Da bin ich gewesen, das habe ich erlebt, davon muss ich erzählen

Marianna Hillmer und Johannes Klaus präsentieren lesenswerte „Ehrliche Reisestories“

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie das Impressum verrät, versammelt der Band „die besten Beiträge“ des verlagsseitig veranstalteten „Autor:innenwettbewerbs »Reisedepeschen Field Trip Award 2023«“ – es sind insgesamt 32. Deren Autorinnen und Autoren, zwischen Anfang Zwanzig und jenseits der Siebzig, sind überwiegend allenfalls Insiderkreisen, regional oder aus anderen künstlerischen Zusammenhängen bekannt und meistenteils literarische Dilettanten im allerbesten Sinne des Wortes, im gemeinhin positiven Verständnis des 18. und 19. Jahrhunderts nämlich.

Wer zu dem Buch greift, das insbesondere an Orte Europas und Asiens entführt, aber auch nach Nord-, Mittel- und Südamerika und sowohl nach Spitzbergen als auch in die Drake Passage und nach Tasmanien mitnimmt, sollte sich vor diesem Hintergrund also fragen, was er sucht. Sollte sein Sinn nach hoher erzählerischer Qualität gehen, ist er mit dem Band als Ganzem – Ausnahmen bestätigen die Regel – sicherlich nur bedingt gut bedient. Interessiert er sich hingegen vor allem für Inhaltliches – Geschehnisse, Erlebnisse, Reflexionen und dergleichen mehr –, zumal solches, das mit den Qualitätssiegeln „authentisch“, „besonders“ und „individuell/subjektiv“ versehen ist, dann wird er an dem Band ganz überwiegend seine Freude haben. Dies auch deshalb, weil in der Regel auf einer Beitragslänge von 1,5 Seiten (Detlef Seydel) bis 23 Seiten (Gonca Friedrich) durchaus ansprechend erzählt wird.

Wirklich missfallen hat mir nur der immerhin 21 Seiten lange Beitrag „Goa – Indien“ von Robin Becker, kommt der doch sprachlich arg bemüht und inhaltlich als eine Ansammlung von abgegriffenen Motiven, Plattitüden und Stereotypen daher. Ganz anders hingegen die Beiträge beispielsweise von Nadire Biskin, Katia Sophia Ditzler, Petra Clamer, Manolo Ty, Simone Harre, Anna Wheill, Moritz Detje, Susi Green, Detlef Seydel und Henrik Winterberg. Hier nämlich wird man inhaltlich und zum guten Teil auch literarisch fündig.

Nadire Biskin, 1987 in Berlin-Wedding geboren, ist in verschiedenen Medien vor allem mit journalistischen und essayistischen Texten präsent. 2022 debütierte sie als Schriftstellerin mit dem Roman Ein Spiegel für mein Gegenüber. Ihr hoch reflektierter und bis in die eigene Kindheit zurückgehender Text „Sommerlöcher im Herzen – Türkei“ erzählt von Reisen im wortwörtlichen und im übertragenen Sinne. Zunächst geht es um Jahrzehnte zurückliegende Familienbesuche in der Türkei und die damit verbundenen Überforderungen, um die „Zerrissenheit“ ihrer Eltern und das generationenübergreifende Fremdsein hier wie dort. Dann erzählt der Text von Biskins „Weltenreise“ zwischen Berlin-Wedding und Berlin-Mitte“, als sie als Arbeiterkind an der Humboldt-Universität ein Lehramtstudium mit den Fächern Philosophie und Spanisch aufnimmt, davon, dass und warum sie in dieser Zeit entschieden auf Abstand zur Türkei geht und sich als „rassifizierte Weddingerin“ ein gutes Stück weit aufs „Mitreden- und Mithaltenwollen“ verlegt, obendrein von ihrem Alltagsverhalten (Stichwort: Sparsamkeit), das sich sehr von demjenigen ihrer „weißen Kommiliton*innen aus der oberen Mittelschicht“ (Stichwort: Fernreisen) unterscheidet. Schließlich thematisiert Biskin Schuldgefühle dem viel zu selten besuchten, dem Tod geweihten „Deutschländer-Großvater“ Mehmet gegenüber, dann aberwitzige Projektionen, denen sie als Türkeireisende seitens deutscher „Tourist*innen“ ausgesetzt ist und abschließend einen Strandurlaub in Antalya zusammen mit der Mutter, der von neuen, auf eine radikale Heimatlosigkeit hinauslaufenden Verwerfungen gekennzeichnet ist. 

