Lernen zu leben
Ruth-Maria Thomas legt mit ihrem Roman „Die schönste Version“ ein schmerzhaftes, aber überaus gelungenes Debüt vor
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Komm, sagt Yannick irgendwann und nimmt meine Hand. Komm, wir gehen zum Wasser“, heißt es auf der ersten Seite von Ruth-Maria Thomas‘ Debütroman. Es klingt wie ein romantischer, leicht kitschiger Prolog einer Liebesgeschichte zwischen Yannick und Jella, einem jungen, verliebten Paar in den frühen 2010er Jahren in einer ostdeutschen Kleinstadt.
Doch die Stimmung dreht sich um 180 Grad, schlägt um in verbale und körperliche Gewalt. Jella Nowak ist 21, studiert „was mit Zahlen und Gebäuden“ –mit dem Hintergedanken, dass „immer gebaut wird“. Yannick Brenner ist nach einem Kunststudium in München zurück gekehrt und weiß nicht, wie es weiter gehen soll:
Der große Aufstieg in der Kunst sei hier nicht zu holen, nicht für einen Ossi, nicht hier im Osten, wo sich die wenigsten Kunst leisten können und mit Eltern, die nicht müde würden zu fragen, wann er plane, etwas Richtiges zu machen. Jetzt, wo er bald dreißig sei. Der Riss in der Beziehung vollzog sich schon mit Einzug in die gemeinsame Wohnung. Die Nähe wurde offensichtlich zur Obsession.
Die 31jährige Autorin Ruth-Maria Thomas, die in Cottbus aufgewachsen ist, als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe arbeitete und später am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierte, beleuchtet die Beziehung zwischen Jella und Yannick mit gnadenloser Offenheit und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Irgendwann kehrt Jella wieder in ihr altes Kinderzimmer in der Wohnung ihres Vaters (die Beziehung der Eltern ist ebenfalls gescheitert) in einem Dorf in der Lausitz zurück – nach einer Eskalation der Gewalt. Yannick hatte sie gewürgt, sie ihn mit der Pfeffermühle gegen den Kopf geschlagen. Im Spiegel besieht sie sich die Würgemale an ihrem Hals. „Ich sage: Es wurde körperlich zum Schluss. Es klingt nach einer sachlichen Berichterstattung. Zu mehr bin ich nicht in der Lage. Aber es reicht schon.“
Dieser Roman reicht weiter über die häusliche Beziehungsgewalt hinaus, es geht um radikale Emotionen, um Macht und Schuld und auch über die Hemmschwelle, sich zu offenbaren, sich als Opfer bei der Polizei erklären zu müssen. Jella wird in der Folge wiederholt von Angstschüben heimgesucht. Sie nimmt Treppen statt den Fahrstuhl und kann keine Rollkragenpullover mehr tragen.
Wie konnte es soweit kommen? Gab es bestimmte Auslöser? Wurden Warnsignale für die körperliche Gewalt ignoriert? Jella blickt zurück auf ihre wenig freudvolle Kindheit und Jugend, die Eltern haben sich getrennt, und das Dorf ihrer Kindheit musste dem Tagebau weichen. Ein Gefühl der Wurzellosigkeit greift um sich.
Die Protagonistin arbeitet sich regelrecht an ihrem eigenen Leben ab, katalogisiert nach gut und böse. Ihre toxische Beziehung zu Yannick teilt sie (beinahe in Buchhaltermanier) ein.
Pro: er kennt mich so gut wie sonst niemand, ich/wir haben so viel investiert, alles umsonst? Liebeskummer nach Trennung zu schmerzhaft. Umzug, sehr anstrengend + teuer – Contra: Hände an meinem Hals. Ich wäre wieder allein, wie soll ich alles allein schaffen?
Jella nimmt sich professionelle Hilfe, um diese komplizierte Lebenskrise zu bewältigen. „Ich will diese Scheiße endlich besiegen. Ich weiß. Es ist ein Teil von mir. Ich kann mich nicht selbst besiegen, aber ich kann lernen, damit zu leben.“
Das ist dem harten Alltag mit häuslicher Gewalt präzise abgelauscht und bewegt sich ganz nah am kaum zu erklärenden Emotionschaos. Hart und ohne Kompromisse erzählt, nicht durchgestyled, sondern drastisch zugespitzt. Ein Buch, dessen Lektüre Schmerzen auslösen kann. Das vermag nur bedeutende Literatur. Man darf gespannt sein auf den weiteren Weg der jungen Debütantin Ruth-Maria Thomas.
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