Wachsleiche und weiche Knie
Seishi Yokomizos „Dorf der acht Gräber“ kommt fast ganz ohne Detektiv aus
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der Lektüre von Seishi Yokomizos Arbeiten lässt sich der Leser auf Retro-Texte ein, die dem Stil ihrer Entstehungszeit folgen und die Tradition früher westlicher Kriminalromane des 20. Jahrhunderts widerspiegeln; der Text beinhaltet deshalb Abweichungen zu heute rezipierten Genreformaten. Auf der Rückseite des Buchs findet sich eine Kritik zum Autor, den man neben John Dickson Carr, Arthur Conan Doyle und Agatha Christie einreiht. Das Dorf der acht Gräber, im japanischen Original Yatsuhakamura, ist in der Tat ein Werk, das auf dem Prinzip der Rätsellösung durch einen scharfsinnigen Ermittler basiert. Allerdings tritt der klassische Meisterdetektiv – in Yokomizos Fall Kosuke Kindaichi – zunächst eher am Rande und relativ spät auf.
Familiensaga und Schauerroman
Insgesamt überrascht das Dorf der acht Gräber mit einem Szenario, das eine Nähe zur Gruselgeschichte aufweist. Yokomizo folgt offenbar seinem Vorbild Carr und dessen Anleihen am deutschen Schauerroman – Carr thematisierte häufig verwunschene historische Orte, düstere Burgruinen, Gespensterheimsuchungen und alte Flüche. Auch die Motive des Giftmords sowie der Gruft mit einer geheimnisvollen Leiche lassen sich bei dem amerikanischen Schriftsteller finden. Der japanische Autor vermischt diese Effekte mit Elementen einer Familiensaga aus den Bergen Okayamas und etabliert dabei den verlorenen Sohn Tatsuya als Erzähler. Im ersten der acht Kapitel des Romans erfährt der 1922 geborene Tatsuya Terada, einst von Stiefvater Torazo adoptiert und mit Kriegsende 1945 zurückgekehrt in die zerstörte Stadt Kôbe, durch den Rechtsanwalt Suwa, dass ein wohlhabender Mann ihn aufspüren wolle. In seiner Firma rät ihm der Chef zur Reise in die Provinz, man spricht nun von Tatsuya als dem illegitimen Sprössling einer reichen Familie. Nachdem der Anwalt ihn überprüft hat, harrt er der Dinge, die da kommen sollen. Seltsame Ereignisse verstärken seine unguten Ahnungen. Im Büro des Rechtskundigen erhält er schließlich die Nachricht, er sei der Sohn von Yozo Tajimi und habe zwei Halbgeschwister namens Hisaya und Haruyo. Vater Yozo, ein sich manisch gebärdender Tyrann, gelte als verschollen. Zum Haus zählten zudem die alten Großtanten Koume und Kotake. Ferner: Der jüngere Bruder des Vaters wurde an einen Seitenzweig des Clans übergeben, sein Sohn ist Shintaro Satomura. Alle Verwandten seien kinderlos, so dass der Endzwanziger der einzige Erbe der Tajimis bliebe – ohne ihn würde das Vermögen an Shintaro fallen, dem man es nicht im Geringsten gönnt.
Nachdem sein Großvater mütterlicherseits bei Herrn Suwa, der ebenfalls aus Yatsuhakamura stammt, tot zusammenbricht (Suwa und Tatsuya werden kurzfristig des Giftmords verdächtigt), geleitet die schöne Miyako Mori den verlorenen Sohn in seine alte Heimat. Zuvor offenbaren Suwa und Miyako ihm gewisse erschreckende Hintergründe in Bezug auf die Familiengeschichte und die latent gefährliche Situation vor Ort. Mit der Ankunft im Bergdorf erlebt der Protagonist viele überraschende Wendungen, eine Person nach der anderen stirbt: Besitzt der historische Fluch immer noch Wirkung? Sind die äffchenartigen Tanten nette alte Damen oder bösartige Greisinnen? Wird Tatsuya eine Beziehung zu Miyako eingehen? Welche Rolle spielen die Priester? Die abenteuerlichen Entwicklungen gipfeln im Fund einer Wachsleiche in Samurai-Rüstung im Höhlenlabyrinth unter dem Dorf.
Die Erzählerstimme
Charakteristisch für Yokomizos Schreiben ist eine rahmende Kommentierung per Erzählerstimme (Tatsuya), die ab und an eine Vorausdeutung des Kommenden artikuliert. Damit betont der Autor das Schicksalshafte der Geschehnisse um den jungen Helden, der sich auch auf metaphorischer Ebene durch sein Lebenslabyrinth bewegt, um nach bestandenen Prüfungen am Ende die holde Maid (in diesem Fall die junge Schwester des Shintaro) zu gewinnen – den positiven Ausgang des Abenteuers erörtert der Epilog des Texts.
Neben der vorgeschalteten einführenden Erklärung zur tragischen Historie des Dorfs sowie zum Erwerb des präsentierten Manuskripts mit seinen einschlägigen Schilderungen (durch eine unbekannte Instanz jenseits von Tatsuya) verweist vor allem der Erzählerkommentar Tatsuyas auf die literaturgeschichtliche Dimension von Yatsuhakamura. Der Kommentar nimmt sich des Berichteten auf einer metafiktionalen, ironischen Ebene an, etwa wenn es heißt:
Wäre ich Schriftsteller, hätte ich die folgende Szene zum ersten Höhepunkt meiner Geschichte machen können. Aber ich besitze dieses Talent nicht, und Tatsache ist, dass der Vorfall, so schrecklich er auch gewesen sein mag, oberflächlich betrachtet ziemlich schnell vorbei war.
