Dem Zeitgeist auf den Geist gehen
In ihrer Streitschrift „Der* ent_mündigte Lese:r“ polemisiert Melanie Möller gegen Triggerwarnungen und sensitivity reading
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
In seinem Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott erklärt Martin Luther, „das Wort sie sollen lassen stahn“. Gemeint war damit das Wort Gottes und Luther drückte damit nicht etwa eine Forderung an die Christenheit und ihre GegnerInnen aus, sondern seine Überzeugung, dass Gott selbst für den ewigen Bestand seines Wortes sorgen würde. Einige Jahrhunderte später verwehrte sich der alles andere als christliche Philosoph Arthur Schopenhauer nachdrücklich gegen jegliche Eingriffe in seine Schriften. So solle selbst seine gelegentlich etwas eigenwillige Orthografie keinesfalls geändert werden, denn er wähle die Schreibweise seiner Worte stets mit Bedacht und jede noch so geringfügig erscheinender Eingriff wirke sich verheerend auf den Inhalt aus.
Heute hingegen sind allenthalben Forderungen zu hören, Worte nicht nur zu ändern, sondern gleich ganz zu tilgen. Begründet wird das nicht selten damit, dass sie herabsetzend – etwa rassistisch oder sexistisch – sind oder sich jemand durch sie verletzt fühlen könnte. So setzen verschiedene Verlage seit einiger Zeit etwa sensitivity reader ein, um dem bei Neuerscheinungen von vorneherein einen Riegel vorzuschieben und alles unerwünschte auszutilgen. Nicht nur Neuerscheinungen, auch Klassiker sind vor derlei unautorisierten Interventionen nicht sicher. Namentlich in Kinderbüchern wie etwa Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf oder Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer wird gerne zum Schutz der Kleinen eingegriffen.
Neu sind Modifikationen teils jahrhundertealter Texte aller Art jedoch nicht. Erinnert sei etwa an Daniel Defoes Robinson Crusoe oder Jonathan Swifts Gullivers Reisen, die einst als Lektüre für Erwachsene verfasst worden waren und schon längst zu Kinder- und Jugendbüchern umgeschrieben worden sind, und zwar nicht nur einmal, sondern ein ums andere Mal in den verschiedensten Versionen ganz gemäß den Erwartungen des jeweiligen Zeitgeistes. Gleiches widerfährt den Abenteuergeschichten Karl Mays, die seit ihrem Erscheinen immer wieder nach (dem vermuteten) Gusto des jeweiligen Publikumsgeschmacks der Zeit verändert werden. Reader’s Digest gibt seit Jahrzehnten gar eine ganze Reihe auf leicht verdauliche Häppchen zurechtgestutzter Klassiker der Weltliteratur heraus. Und seit allerjüngster Zeit lässt ein Kleinverlag Werke von Fontane, Kafka und anderen durch eine KI in einfache Sprache übertragen.
Doch nicht nur in historische Texte wird gerne eingegriffen, wenn es darum geht, herabsetzende und beleidigende Worte oder überhaupt solche, durch die sich jemand auch nur verletzt fühlen könnte, zu tilgen. Melanie Möller legt ein wahrhaft kurioses Beispiel eines solchen Falles vor. In einem Beitrag für den Deutschlandfunk Kultur vom 26. Mai 2023 erklärt ein Übersetzer, „welchen Unterschied es mache, ob der von ihm übersetzte Autor das Wort ‚Neger’ oder das Wort ‚Nigger’ verwendet, und wie er die Stellen übersetze’“. Der sensible Sender überblendete vor der Ausstrahlung beide inkriminierenden und inkriminierten Wörter allerdings mit einem identischen „gebuzzerten Beeb“, wodurch die Argumentation „schlicht sinnlos und unverständlich wurde“.
Vor allem aber weist Möller darauf hin, dass Eingriffe in Texte anderer schon in der Antike ein zwar vielleicht nicht gängiges, keineswegs aber unbekanntes Phänomen waren. In den insgesamt zehn Kapiteln ihrer Streitschrift „für die Freiheit der Literatur“ unternimmt die Altphilologin „einen weiträumigen Gang durch die Zeiten, um der Geschichte der Gewalt gegen die (in diesem Fall primär literarische) Kunst historische Tiefe und Breite zu verleihen“. Hierzu stellt sie in jedem der Kapitel zwei AutorInnen (16 Männer und drei Frauen sowie die soweit bekannt ausschließlich von Männern geschriebene Bibel) zusammen, die zumeist in der Ära ihres Fachgebietes tätig waren, in dem sie sich offenbar ausgesprochen gut auskennt. Allerdings sollte ihr als Altphilologin bekannt sein, dass der „tumbe Kerl“ im Paradies gemäß der Genesiserzählung von Eva nicht mit einem „symbolträchtigen Apfel verführt“ wurde, sondern mit einer nicht näher bestimmten Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Dafür aber polemisiert Möller gegen die Versuche der „Gerecht-Sprachler“, die Bibel „in das Gewand ‚gerechter Sprache’ zu kleiden“.