Bei „Der Palast des … – Hongkong“ der 1992 geborenen Katia Sophia Ditzler handelt es sich um eine ganz anders gelagerte Reisegeschichte. Ditzler, Verfasserin des „multimediale[n] Gedichtbande[s] Lieder der Dreistigkeit (2022) und schon in jungen Jahren auf nach Abenteuer klingenden Reisen unterwegs, trifft nach einer eiligen 5000 Kilometertour durch China per Anhalter am 2. Januar 2013 in Honkong ein, „zwei Stunden bevor mein Visum auslief“. Dort wohnt sie in einem Hochhauskomplex mit Namen Chunking Mansions im Stadtteil Kowloon, einem „Mikrokosmos der Globalisierung“, über den „bereits eine kulturanthropologische Doktorarbeit geschrieben worden“ war und dessen „heilige[] Hallen des ersten und zweiten Stocks“ „25 Prozent aller subsaharischen Mobiltelefone“ schon einmal „passiert“ hatten. „Ich stolperte von Tag zu Tag. Ich war 20. Nichts konnte schief gehen.“ Was dann in den Chunking Mansions passiert? Ditzler lernt eine ganze Reihe verrückter Typen aus der ganzen Welt kennen, erfährt, dass es nichts gibt, „was es nicht gibt“, und dass man in den Mansions „jede absurde oder nicht so absurde Rekombination menschlicher Eigenheiten gewohnt“ war.

Wie Ditzler, ist auch Petra Clamer, Jahrgang 1958, seit den Jugendjahren dem Reisen verfallen, zunächst „Gedankenreisen“ mit „Cook in d[ie] Südsee“, „Marco Polo in China“ und Heinrich Barth in der Sahara, dann Rucksack- und vielleicht auch Kofferreisen durch „über 60 Länder“. In dem nur 4 Seiten langen, salopp und mit eingestandenen Übertreibungen daherkommenden Text „Damals in der Toskana – Italien“ erzählt sie von einer „Zerreißprobe“, zu der das Reisen für ein Paar zu „jeder Jahreszeit“ und an jedem Ort werden kann. In diesem Fall geht es um eine Autoreise, die eines Abends – man hat ein rechtzeitiges Quartiermachen verabsäumt – in eine „Art Kneipe“ im „Irgendwo im dunklen Nirgendwo der Toskana“ führt. Dort erwartet die Beiden überraschenderweise die „[h]öchste Schule der Kochkunst“, was dazu führt, dass sich die bedenklich miese Stimmung des Paares zusehends wandelt: „Während des Desserts werden wir euphorisch. Wir reden wieder. Wir lachen wieder. Warum auch nicht?“

“Der mit „fotografischen Arbeiten […] zwischen Kunst, Dokumentation und Fotojournalismus“ international bekannt gewordene Manolo Ty (Jg. 1985) erzählt in „Leuchtende Erinnerung – Karibisches Meer“ von jener Nacht, in der er sich entschied, sein altes Leben aufzugeben und Fotograf zu werden. Unterwegs in der Karibik auf einem Segelboot, „das der Philosophie des Anarchismus folgte und auf dem die Herrschaft des Menschen über Menschen und überhaupt jede Art von Hierarchie als Form der Einschränkung von Freiheit abgelehnt wurde“, erlebt er ein Naturschauspiel, das einen „Rausch der Sinne“ auslöst. Es gelingt ihm zwar nicht, das Naturschauspiel fotografisch festzuhalten, doch kommt es zu einem unauslöschlichen „Bild, das nur in meiner Erinnerung existiert.“

Die professionelle, u.a. mit zwei Romanen und einem Lyrikband hervorgetretene Schriftstellerin und „Glücksforscherin“ Simone Harre (Jg. 1971) ist im Band mit der informationsreichen Reportage „Fünf Seen und drei Inseln – China“ vertreten. Berichtet wird von einem Ausflug zur „berühmtesten“ Wasserstadt Shanghais Zhujiajiao – die wird ein „kleiner Spiegel“ werden „für so vieles, was es über das Land zu berichten gibt“ –, den sie und ihre Tochter zusammen mit dem Einheimischen Mingyan unternehmen. Der nennt sich Robert, da Deutschland für ihn eine hohe „Anziehungskraft“ hat. Die Reportage fällt ausgesprochen chinakritisch aus: „Wahrheit in China tut weh. Glück ist eine Fassade.“ Kann es da verwundern, dass der Ausflug „nicht meine Suche nach der tieferen Seele und Würde eines alten und vielleicht neuen Chinas“ befriedigt, sondern zu einer ganzen Reihe von Fragen wie „Was wissen wir außerhalb von China, was wissen die Chinesen selbst?“ führt?

Vom Fremdwerden des vermeintlich Vertrauten durch perspektivische Verschiebungen und damit einhergehenden Verunsicherungen, vom Trauma aus Kindheitstagen „Grenze“ und von nachwirkenden historischen Konstellationen und Verwerfungen erzählt die 1951 geborene, in Regen in der Nachbarschaft zu Tschechien lebende Künstlerin, Schriftstellerin, Übersetzerin und Grafikerin Anna Wheill in „Nix Verstehen, ha? – Tschechien“. Dabei beeindrucken nicht nur ihre Naturschilderungen und ihre kompositorischen Fähigkeiten, sondern auch das Zugleich von Geschichtswissen, Sensibilität und Reflexionshöhe. Schreibanlass ist ein vierwöchiger Aufenthalt „als Artist in Residence der Galerie Klatovy“ im nur eine Autostunde von Regen entfernten Klenova. Der führt schon nach wenigen Tagen zu einer „Serie von Schriftbildern SKRIPTURA“, die vor Ort allerdings auf Unverständnis stoßen. Unterm Strich: „Auf dem Zeitstrahl der böhmischen Geschichte befinde ich mich an einem anderen historischen Ort und viele Jahrhunderte von zu Hause entfernt.”

