Mein bestes Selbst und die Bücher
Nanako Hanadas Begegnungs- und Beratungs-Dokutainment „Die einsame Buchhändlerin von Tokio“
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie japanische Originalversion des in der deutschen Ausgabe unter dem Titel Die einsame Buchhändlerin von Tokio. Mein Jahr der magischen Begegnung mit Büchern und Menschen erschienenen Bandes von Nanako Hanada lautet Deaikei saito de 70nin to jissai ni atte sono hito ni aisou na hon o susumemakutta 1 nenkan no koto (2018; „Wie ich mich ein Jahr lang mit 70 über ein Internet-Kontaktforum vermittelten Menschen traf und jeder Person dabei eine für sie passende Buchempfehlung mitgeben konnte“).
Finden, was man wirklich will
Hanada schildert das erzählende Ich (offenbar ihr Alter Ego) als berufstätige Frau, die impulsiv ihren (chronisch desinteressierten) Mann verlässt. Bedingt durch ihre plötzliche Flucht und die aus der Krise resultierende zeitweise tiefe Verzweiflung gerät die Buchhändlerin kurzfristig in den Prekariatsmodus: Um Geld zu sparen, übernachtet sie an wenig gemütlichen Orten. Dann macht sie die Trennung offiziell und zieht in eine neue Unterkunft außerhalb von Yokohama. Die Enddreißigerin will die Zäsur nutzen, um ihr Leben grundlegend zu verändern. Neuorientierung und Selbstoptimierung jenseits von Ehe und Arbeitsstelle sind die Ziele, denn auch im beruflichen Bereich empfindet die Frau, Filialleiterin einer bekannten Buch- und Lifestyle-Accessoire-Kette, wachsende Unzufriedenheit. Während also noch der übliche Dienst bei Village Vanguard in Yokohama abgeleistet wird, unterzieht sie sich einer Konfrontationstherapie außerhalb ihrer Komfortzone. Vom Wesen her introvertiert, hatte sie lange Jahre mit dem Subculture-Flair der Ladenkette übereingestimmt: Village Vanguard bedeutete Unkonventionalität sowie für Kunden und Verkäufer einen Freiraum gleichgesinnter Geister. Mit der von der Firmenspitze immer stärker eingeforderten Kommerzialisierung der Läden verschwand dieser Reiz – individuelle Kreativität wurde durch das ökonomische Primat ersetzt. Die Ich-Erzählerin sieht sich gezwungen, nach Alternativen zu suchen. Diese zeigen sich ihr in Gestalt des Internet-Forums „ThirtyMinutes“, auf dem man kurze Begegnungen mit den verschiedensten Personen anbahnen kann. Obwohl es ihr schwerfällt, sich „anderen Menschen zu öffnen“, präsentiert sie sich dort schließlich als Buchhändlerin, die dem Gesprächspartner eine Lektüreberatung angedeihen lässt.
Die „Suche nach dem Selbst“ (jibun sagashi) und nach dem, was man wirklich „machen will“ (yaritai koto), stellt einen signifikanten Trend der japanischen Gesellschaft seit den 1980ern dar, nicht zuletzt angefacht von offiziellen und konzerngesteuerten PR-Kampagnen, der Lifestyle-Industrie und der Lebensberatungsbranche. Was zunächst im Kontext der Esoterikströmung der 1980er begann, entwickelte sich in der Heisei-Ära (1989-2019) zum medial vielfach verlautbarten Muster für individualistische Lebensmodelle. Als erstrebenswert galten kreative Jobs jenseits des stark normierten Geschäftsmann- und Angestelltenalltags der salary men oder die Eröffnung eines eigenen Ladens bzw. einer der Enklaven, in denen man seine ideale Umgebung ausgestalten und als Dienstleistung anbieten kann.