Zu den von Möller ausgewählten Beispielen historischer AutorInnen zählen etwa Catull und Casanova (dessen Autobiografie sie als „stimulierende[n] Buchstabensalat“ charakterisiert), Petron und Céline (warum nicht de Sade und Bataille?), Vergil und Heinrich von Kleist, die beiden „exzeptionelle[n] Frauen“ Sappho und Astrid Lindgren, „deren literarisches Schaffen für vielerlei emanzipatorische Zwecke instrumentalisiert worden“ sei, sowie Euripides und Annie Ernaux, deren „Gemeinsamkeit“ darin besteht, „dass beider Textcorpora noch keine größeren Säuberungsbestrebungen ausgelöst haben, was angesichts der Themen und ihrer Ausgestaltung seltsam anmutet“. Ovid und Joseph Brodski wiederum verbinde, dass ein jeder von ihnen ins Exil gezwungen wurden, wobei im Falle des Ersteren jedoch nicht ganz klar ist, ob er sein Exil nicht nur erfunden hat, wie die Autorin zweifelnd anmerkt.
Jedenfalls legt Möller manche interessante Interpretation vor. So erkennt sie etwa in Ovids Daphne unter Verweis auf das Leben der Nymphe „als selbstbewusste Jägerin […], die mit niemand geringerem als der Göttin Diane […] wetteifert“ eine „emanzipiert[e]“ Frau. Das ist durchaus überzeugend. Auch dürfte schwerlich zu bestreiten sein, dass Ovid nicht sie, sondern Apoll „diskreditier[t]“. Ebenfalls, dass der römische Dichter „weit davon entfernt [ist], sich auf einfache, plastische Gender-Klischees zu beschränken“. Allerdings verschweigt Möller, dass die Nymphe letztlich doch von einem Mann gerettet werden muss. Es ist ihr Vater, der Flussgott Peneios, der sie in letzter Sekunde vor den geilen Nachstellungen Apolls schützt, indem er sie in einen Lorbeerbaum verwandelt.
Besonders überzeugend aber fallen ihre Darlegungen zur Euripides Figur der Medea aus, an deren Beispiel der Tragödiendichter „die gesellschaftliche Rolle der Frau im antiken Griechenland aus unterschiedlichen Perspektiven“ darstellt. Thema des gleichnamigen Stückes ist der Autorin zufolge „nichts weniger als […] Gleichberechtigung“. Während Medea bei Euripides gerade „durch ihre radikale Tat, den Kindsmord, Menschlichkeit [beweist]“, gebe es „kaum etwas Schädlicheres für die ‚E-Manzipation’ der Frau als die Verharmlosung [Medeas], nicht zuletzt durch Geschlechtsgenossinnen“. Als wirklich prägnantes Beispiel solcher Verharmlosungen nennt Möller Christa Wolfs Adaption Medea Stimmen.
Im Zentrum von Möllers Plädoyer für die Freiheit der Literatur steht die These, dass „Wörter, die in ihrer Zeit wertneutral verwendet wurden, […] sowohl der historischen Gerechtigkeit als auch, vor allem, des ästhetischen Anspruchs wegen auch so transportiert werden [sollten]“. Aus den gleichen Gründen sollten Wörter, „die – positive wie negative – Wertungen enthielten“, „in dieser ihrer Wertungsabsicht weiter- und wiedergegeben werden – da mögen sie noch so verletzend sein“. Daher fordert sie „keine Kompromisse, keine Änderungen an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können“, vorzunehmen. Denn wer Texte der Literaturgeschichte „umschreibt“, um sie „moralisch [zu] bereinigen“, „vergeh[t] sich an Kunst und Literatur“.
