Verteidigung des freien Wortes
Hans Jürgen Heringers „Toleranz“ pirscht sich aus linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive mit süffisanten Verständnisfragen an einen stets aktuellen Begriff heran
Von Marcus Neuert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit spielerischer Leichtigkeit ist sein schmales, kaum mehr als 120 Seiten umfassendes Büchlein verfasst. Wer eine systematische Auseinandersetzung mit streng wissenschaftlich untermauerten und lückenlos zitierbaren Fakten erwartet, wird vermutlich etwas enttäuscht sein. Heringers Toleranz richtet sich an ein Publikum ohne linguistisches und kulturwissenschaftliches Fachwissen, aber an eines, dem der Begriff der Allgemeinbildung zumindest nicht ganz fremd ist. Dementsprechend ist sein Stil zwar ausgesprochen kolloquial, was der allgemeinen Lesbarkeit entgegenkommt, jedoch mitunter ein wenig sprunghaft. Heringer arbeitet viel mit der grafischen Darstellung von Wortfeldern in wolkenartiger Haufenanordnung. Er bürstet seinen eigenen Textaufbau immer wieder mit kleinen Einwänden und Publikumsfragen gegen den Strich, was seine Aussagen insgesamt nicht immer ganz leicht fassbar macht, die Rezeption jedoch stets auf das Schillernde der eigentlichen Fragestellung verweist:
Es geht einerseits um den toleranten Umgang mit allem, was da so verzapft wird, und andererseits solide, linguistisch fundierte Kritik. Und Toleranz ist zumindest ein Jahrtausendthema.
Heringer nähert sich als emeritierter Linguistikprofessor dem Begriff zunächst etymologisch und fördert dabei die ins Indogermanische zurückreichende Wurzel zutage, die das deutsche dulden direkt mit dem lateinischen tolerare, dem italienischen tollerare und dem französischen tolérer in Verbindung setzt. Ins Deutsche gelangte der fremdsprachliche Begriff der Toleranz dagegen erst im 16. Jahrhundert, vor allem in religiösen Kontexten, wenig später auch im Verhältnis von staatlicher und religiöser Machtentfaltung. Sehr schnell schlägt Heringer dabei dann die Brücke in die Gegenwart:
Neben der Erweiterung der Subjektposition ist wichtig die Erweiterung im Nachbereich auf Menschen und deren Handlungen. Da geht es heute darum, was Mieter und Vermieter, Eigentümer, Hausbesitzer und Nachbarn, Arbeitgeber, Rechtsstaat und Regierung, Behörden und Verwaltung dulden müssen.
Bei den Fragen nach dem semantischen Umfeld der Toleranz führt der Autor seine Lesegemeinde zu Begrifflichkeiten wie Moral, Gewissen, Freiheit, aber auch Strafe, Rache, Sanktion und Gewalt, macht alsbald einen kleinen Abstecher auf das Feld der Tugenden, in welches sich die Toleranz als tolerantia neben der humilitas (Demut, Bescheidenheit), der modestas (das Sich-selbst-zurücknehmen, Selbstreflexion), der temperantia (Besonnenheit, Mäßigung) und der misericordia (Mitgefühl, Barmherzigkeit) einordnet und nicht selten in Wechselwirkung befindet. Wie eng all das mit der Definition und dem Gebrauch von Sprache zusammenhängt, zeigt Heringer gleich daran im Anschluss:
Ideale, Gesinnungen, Denkmuster, Ansichten und Überzeugungen werden nur sichtbar, greifbar und diskutierbar, wenn sie sprachlich gefasst sind. Sogar Handlungen müssen gedeutet und benannt oder beschrieben werden.
Hier ist der Autor nun in seinem angestammten Element und bei den Kernaspekten seines Textes. Er vermittelt seinem Lesepublikum in Kurzform die definitorische Dreiteilung des Begriffes Sprache in die allgemeine menschliche Sprachfähigkeit, die etablierte Einzelsprache wie Deutsch oder Latein und konkretes menschliches Kommunizieren, eine Geschichte der Sprachwerdung, und kommt zu dem griffigen Halbschluss:
Die Sprache ist dem Willen der Menschen enthoben. Sie ist entstanden in gemeinsamer Kommunikation: ein Produkt der unsichtbaren Hand. In Abermillionen von Sprechhandlungen entstanden und so auch stetig im Wandel.
