Das Privileg der Qual der Wahl

In R. F. Kuangs „Babel“ entsteht die Magie der Worte durch deren Unübersetzbarkeit

Von Anne StollenwerkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Stollenwerk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kennen Sie das, wenn man jahrelang glaubt, etwas verstanden zu haben, nur um dann plötzlich eine neue Erfahrung zu machen oder einen anderen Blickwinkel kennenzulernen, der völlig neue Dimensionen des Verstehens eröffnet? Plötzlich kann man spöttisch akzeptieren, wie falsch oder unzureichend das vorher für wahr und manchmal gar für vollständig gehaltene ‚Wissen‘ doch gewesen ist und mit den frisch gewonnenen Erkenntnissen die Welt mit neuen Augen sehen. Mir passieren solche fabelhaften Momente am häufigsten in zwei Situationen: beim Reisen und beim Lesen.

R. F. Kuangs Babel hat mir in vielerlei Hinsicht solche Augenöffner geschenkt. Als Zufallsfund in einem Bahnhofsbuchladen vor einer langen Zugfahrt erwartete ich bloß ein wenig Zerstreuung. Bekommen habe ich jedoch 546 prall gefüllte Seiten Denk- und Diskussionsstoff für mindestens ebenfalls 546 lange Abende. Durch die Lektüre denke ich anders über die (Un)Möglichkeit von Übersetzung und tatsächlichem Verstehen, über die Gefahren durch und Folgen von Kolonialismus und Imperialismus, über Kapitalismus und Globalisierung.

Wenn man im Urlaub lieber möglichst wenig belehrt werden oder sich mit ideologischen Dilemmata auseinandersetzen möchte, sollte man die Lektüre vielleicht auf ein anderes Mal verschieben. Denn Babel ist kein typischer Eskapismus-Roman – dafür ist das Buch einfach zu dicht geschrieben. Wer aber im Alltag nicht dazu kommt und im Urlaub endlich noch einmal ein spannendes Buch lesen möchte, dem oder der sei Babel wärmstens empfohlen. Denn die Lektüre braucht durchaus ihre Zeit. Ich habe das Buch mehrmals weglegen und darüber nachdenken müssen, ob ich die Entscheidungen der Figuren gutheiße oder nicht. Und wann hat man sonst dafür Zeit, wenn nicht im Urlaub? Trotz aller Intensivität lässt sich Kuangs Geschichte durchaus auch an den Strand mitnehmen. Durch die Erzählkraft der Autorin fällt es leicht, in die Geschichte einzutauchen. Und noch dazu lernt man beim Lesen etwas, zum Beispiel über Etymologie oder Literaturtheorie.

Der Roman erzählt die Geschichte eines Waisenjungen aus dem südchinesischen Guangzhou (auch bekannt als Kanton), der im London des beginnenden 19. Jahrhunderts unter dem selbstgewählten Namen Robin Swift bei einem Professor aufwächst. Von diesem wird er intensiv auf das Studium im ⸴Babel‘ genannten königlichen Institut für Übersetzung an der elitären Oxford-Universität vorbereitet. An der Uni findet Robin in drei Kommiliton:innen einen Familienersatz. Allerdings trifft er hier auch auf seinen Halbbruder, der Mitglied einer geheimen Gesellschaft ist und die Monopolstellung Babels und deshalb Großbritanniens brechen will. Denn in Babel werden mit Robin und seinen Kommiliton:innen Menschen zum Silberwerken ausgebildet und in dieser Technik konzentriert sich sowohl die akademische als auch ein Großteil der ökonomischen Macht des gesamten britischen Imperiums.

Denn hier entsteht aus Worten und Silber buchstäblich Magie: Beim Silberwerken werden zwei miteinander in Bedeutung oder Etymologie verbundene Wörter aus unterschiedlichen Sprachfamilien auf die beiden gegenüberliegenden Seiten eines Silberbarrens geritzt. Werden die Worte von einer Person ausgesprochen, die beide Sprachen auf Muttersprachenniveau beherrscht, entfaltet das Silber das, was unausgesprochen bleibt und in der Übersetzung verloren geht:

Das griechische Wort idiótes kann Narr bedeuten, wie das Wort Idiot nahelegt. Doch es bezeichnet auch jemanden, der sich zurückzieht und sich von weltlichen Ereignissen fernhält – seine Idiotie kommt nicht durch das Fehlen natürlichen Talents zustande, sondern durch Ignoranz und fehlende Bildung. Wenn wir idiótes mit Idiot übersetzen, so entfernen wir Wissen. Dieser Barren lässt einen Menschen also von jetzt auf gleich Dinge vergessen, die er zu lernen geglaubt hat. (S. 225)

