Sonnenmännchen und Mondfrau weisen den Weg
Marcel Hegetschweiler lässt einen Manager auf einer „Gratwanderung“ zu sich selbst finden
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Debüterzählung Gratwanderung des Schweizers Marcel Hagetschweiler handelt vom Manager Albers Wendo. Der Name ist geschickt erfunden, weil offen bleibt, aus welchem Heimatland der einsame Held in welches Nachbarland gegangen ist, um einen wichtigen Auftrag für eine Firma an Land zu ziehen. Der Coup gelingt ihm, jedoch wurden erfahrene Mitarbeiter nicht in die Entscheidungen einbezogen, woraufhin drei von ihnen kündigen. Um seinen für sicher gehaltenen Aufstieg an die Konzernspitze nicht zu gefährden, muss Albers nun Führungsstärke beweisen.
Muss er das wirklich? Vorfälle und Begegnungen auf einer Gratwanderung bringen ihn nicht nur körperlich ins Rutschen, sondern stellen seine Lebensführung infrage. Den Hausberg seiner neuen Heimat hat er noch nie bestiegen, obwohl er doch früher Bergführer werden wollte, ehe Wirtschaftsführer das Richtige für ihn zu sein schien. Nun holt er den Aufstieg nach, und die Bergwelt wird so treffsicher geschildert wie das Innenleben des Helden. Der gerät ins Straucheln, doch ein Fels bremst seinen Sturz. Für seine Rettung bedankt er sich bei ihm und nicht bei einer höheren Macht.
Man grübelt und bangt mit dem Helden, auch wenn kopflastig wirkt, dass er auch noch über den „Aufgang des Alls bis zu seinem Untergang“ oder die Geschichte der Astronomie nachdenkt. Wer beim Lesen gern eigene Schlüsse zieht, verübelt dem Autor vielleicht die Diagnose, dass Albers „die Deutungshoheit über die Geschehnisse in seinem Leben verloren“ hat.
Hegetschweiler überrascht mit Wortfindungen, die mal mehr („Gedankenhitze“, „Gedankenzähmung“, „Herzuhr“, „Seelenzeit“, „zieltrunken“), mal weniger („glücksgehärtet“, „zielgetränkt“) überzeugen. Der Autor zeichnet zuweilen auch die Seele seines Helden als Landschaft, was zu der Formulierung „Quellgrund seines Bewusstseins“ führt. Das Adjektiv „zeitgeizig“ kennzeichnet den Appell von Marcel Hegetschweiler, mit seiner Lebenszeit in dem Sinn zu geizen, dass man keinen falschen Zielen nachläuft.
Albers begegnet am rettenden Felsen einem Männlein, das viel über die Sonne weiß und sie von den Menschen unzureichend gewürdigt findet. Das beredte Kerlchen verschwindet alsbald. Lange nach überstandener Gefahr trifft Albers ein Kräuterweib, das vom Mond schwärmt. Diese „Mondfrau“ namens Aylin und das „Sonnenmännchen“ laden ihn zu einem Fest zu Ehren der Mondgöttin Selene ein. Dort wird ihm der Wert menschlicher Gemeinschaft bewusst. Am Schluss findet Albers seinen inneren Frieden.
Hin und wieder hat man beim Lesen seine Schwierigkeiten mit dem übervollen Kopf des Helden und mit den eher typischen als einmaligen Managerproblemen. Doch das Umdenken in Richtung gemeinschaftlichen Strebens als Sinn des Lebens, im guten Wortsinn einer „Seilschaft“, und damit die alsbaldige Überwindung der Einsamkeit des Albers Wendo wird in diesem gelungenen Debüt überzeugend dargestellt.
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