Dabei gestattet sich Heringer durchaus auch den ein oder anderen Seitenhieb auf den Zeitgeist, der bestimmte Worte par ordre de moufti auszumerzen und durch andere zu ersetzen trachte. Veränderungen könnten nur als kommunikativer evolutionärer Prozess erfolgen, und nur, wenn eine Mehrheit sich darauf einließe. Inwieweit allerdings die kommunikative Blasenbildung durch soziale Milieus und (a)soziale Netzwerke zu eigenen Codes, ja eigenen sprachlichen Gesetzmäßigkeiten findet, blendet Heringer aus – ihm geht es offenbar nur um die Hoch- und Hauptsprache, deren Bedeutung als einendes Band der Verständigung allerdings durchaus als im Abnehmen begriffen werden könnte – eben gerade, weil die Bedeutung der diversen Parallel-Sprachen analog dazu zu wachsen scheint.
Von der Sprache kommt der Autor zur Bedeutung, die „entsteht und besteht im Gebrauch des Wortes“. Er gibt sich als Anhänger der sogenannten Gebrauchstheorie der Bedeutung zu erkennen, die Bedeutung stets in unmittelbarem Zusammenhang mit Sprache und Zeichen und den Menschen, die diese benutzen, sieht. Es gebe keine Bedeutung, außer sie werde sprachlich gefasst – dennoch bleibe sie oft vage dabei. Aber diese Vagheit der Bedeutung ist für Heringer vor allem ein Vorteil, weil sie Voraussetzung für die Konstituierung der Begriffe und deren grundsätzliche Veränderbarkeit bedeuten. Und, so möchte man hinzufügen, weil dies weitergedacht ein künstlerisches Arbeiten mit Sprache erst möglich macht.
Sprache und Bedeutung führen Heringer zum Verstehen, einem vielschichtigen Prozess mit ungewissem Ausgang, denn nicht selten kann die eigentliche Intention des Kommunizierten nicht eindeutig erschlossen werden und muss interpretiert werden. Dem folgt ein Aufruf zum Hineinversetzen in das Gegenüber als Grundvoraussetzung für Toleranz. Dennoch bleibe das Verstehen eine „Suche des Bestimmten im Unbestimmten“.
Auch mit dem Aspekt der Zeitlichkeit und des jeweiligen Kulturraumes setzt sich Heringer auseinander. Texte früherer Epochen oder fremder Kulturen entziehen sich mitunter dem eigenen Bewertungskanon – um hier in seinem Verhalten tolerant zu bleiben, bedarf es der ständigen Vergegenwärtigung der eigenen perspektivischen Gebundenheit.
Die Grenzen von Toleranz zu diskutieren heißt sich mit mannigfaltigen Positionen und den Begriffen von Strafe und Zensur zu beschäftigen. Der Autor führt hier vielerlei Aussagen von Rawls bis Wittgenstein und von Heine bis Popper auf und spart auch nicht mit der Kritik an aktuellen Medien, die etwa in Fragen nach diskriminierenden Inhalten oft willkürlich und unbegründet – vor allem: undiskutiert – Entscheidungen über Ex-oder Inklusion von Inhalten träfen. Er greift in diesem Zusammenhang etwa auch die derzeit heiß geführte Debatte um Rechte von Transpersonen in Fitnessstudios oder verwehrte Wohnungs-Besichtigungstermine für Personen mit offensichtlich „ausländischen“ Nachnamen auf und fragt lapidar: „Würden Sie da Wittgenstein zustimmen: Unsere Zeit ist wirklich eine Zeit der Umwertung aller Werte[?]“.
Man könnte fragen, ob es zielführend ist, sich gerade solcherlei kontrovers diskutierten Sonderfällen zuzuwenden, steht doch das Mäandern zwischen medialen Aufregern mit begrenztem Verfallsdatum im Gegensatz zu der gebotenen Seriosität in der Behandlung des Toleranzbegriffs, auch wenn diesem durchaus mithilfe süffisanter Verständnisfragen zu Leibe gerückt werden darf.
Bei all dem wird jedoch klar, wofür sich Heringer bei aller Lockerheit der Diktion und nach allen Richtungen hin sich öffnenden Fragen an sein Lesepublikum einsetzt: Für den Erhalt der freien und nach bestem Wissen und Gewissen zu leistenden Meinungsäußerungen, mithin für das Einfordern von Toleranz. Und zum Abschluss gibt er seiner Lesegemeinde zehn Gebote mit auf den Weg, die von kontinuierlicher Weiterbildung über respektvollen Dialog bis hin zu regelmäßiger Selbstreflexion noch einmal alle wesentlichen Voraussetzungen für einen toleranten Umgang miteinander zusammenfassen.
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