Tatsuya äußert sich stellenweise zu seiner fortschreitenden Reifung als Mensch, dem sich das Geheimnis seiner Herkunft offenbart und der durch den Erkenntnisgewinn und ein sich festigendes Selbstbewusstsein in die Lage versetzt wird, in der dörflichen Gesellschaft und darüber hinaus zu bestehen. Der Autor Yokomizo führt den Protagonisten, der vor nicht allzu langer Zeit aus dem Krieg kam und sich nun sozusagen auf dem Schlachtfeld einer ländlichen Gemeinschaft bewähren muss – geprägt von der Herrschaft der Großgrundbesitzer, dem Wirken des Klerus, dem Einfluss konkurrierender Ärzte und dem Misstrauen der abergläubischen Dörfler gegenüber Fremden. Zum einen bedeutet die Konfrontation mit dem ruralen Japan für den in der modernen Großstadt sozialisierten Protagonisten die Begegnung mit einer nicht bewältigten Vergangenheit und einem archaisch-primitiven Kollektiv, zum anderen ermöglicht diese erst die Lösung aus der Waiseneinsamkeit und die Begegnung mit seinem echten Vater.
Panik in der Peripherie
Obwohl es klar ist, dass der intelligente Tatsuya durchaus fähig ist, den meisten Schwierigkeiten zu trotzen, stößt man im Laufe der Lektüre auf etliche Szenen, in denen der Held seiner Angst Ausdruck verleiht – ein wenig befremdlich, zumal er die Kriegsjahre scheinbar unbeschadet überstanden hat:
Wie jeder gesunde junge Mann wurde ich mit einundzwanzig Jahren in die Armee eingezogen. Bald darauf wurde ich in die Südsee versetzt, wo ich eine schwere Zeit durchmachte, bis der Krieg endete und ich im folgenden Jahr repatriiert wurde.
Im geregelten, grauen Arbeitsleben langweilt sich der Protagonist und sehnt Abwechslung herbei. Als dann der gefährliche Aufenthalt in der Provinz zu bewältigen ist, erlebt er mehr Abenteuer, als ihm lieb sein kann. Wiederholt beschwört Yokomizo Tatsuyas aufgewühlte Emotionskulissen, betont seine furchtsame Erregbarkeit mit Wendungen wie die Enthüllung löse einen „unvorstellbaren Schock in mir aus“ (S. 55), „Unmittelbar nachdem ich diese Geschichte gehört hatte, fühlte ich mich, als würde mein Blut gefrieren, und mir stockte der Atem. Ich war wie zu Stein erstarrt, dann begann ich am ganzen Körper zu zittern und konnte nicht mehr aufhören“ (S. 55), „Ich bekam Herzklopfen“ (S. 103), „Dunkle Angst überfiel mich, und mein Herz wurde schwer wie Blei“ (S. 105), „Ein kalter Schauer ergriff mich, so dass ich zitterte“ (S. 138), „Mir lief der Schweiß unter den Achselhöhlen hervor“ (S. 158), „Ich bekam weiche Knie. Meine Kehle wurde trocken und mir wurde schwarz vor Augen“ (S. 160), „In meinem Kopf drehte sich alles, vor meinen Augen flimmerte es, und ich hatte sogar das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen“ (S. 162), „Eine ungeheure Erschöpfung ergriff mich, und ich war kurz davor zusammenzubrechen“ (S. 162), „Mein Entsetzen war so groß, dass ich wie gelähmt war […]“ (S. 162), „Unbeschreibliches Entsetzen durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag […]“ (S. 163), „Meine Knie zitterten vor unbeschreiblichem Entsetzen, und die Zunge klebte mir am Gaumen“ (S. 244), „Mir war, als würde eine eisige Hand nach meinem Herzen greifen“ (S. 288) oder auch „Mein Herz hämmerte“ (S. 293). Dass eine Person, die den Krieg kennt, derart heftig auf die Umstände des Dorfs („die Welt der Angst und des Schreckens“) reagiert, lässt tief blicken.
Ein Inspektor mit Marotten
Bevor dem Leser so viel jämmerliche Zustände des Helden lästig werden können, betritt – nach dem ersten Drittel des Romans – endlich Kosuke Kindaichi den Schauplatz. Nur: der Detektiv zeichnet sich ebenso durch notorische Verhaltensmuster aus! Yokomizo beschreibt ihn folgendermaßen:
Kosuke Kindaichi war ein kleiner, schlanker Mann von Mitte dreißig mit zerzausten Haaren, der in jeder Hinsicht unscheinbar wirkte. Da er auch noch einen abgetragenen Hakama aus Serge trug, sah er bestenfalls wie ein Dorfschreiber oder ein Grundschullehrer aus. Zu allem Überfluss stotterte er ein wenig.
Tatsuya nennt ihn einen „zotteligen Kerl“. Eine Steigerung ins leicht Unappetitliche erfolgt, wenn er den sich stets am Kopf kratzenden Detektiv beobachtet, dessen „Schuppen wie Glitterpartikel zu Boden rieselten.“ Selbstverständlich wird schnell klar, wie genial Kindaichi hinter seiner prekären Fassade ist und dass seine Gelassenheit den Gegenpart zu Tatsuyas häufig überbordenden Emotionen bildet. Er stellt am Ende die Giftmörderin nebst ihren Verbündeten. Die wahre Bedrohung im Dorf der acht Gräber geht aber nicht von der berechnenden Femme fatale aus, sondern von der Engstirnigkeit und dem Bildungsmangel seiner Einwohner.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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