Auf „bereinigen[de]“ Eingriffe jeglicher Art sollte sich leicht verzichten lassen, wenn einem Text eine Triggerwarnung vorangestellt wird. Doch auch davon hält Möller wenig. Lesende, welche „die Grenzen zwischen Kunst und Leben verwisch[en] und sich selbst mit [ihrer] Biographie derart ins Textgeschehen hineindrängt, dass [sie] die Beeinträchtigung eben jener Texte einforder[n]“, sollten „am besten die Augen – und vor allem – die Finger von der Literatur lassen“, schlägt sie mit doch recht überheblichem Zungenschlag vor und stellt sich damit in die Tradition von Marcus Valerius Martialis, der seiner für ihre Unflätigkeiten berüchtigten Epigrammsammlung schon im ersten Jahrhundert die Empfehlung voranstellte, wer „so affektiert prüde [ist], dass man bei ihm auf keiner Seite Dinge beim Namen nennen darf, kann […] sich […] mit dem Buchtitel zufriedengeben“.
An anderer Stelle beklagt Möller nicht zu Unrecht, das „im gesamten ‚kritischen Diskurs’ um Eingriffe in Texte“ immer stärker umsichgreifendes „psychoanalytische[] Vokabular auf Seiten der Änderungswütigen“, die „allenthalben […] von möglichen Traumata“ fabulieren. Die zu verhindern ist Aufgabe besagter Triggerwarnungen, die durchaus ihre Berechtigung haben können. Etwa, um zu vermeiden, dass eine tatsächlich im klinischen Sinn traumatisierte Person, retraumatisiert wird, wenn sie in einem Text unverhofft auf eine sie retraumatisierenden Stelle trifft. Allerdings kann bei keinem für alle anderen noch so harmlosen Wort ausgeschlossen werden, dass es nicht bei einer Person, die ein bestimmtes traumatisierendes Erlebnis durchlitten hat, zu einer Retraumatisierung führt. So ist es etwa nicht auszuschließen, dass ein bestimmter Mensch, der beim Jogging, auf einem Sofa oder unter einem Lindenbaum vergewaltigt wurde, durch eben diese Worte retraumatisiert werden kann.
Möller selbst scheint in ihrer die Grenze zum rant nicht selten überschreitenden „Streitschrift“ geradezu angestrengt darauf bedacht, dass ihr möglichst kein Satz ohne ironische oder polemische Pointe oder doch zumindest einer solchen Wendung zwischen die Buchdeckel gerät. So wettert sie gegen den „moralische[n] Mob“ der „woken Front“ und die „panische[] Penetranz heutiger Klimabesorgter“ ebenso wie gegen „Besser-Wisser, meist deutscher Herkunft, die andere mit Klischees überziehen, denen sie selbst aufsitzen“. Dieser polemische Furor ist umso bedauerlicher, als er ihre nicht selten tragfähigen Argumente keineswegs stärkt, sondern im Gegenteil verdeckt.
Auch ist zu monieren, dass Möller die nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen „‚cancel culture’, wokeness’, ‚political correctness’ oder ‚sensitive reading’nivelliert, indem sie erklärt, sie alle hätten „früher einmal […] auf den schlichten Namen Zensur [gehört]“. Überdies greift sie gelegentlich zu befremdlichen Vergleichen. So etwa, wenn sie die Amazonen als Volk darstellt, „das Männer ausschließlich als Objekte der Fortpflanzung betrachtet, und wie weiland (und teilweise noch immer) die männlichen Küken auf den Hühnerzuchtfarmen, männliche Nachkommen, kurzerhand über den Jordan schickte“. Die Existenz eines „Eroberungs-Gen[s] des Mannes“ wiederum dürfte sich kaum belegen lassen, während die Behauptung, dass „selten […] soviel Bevormundung [war]“ wie heute, schlicht abwegig ist.
Unabhängig davon, dass die von Möller vorgestellten Beispiele aus der Literaturgeschichte oft sehr informativ sind, und es zweifellos zutrifft, das ein „kritischer Geist“ erst dann „[ge]schult“ wird, wenn er „sich mit dem Original in seiner ganzen Abgründigkeit auseinander[]setzen“ kann, bleibt festzuhalten, dass die Autorin zwar eine ganze Reihe von nicht selten guten Gründen gegen die von ihr beklagte Entmündigung der Lesenden vorträgt, dies aber allzu oft auf denkbar schlechte Weise. Dabei ist mit dem Motto, das sie ihrem Buch vorangestellt hat, eigentlich schon alles gesagt. Es handelt sich um ein berühmtes Zitat Kafkas, in dem er erklärt, Bücher müssten uns „wie ein Faustschlag auf den Schädel weck[en]“, und „auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt“. Kurz, es müsse „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Solche Bücher aber dürften schwerlich die freiwillige Selbstkontrolle des heutigen Zeitgeistes passieren.
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