Wie viele Leben passen in ein Buch?
Matt Haig skizziert in „Die Mitternachtsbibliothek“ alternative Lebenswege
Von Jan Stracke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNora Seed, Protagonistin in Matt Haigs Roman Die Mitternachtsbibliothek, muss im Eiltempo Schicksalsschläge erleiden. Sie beschließt, sich das Leben zu nehmen und findet sich im Jenseits in einer Bibliothek wieder, welche ihr einst als Rückzugsort gedient hatte. Die Besonderheit: Alle Uhren bleiben auf 12 Uhr um Mitternacht stehen. Schnell wird deutlich, dass dieser Stillstand für Noras Schweben zwischen Leben und Tod steht.
Angeleitet von einer altbekannten Bibliothekarin erhält Nora die Möglichkeit, andere Versionen ihres Lebens zu durchleben. In der Mitternachtsbibliothek stehen Nora nämlich unzählige Bücher zur Verfügung, die alternative Versionen ihres Lebens aufzeigen. Allerdings nur, solange die Uhren auf 12 Uhr stehen, da ein Weiterlaufen der Zeit ihren endgültigen Tod bedeuten würde. Alle Erfahrungen, die Nora in den verschiedenen imaginierten Leben macht, dienen als Lektion, um die Entscheidung für den Freitod ausführlich zu überdenken. Bis zum Ende wird offengehalten, ob es Nora gelingt, neuen Lebenswillen zu fassen.
Die Leserinnen und Leser werden dabei an interessante Orte geführt. Die Figuren, die Nora trifft, sind ansprechend gestaltet. So begegnet Nora unter anderem Polarforscherinnen, die ihr Leben für die Wissenschaft aufs Spiel setzen oder unnahbaren Promis, die von Selbstzweifeln zerfressen sind. Die Figuren wirken positiv oder negativ auf Nora ein – auch, wenn keine Figur durchweg boshaft angelegt ist. So übernimmt zum Beispiel Noras Bruder verschiedene Funktionen. Je nach Szenario wirkt die Beziehung zwischen den beiden mal förderlich, mal hindernd.
Die Protagonistin hat eine Verbindung zur Philosophie und es wird schon früh im Roman ersichtlich, dass der Autor sein Interesse an bekannten Philosophen wie Sokrates oder Henry David Thoreau in den Roman einfließen lassen hat. Der philosophische Einfluss passt dabei stets zu den jeweiligen Geschehnissen im Roman und wirkt nie deplatziert. Die Geschichte wird eng an den Gefühlen der Protagonistin erzählt, welche den Leserinnen und Lesern durch den angenehmen, alltagsnahen Schreibstil vermittelt werden.
Haig schafft es, mit wenigen Worten starke Emotionen und Gedanken hervorzurufen: „Du musst das Leben nicht begreifen. Du musst es nur leben.“ Hinzu kommt, dass der Roman durch eine ausgewogene Mischung an inneren Monologen und wörtlicher Rede überzeugt. Immer wieder bietet Die Mitternachtsbibliothek Gelegenheiten, das eigene Leben zu reflektieren.
Häufig wird unterschwellig Kritik an den sozialen Medien ausgeübt. Die Vermittlung dieser Kritik wirkt dabei allerdings keinesfalls aufdringlich, sondern fungiert viel mehr als Denkanstoß: „Sie ging auf Instagram und sah, dass es allen gelungen war, ihr Leben zu gestalten, außer ihr.“
Ein weiterer zentraler Punkt des Romans ist der Umgang mit Reue. Der Autor versucht zu vermitteln, dass Reue zu Unrecht entstehen und eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln dabei helfen kann, sie loszulassen.
Sabine Hübner leistet mit ihrer Übersetzung des englischen Originals ausgezeichnete Arbeit – es gelingt ihr, die Stimmung und die gute Lesbarkeit des Romans einzufangen. Dabei bleibt Hübner bei der Übersetzung sehr nah am Originaltext und weicht nur auf alternative Formulierungen aus, wenn eine wortwörtliche Übersetzung keinen Sinn ergeben oder unästhetisch wirken würde.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman durch seine kurzen Kapitel und die gute Balance zwischen Beschreibungen und Figureninteraktion für ein sehr leichtes Leseerlebnis sorgt, das zum Abschalten vom Alltag einlädt. Der Roman lässt sich problemlos an einem Stück lesen. Haig schafft mit Die Mitternachtsbibliothek einen aufbauenden Roman, der ein positives Lebensgefühl und einen respektvollen Umgang mit Depressionen vermittelt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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