Der als Privatdozent in Indien arbeitende, 1993 geborene Moritz Detje wartet mit „Der Fährmann – Indien“ mit einer meist stakkatoartig, einmal aber auch ‚hyper-hypotaktisch‘ geschriebenen, jedenfalls glänzend erzählten ‚Odyssee‘-Variante auf. Mit Bildungsgut wie Hesses leitmotivisch eingesetzter Erzählung Siddharta angereichert, erinnert diese an jene Albträume, in denen man aufgrund immer neuer Hindernisse ein angestrebtes Ziel partout nicht erreichen kann. Spätabends per Flugzeug in der als mustergültig geltenden indischen Planstadt Chandigarh angekommen, soll es gegen 23:30 Uhr per vorbestelltem Taxi ins 100 Kilometer entfernte Ludhiana gehen, einer Stadt, die „laut WHO auf Platz 13 der am stärksten verschmutzten Städte der Welt“ gilt. So viel sei verraten: Um 3:30 Uhr in der Früh sind es immer noch „gute 90 Minuten bis Ludhiana.“

Wie ist es, wenn man, in Hamburg lebend, den eigenen Vater, einen sein Leben lang reisenden, nun gehbehinderten „»Weltbürger«“ auf dessen Wunsch aus einem Seniorenheim in einem Dorf in seiner neuen Heimat Oklahoma/USA „»entführen«“ will, „in dem man bereits vorhatte, ihn ruhig zu stellen“? Und wie ist es für diesen alten Mann dann, wenn er, nunmehr in Hamburg, keine großen Reisen mehr machen kann, sondern nur noch tägliche Ausfahrten mit dem Rollstuhl in die nähere Umgebung? Davon erzählt der Beitrag „Reiseradius – U.S.A.“ der 1967 geborenen Susi Green eindrucksvoll. Vorweggenommen sei: „Sein täglicher »Reisebericht« heute. Genauso leidenschaftlich geschildert, wie damals die Reiseberichte rund um den Globus.“

Mit einer Pointe wartet der knappe Beitrag „Zur Zeit der großen Furcht – Frankreich“ des emeritierten Hochschullehrers für Mathematik Detlef Seydel auf, der 2014 mit einer Biographie über Josephine Rensch (1881-1973) hervorgetreten ist, der Lebensgefährtin des Verlegers Albert Langen. Bei einer Zwischenlandung in Paris auf einer Reise von Hannover nach Mumbai wird Seydels Handgepäck noch einmal gecheckt. Das enthält verbotenerweise sechs Flaschen Wein, ein Gastgeschenk für seinen „indischen Gastgeber“. Die können nur als verloren gelten – oder? Wenn man es denn nicht mit einem Franzosen als Kontrolleur zu tun hätte.

Schließlich Henrik Winterberg (Jg. 1978), „freier Wissenschaftsjournalist für Bio- und Medizinmagazine“. Er erzählt in „Über uns nur der Himmel – China“ eine Episode aus einer 15 Monate dauernden Reise „über sechs Kontinente zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Jungs“. Geplant ist ein „gemütlicher Familienausflug“ an der Chinesischen Mauer, „ein zwei Treppen ersteigen, vielleicht ein wenig klettern, ein verdientes Picknick“, da soll es gewesen sein. Und ja, die „Jungs“ wollen zwar „auf den höchsten der fünfzehn Wachtürme[]“ vor Ort am Berg Jingui, aber das wird sich schon geben, „wir laufen einfach, bis sie die Lust verlieren.“ Freilich: „In unserem Hochmut übersehen wir die wahre familiäre Schwachstelle – uns Eltern!“ Es bereitet ein hohes Vergnügen zu lesen, wie diese Eltern mit allerletzter Kraft das dreistündige Klettern bewältigen. Ihr Fazit: Wer über Kinder „witzelt, pinkelt gegen den Wind!“ 

Ein abschließendes Wort noch zum Verlag und zum Buch. Der Verlag, der sich „im Bereich bewussten und nachhaltigen Reisens“ positioniert, ist seit 2018 mit mittlerweile gut zwei Dutzend reiseliterarischen Werken und Reisehandbüchern auf dem Markt. Wie das hier zur Rede stehende Buch, sind sie nicht nur alle auf ökologisch wertvollen Papieren gedruckt, sondern auch in besonderer Weise gestaltet. Dazu gehören nicht nur individualisierte, in dieser Weise unübliche Hinweise auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf der Impressumseite, sondern auch die verwendeten Schriftarten, die Gestaltung karthographischer und biographischer Informationen sowie die beigegebenen Illustrationen. Das ergibt unterm Strich, dass man ein auch haptisch überzeugendes Buch in der Hand hält, eines, an dem man zudem ästhetisch seine Freude hat.

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Johannes Klaus / Marianna Hillmer: Von Neugierde, Mut und Reiselust. Ehrliche Reisestories.
Reisedepeschen Verlag, Berlin 2024.
384 Seiten , 18,00 EUR.

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