Am Grunde des Flusses wandern die Steine
Sabine Peters‘ Gesellschaftsroman „Die dritte Hälfte“
Von Britta Caspers
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNukleus des geschilderten Milieus ist eine Hausarztpraxis im Hamburger Stadtteil St. Georg, einstmals gegründet von Doktor Hermann Dik, Jahrgang 1957, von allen aus liebevoller Gewohnheit nur Doc genannt. Doc denkt noch nicht daran, sich aus der Praxis zu verabschieden und seinen Behandlungsraum, den „Schlauch“, aufzugeben; von Katze Bastet abgesehen lebt er allein in der Wohnung, die er seinerzeit mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Lucy bewohnt hat. Er gibt seinen Tagen eine feste Struktur und geht seinen Pflichten in aller Gewissenhaftigkeit nach, doch gegen seine Schlaflosigkeit ist kein Kraut gewachsen. Er hält Ordnung nicht nur auf seinem Schreibtisch, sondern auch daheim (sei es auch nur seiner Putzfrau zuliebe) – und bewegt sich am Rande einer tiefen Erschöpfung.
Doc ist ein stiller Beobachter, doch gerade diese Stille, diese Zurückhaltung und vielleicht der eigene dunkle Seelengrund sind es, durch die er Momente der Nähe und des Verständnisses schafft. So etwa, wenn er die alte Gertrud Bültjer ein letztes Mal im Pflegeheim besucht (einer von unzähligen berührenden Momenten): „Doc fragte Getrud nach dem Pilz im Mund, sie winkte ab. Sie ließ seine Hand auf ihrer Hand zu. Er saß bei ihr, sah aus dem Fenster in die gute Aussicht.“
Es ist merkwürdig mit Doc: Alles scheint sich um ihn zu drehen wie um einen Planeten, in dessen energetischem Umfeld sich die übrigen Figuren wie um einen Zentralkörper bewegen, dabei in seltsamer Weise zugleich angezogen und abgestoßen. Zunächst sind da die Angestellten, allen voran die Sprechstundenhilfe und gewissermaßen das Herz der Praxis, Christine Ohlerson, die ihren eigenen Weg findet, die dunklen Seiten des Lebens in Schach zu halten. Dann seine Schwester Kerstin, die sich ihren Frohsinn und ihre Zuversicht, seien sie auch hart umkämpft, nicht nehmen lässt. Sucht man nach einem ihrer Leitsätze, dann wäre es vielleicht dieser: „Man musste dem Elend etwas entgegensetzen: Wer die Freude in der Welt vermehrte, tat gut.“ Dann ist da noch die Nachbarin und Vertraute Mechthild Stepper, die das Zimmer ihres Sohnes an eine stille Studentin untervermietet hat und einem zermürbenden Bürojob nachgeht. Und nicht zuletzt: sein engster Freund aus Studientagen, Bruno Brumlik, genannt Brummer, seines Zeichens pensionierter Kunsthistoriker:
Er selbst war kein Brummer geblieben, obwohl der Name an ihm klebte. Er hatte die Fähigkeit erlernt, in Bilder hineinzugehen und sich dort umzutun nach Herzenslust. Er war der Mann, der in Leinwände einsteigt. Er kletterte in Landschaften von Constable hinein und kam weit raus ins Offene.
Doch wie sich zeigt, ist das für Brummer inzwischen leichter gesagt als getan, denn auch er kämpft mit Selbstzweifeln und Ängsten.
Docs eigene Gedanken und innere Bilder werden kontrastiert mit den Vorstellungen, welche die Menschen von ihm haben, die ihm nahestehen, und sie sind es, die dem Bild Tiefenschärfe verleihen. Im Grunde gewinnen wir ein Bild der Hauptfigur, das sich mosaikartig (man könnte auch sagen: systemisch) aus unzähligen anderen Bildern zusammensetzt, die sich wiederum kaleidoskopartig ineinander verschieben.
Seinem „Blauen Heft“ vertraut Doc Bilder und Gedanken an, die ihm spontan in den Sinn kommen, es sind meist humorvoll-tiefgründige, stets um Leichtigkeit bemühte Reime und Zeichnungen. Sie zeugen von einer Leidenschaft des Arztes, die in anderer Form nicht zur Sprache kommt: von einer Leidenschaft für die Literatur. Da geistern spätromantische Verse durch die Erinnerung, ebenso aufbewahrt und abgelagert wie die Buddenbrooks und – immer wieder – biblische Verse, Glaubenssätze, Fragmente einer Volksfrömmigkeit, die – jedenfalls für Doc – ihre tröstliche Wirkung nicht mehr so recht entfalten wollen. Das blaue Heft zeugt ebenso von dem Sprachwitz der Autorin, einer unglaublichen Wandlungsfähigkeit, ihrer intimen Vertrautheit mit unterschiedlichsten literarischen Ausdrucksformen, von denen sie sich freimacht, um sie sich, gebrochen und mit der Sprache unserer Tage verwoben, wieder zu eigen zu machen.