Die durch die Wortpaare freigesetzte Magie kann Krankheit heilen, Metallgerüste stabil machen – oder auch töten. Die Silberbarren sind teuer und Robin beginnt zu hinterfragen, ob er die mächtige Institution Babel, für die er später arbeiten wird, überhaupt unterstützen möchte. Es ist eine von vielen schwierigen Entscheidungen, denen sich die Charaktere stellen müssen. Auch zwei von Robins Freund:innen sind in anderen Ländern geboren und von englischen „guardians“ nach Großbritannien gebracht worden. Babel bedient sich ihrer Sprachkenntnisse, gleichzeitig geschieht eine strukturelle Abwertung der Kulturen, aus denen die jeweiligen Sprachen entstammen. (In der deutschen Ausgabe ist deshalb vorne auch die Rechtfertigung abgedruckt, dass die teilweise rassistische Sprache im Roman lediglich „dem Zweck der historisch korrekten Darstellung von Alltagsrassismen sowie fehlerhaften Darstellung von Ethnizität“ diene.) Trotz dieser beständigen Diskriminierung begreift Robin die Macht, die ihm durch seine Sprachkenntnisse gegeben ist:

„Bitte übersetze.“ Es hing alles von ihm ab, erkannte Robin, und er hatte die Wahl. Es lag an ihm, die Wahrheit festzulegen, denn nur er konnte mit allen Parteien kommunizieren. (S. 34)

Auch im weiteren Verlauf der Geschichte stehen die Charaktere – mehr sei hier nicht verraten – vor immer komplizierteren und unlösbar erscheinenden Problemen. An den entscheidenden Stellen des Plots allerdings sind sie davon überzeugt, keine Wahl zu haben. In einer (Fantasy)Welt voll Ungleichheit und der offensichtlichen Übermacht einer Kultur über andere, in einer Biographie voller Rassismus und Vorurteilen können die Konsequenzen einer ‚falschen‘ Entscheidung nicht nur äußerst schwerwiegend sein. Eine Entscheidung wirklich frei treffen zu können, ist sogar häufig ein Privileg.

Die selbst in Guangzhou geborene Autorin Rebecca F. Kuang hat Master-Abschlüsse in Philologie und Soziologie, ist selbst Übersetzerin und promoviert momentan an der amerikanischen Elite-Universität Yale. Das Fachwissen merkt man ihr an, denn nicht nur Kuangs große sprachliche Finesse macht Babel zu einem beeindruckenden Buch. Die Autorin schafft es, die Geschichte mit großer Leichtigkeit zu erzählen und gleichzeitig höchst interessante philosophische, philologische und besonders viele äußerst gesellschaftskritische Elemente einfließen zu lassen.

Wer allerdings auf Lösungen für die angesprochenen Probleme und Eskapismus in Form eines Happy Ends sucht, dem sei von Babel vorerst abgeraten. Gerade hier offenbart sich die Meisterschaft, mit der Kuang ihre Geschichte formt: Es gelingt ihr, die Figuren und ihre Handlungen nachvollziehbar zu gestalten, ohne dass man sie deswegen gutheißen würde.

Im englischen Original trägt das Buch den Titel Babel: Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators‘ Revolution. In der deutschen Ausgabe wurden diese ausschlaggebenden Untertitel weggelassen. Das ist entweder höchst enttäuschend und würde nicht einer gewissen Ironie entsprechen, ausgerechnet den Titel eines Buches, das die Unmöglichkeit des Übersetzens behandelt, unvollständig zu übersetzen. Oder es ist konsequent und setzt genau diese Unmöglichkeit um – raubt dem Titel damit allerdings mehr als die Hälfte seines Gehaltes. Denn ob (und wann) Gewalt legitimiert werden kann, ist eine der ausschlaggebenden Fragen, vor die Leser:innen bei der Lektüre gestellt werden.

Babel ist interessant und frustrierend, es wirft Fragen auf und informiert und es ist vor allem sehr grau. Es ist ein extrem vielgestaltiges, inhaltsreiches und philosophisches Werk, das völlig modern daherkommt, obwohl es im Oxford des 19. Jahrhundert spielt. Ein Fantasy-Roman, der mit fast brutaler Genauigkeit unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält und dabei treffgenau und schmerzhaft Wahrheiten benennt.

Titelbild

Rebecca F. Kuang: Babel.
Aus dem Englischen von Heide Franck, Alexandra Jordan.
Eichborn Verlag, Köln 2023.
736 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783847901433

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