sie im ganz wörtlichen Sinn immer wieder an Grenzen stoßen.

Leider ist ein gut konstruierter Plot und eine sich davon ausbreitende Spannung in diesem Setting weitestgehend zu vermissen, was kaum verwundert, weil der Titel des schmalen Romans unmissverständlich indiziert, wo sich die eigentliche Botschaft verbirgt.

Sich auf das „Mädchen zwischen den Zeilen“ und damit auf alles Subliminale, Mitschwingende, einzulassen, ist zu Beginn ein mühseliges Unterfangen, denn genau dann, wenn der Text eine Sogwirkung entfalten sollte, geben sich die meist parataktischen Sätze sehr hölzern, fassadär, kalt und abwehrend – so, als ob sie sich sträubten und partout nicht gelesen werden wollten. Doch die Hartnäckigkeit lohnt sich, denn die Geschichte entpuppt sich als „Grower“. In ihrem Verlauf gewinnt sie einiges an Attraktivität und Schärfe.

Während manche Bilder gerade am Anfang sehr bemüht wirken – zum Beispiel „Heute ist leider solch ein Tag, an dem ihre Gewitterwolkengedanken durch die Wohnung ziehen“ und „eine Stimmung so dick, dass man sie scheibchenweise aus dem Fenster werfen sollte“ –, lockert sie sich später in kleinen Parzellen mit hoher atmosphärischer Dichte auf. Sie haben das Zeug zu Prosagedichten und sind mit den Kurz- und Kürzestgeschichten von Peter Bichsel oder Gabriele Wohmann in eine Reihe zu stellen.

Als „Steingefühle“ klassifiziert die Protagonistin all jene Gefühle, die sie quasi verfestigt, auf Notizpapier in einer Briefkassette, Gläsern oder Walnussschalen wegschließt oder so lange in sich selbst einsperrt, bis ein Auslöser sie in Windgefühle verwandelt – explosiv und kraftvoll, in fulminanten und destruktiven Wogen, sich ein Ventil suchend, das eine Teetasse sein kann, deren Inhalt einmal im Gesicht des kleinen Bruders landet. Bevor Simone in diesem Fall ihre Gefühle entlässt, erzählt sie beim Abendessen von ihrem Verdacht, dass jemand nachts in ihrem Zimmer gewesen sei. Das, was wenig später sehr eindringlich als etwas, was als „dunkler Schatten aller Dinge“ auf ihren Brustkorb drückt, geschildert wird, etwas Unbegreifliches, ein Eisen, das sich in ihrem Mund ausbreite und hart werde, „wie beim König Midas, der den Mund voller Gold hatte“, konkretisiert sich fast zur Gewissheit, als sie, allein mit dem Vater im Zimmer des Ferienheims, von ihm zum Mittagsschlaf aufgefordert wird und sie plötzlich einen Mann mit „vorne gewölbter Hose“ vor sich sieht. Sie träumt von Römi und Frau Schultz. Aufstehen möchte sie, aber es funktioniert nicht. Am nächsten Tag hat sie hohes Fieber.

„Eine schwarze Sonne schickt schwarze Strahlen auf die Erde“ – so Simones Fazit für die Zeit im Ferienheim. Im August habe die schwarze Sonne geschienen, doch nur sie allein habe es gemerkt. Nicht die kreativitätsfördernde schwarze Sonne der Melancholie ist es, sondern eine, deren Strahlen vernichten und das mit Worten Unsagbare mit dem Medium des Körpers kodieren. Die Fazialisparese ist zu definieren als nonverbale Sprache des Traumas, als Signum einer Posttraumatischen Belastungsstörung, was den zumindest passageren Vorteil hat, dass die Gefühle in Gläsern belassen werden können.

Simones Mutter schaut weg, lenkt ab und richtet sich in ihrem alltäglichen Trott ein. Nur Frau Schultz, die über alles Bescheid zu wissen scheint, traut sich, den Vater mit Simones Krankheit zu konfrontieren. Er reagiert mit einem Wutanfall. Wie schwach die Mutter ist, zeigt sich auch darin, dass sie – so wie der Vater – eine psychotherapeutische Begleitung für ihre Tochter mit Vehemenz ablehnt.

Was nach all den ver- und zerstörenden Erlebnissen mit Simone passieren wird, bleibt offen. Zwei kleine Hoffnungsperspektiven eröffnen sich ihr: als nah am Grenzstreifen ein Schulgarten angelegt werden soll, fragt sie ein Lehrer, ob sie die Leitung der Garten-AG übernehmen wolle. Neben dieser Möglichkeit, sich auszudrücken, zählt sie auf ein Wiedersehen mit Mario und darauf, dass er sie trotz ihrer nach wie vor verzerrten Gesichtszüge akzeptieren werde.

Abgesehen von der Protagonistin, mangelt es den meisten von Krupickas Charakteren an Plastizität. Der biografische Hintergrund der Eltern ploppt nur holzschnittartig auf – sie seien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges aus Polen geflüchtet und schließlich in Berlin geblieben. Die Figuren aus dem Freundeskreis werden nicht ausgestaltet. Sehr erfrischend wirkt indessen Römi mit seinen spontanen Kommentaren, die demonstrieren, wie weit seine kognitive Entwicklung vorangeschritten ist. Nervig nur, dass ihm andauernd falsche Partizipien untergeschoben werden, die seine sonstige Pfiffigkeit etwas unterminieren. Vielleicht hat es die Autorin aber ganz bewusst als Diskrepanz konzipiert.

Aus dem Reigen der Charaktere erhebt sich Frau Schultz eindeutig als Sympathieträgerin – sie, die als unbedarft-gemütliche Großmutter präsentiert wird, legt allmählich ihre Gewieftheit offen. Sie fürchtet sich nicht davor, unter ihrem weiten Mantel Kunstwerke in den Westen zu schmuggeln. Vor allem jedoch fungiert sie als Spiritus Rector für Simone. Sie weiß, was mit dem Mädchen los ist, denn sie ist in der Lage, minutiös und empathisch zu beobachten.

Letztendlich lässt sich Mädchen zwischen den Zeilen in dem breiten Spektrum zwischen Fallgeschichte und Roman positionieren. Obwohl einige Passagen ziseliert und elaboriert erscheinen und obwohl Story und Stil im zweiten Teil unzweifelhaft an Fahrt aufnehmen, bleibt immer etwas Unbearbeitetes bestehen. Einerseits. Andererseits weist dieses Gestalt-Element eine perfekte Passung zum Gehalt auf.

Krupicka hat ein Beispiel für Narrativität in einem Zwischenraum konstruiert, auszuloten zwischen Literarizität und Kasuistik. Mit letzterer gehen die Fußnoten mit Worterklärungen konform, die in einem Roman, falls man in Zeiten der Suchmaschinen überhaupt dafür optiert, allenfalls hätten ans Ende platziert werden sollen. Sie sind ein Fremdkörper und werfen zudem Fragen auf: warum sind „Sammeltassen“ und „Büffet“ mit Anmerkungen versehen, nicht jedoch FGDB-Ferienheim oder König Midas?

Dessen ungeachtet, wirken die anfänglichen Bemühungen der jungen Protagonistin, mit ihrer Gefühlswelt umzugehen, genauso überzeugend wie die nachfolgende physische Reaktion auf die ihr widerfahrene sexuelle Gewalt.

Titelbild

Sylvia Krupicka: Mädchen zwischen den Zeilen. Roman.
Periplaneta, Berlin 2024.
148 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-13: 9783959962728

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