Sabine Peters geht in ihrem Roman anthropologisch-existenziellen Fragen nach, allerdings bleiben ihre Beobachtungen stets gebunden an konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge und politische Bedingungen. Sie entlässt ihre wie aus dem Leben gegriffenen Figuren also nicht in ein utopisch Offenes, gibt ihnen aber einen Reflexions- und Resonanzraum, in dem sie sich immer wieder aufs Neue einfinden in die Verhältnisse, die sie bestimmen und in denen sie doch nicht aufgehen. Am leitenden Motiv der Fliege wird die Frage nach dem Wesen des Menschen wie spielerisch zum Gegenstand, um im selben Moment aufgebrochen zu werden, sich zu entfalten in die poetische Ergründung des Mysteriums allen Lebens. Gleich zu Beginn erleben wir Doc in seine Betrachtungen versunken:
Wäre er eine betagte Fliege, täten ihm alle sechs Beine weh, aber er könnte mit ihnen schmecken. Erholsamer Sekundenschlaf, wann immer er wollte. Er hätte Fühler, große rote Facettenaugen und wäre komplett behaart. Dazu zwei immer noch kräftige Flügel und selbstverständlich ein Herz. Er würde aus dem Zimmer fliegen und sich zwischen Mond und Sonne tummeln, bis ein Vogel käme.
Wieder einmal ist es die ganz eigene assoziative Schreib- und Erzählweise der Autorin, das ‚Sprachspiel‘ – das Verdrehen von Wortbedeutungen, das Spiel mit dem Klang von Worten –, die immer wieder neue Bedeutungsebenen eröffnet und Ausdruck der Suche nach einem freien Raum (in der Sprache) ist. Die Zeiten, Sprache und Bilder werden durchlässig, ein jedes wird zur Brücke für ein anderes. In diesem Sinne markiert auch der Titel des Romans ein Paradoxon: Die „dritte Hälfte“ verweist zunächst einmal auf eine Verschiebung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen in westlichen Gesellschaften. Sie steht für etwas, das (rechnerisch) nicht aufgeht, sie ist ein erschreckendes Monstrum, doch birgt sie auch eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben zu leben, die ergriffen werden wollen.
Ein Gesellschaftsroman ist Die dritte Hälfte also nicht zuletzt deswegen, weil die großen, aber nicht selten verdrängten Fragen unserer Zeit nicht nur thematisiert oder zum Hintergrund der Handlung gemacht werden, sondern weil alle Figuren des Romans als Individuen eben dadurch Gestalt und Ausdruck gewinnen, dass und wie sie sich zu diesen Fragen verhalten, wie sie ihr Leben bewältigen, angesichts von Sorgen, Ängsten, Hoffnungen. Es geht um das Altwerden innerhalb eines durchkapitalisierten und heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems, um Verlusterfahrungen und Einsamkeit, um das bedrohte Leben in einem allgemeinen Sinne. Doc, selbst eine zutiefst gebrochene Figur, wird zu einer Art hilflosem Helfer, zum Zeugen von Leben und Leiden, wie er seinem Freund, dem Brummer, gegenüber in einem seltenen Moment von träumerischer Mitteilsamkeit eröffnet: „Ich kann bezeugen, dass sie alle existieren und mit welchen Schmerzen.“ Nicht zufällig findet sich auch in diesem Text der Verweis auf den Autor Christian Geissler (1928–2008) und dessen Hörspiel Unser Boot nach Bir Ould Brini. Auch Doc wünscht sich ein „Boot in der Wüste, ein Boot in der Sintflut.“ Gemeint ist damit ein utopischer Vorgriff, der Versuch, an solidarische Organisationsformen und politische Bewegungen – auch im Kleinen, im Privaten – anzuknüpfen, die Verhältnisse, auch die individuelle Geschichte, in ihrer Veränderbarkeit zu begreifen und die präzise Beschreibung der Verhältnisse für morgen aufzubewahren.
Wie bereits in früheren Romanen (man denke etwa an Alles Verwandte von 2017) erkundet die Autorin – in aller existenziellen, sozialen und politischen Verstricktheit ihrer Figuren – Residuen von Freiheit, indem sie deren Vorstellungs- und Reflexionsräume durchschreitet und sie zu individuellem Ausdruck gelangen lässt. Sabine Peters ist Meisterin darin, augenblickhafte und doch tiefe Begegnungen einzufangen, in denen – nicht selten auf ironisch-humorvolle Weise – eine Art Heraustreten aus aller Gebundenheit möglich wird, fast unmerkliche innere Volten, ein dem Auge des Betrachters entzogenes Wandern der Steine am Grund des Flusses.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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