Ikikata in den 2010er Jahren: Ich-Suche, lernen, coachen
Nach den Finanzmarktkrisen wurde es in den 2010ern sukzessive schwerer, in den sogenannten Traumberufen der japanischen Kreativindustrie Fuß zu fassen. Für das Gewünschte ist heute mehr denn je Eigeninitiative nötig, während sich in der Gesellschaft die Tendenz zum Rückzug aus dem Sozialleben zu verstärken scheint und man am Ende der Dekade sogar die Hypersolo-Ära ausruft. 2021 installiert die japanische Regierung, die sich Sorgen um die geringe Geburtenrate im Land macht, einen Minister, der Strategien gegen das wachsende Einsamkeitsproblem umsetzen soll. Kommerzielle Anbieter und Think Tanks widmen sich ihrerseits der Frage nach der Lebensmotivation (Stichwort ikigai) überhaupt und nach einer erfüllenden Daseinsweise (ikikata). Zeitgemäße Glücksdevisen für die einigermaßen desillusionierte, offenbar nur noch eingeschränkt leistungsbereite Bevölkerung beinhalten mittlerweile oft den Auftrag zur Eigentherapie – das geschwächte Subjekt hätte künftig für mehr Resilienz seiner Person zu sorgen.
Wenn die Protagonistin aus dem japanischen Bestseller sich neue Horizonte erschließen und ihre Menschenscheu überwinden möchte, folgt sie diesem therapeutischen Impetus der Zeit – die Individualität des Unterfangens relativiert sich damit. Hanadas Heldin nutzt in ihrer Testphase jede Gelegenheit für die Treffen per Kontaktforum. Stets ist sie bemüht, am Ende den idealen Lektürehinweis auszusprechen. Auch weniger erfreuliche Situationen meistert die einst so Zurückhaltende im Laufe der „Buch-Exerzitien“ bravourös, etwa im Fall eines gewissen Fujisawa, der ihr nach der üblichen Kurzbegegnung mit Buchempfehlung eine von ihm geschriebene „kleine Erzählung“ zuschickt. Sein Text entpuppt sich als Pornoroman voll „perverser Sexszenen“ – mit ihr als Hauptperson.
Kennzeichnend für das neue Ikikata-Format der späten Heisei-Ära ist es, dass die Elevin zugleich Lernende (in Sachen Kommunikation) und Lehrende (als Buch-Beraterin) ist, um dann nach der Bewältigung mancher Hürde mit gestärktem Selbstvertrauen ihr Wissen über Bücher und Menschen anzuwenden.
Ein Bücher-Buch und andere Lesarten der „Buchhändlerin“
Nanako Hanadas Text kann auf verschiedenen Ebenen gelesen werden: Als Ermutigungsbericht für alleinstehende Frauen, als Dokumentation einer Heilung und Wegweiser für erfolgreiche Kommunikation, als Selbstverwirklichungs-Tripp und Aufruf, sich über gesellschaftliche Normen hinweg Freiräume zu schaffen, als Autobiographie einer Unternehmerin, als Beratung für Karrieren im Kreativbereich, als Beurteilung von Dating-Seiten (deai-kei saito) im Internet, als Konsum- und Lifestyle-Narration, als bibliophile Variante des Coachings sowie nicht zuletzt als Buchmarktanalyse und Sammlung von Minimal-Buchbesprechungen. Ein Hauptthema der Darstellungen bildet der Umgang mit dem Medium. Im Gespräch mit einem bewunderten Händler in Kyôto heißt es:
Und wir redeten über Bücher. Über Bücher, die wir liebten, über Bücher, die sich nicht gut verkauften, obwohl wir sie liebten, über Bücher, die sich besonders gut verkauften, obwohl wir sie fürchterlich fanden. Wir sprachen über den Minimalismus-Trend, der sich in der Buchbranche in reduzierten weißen Buchcovern widerspiegelt, wir sprachen über kunstvoll kuratierte Buchhandlungen mit hohem literarischem Anspruch, über sein eigenes Sortiment.
Tatsächlich sind Hanadas Literaturtipps, die natürlich auch die Leser und Leserinnen des Texts erreichen, durchaus informativ. Unter ihren Vorschlägen auf einem Buchempfehlungs-Wettbewerb im Kreativen-Café Hesomagari befindet sich Makoto Aidas „Jugend und Perversion“, ein Titel den die angehende Beraterin als Leseexperiment versteht und folgendermaßen charakterisiert:
Im Laufe des Romans wird klar, dass wir einem Fäkalfetischisten lauschen, der sich danach verzehrt, seiner Geliebten beim Defäkieren zuzuschauen. Vielleicht fragt ihr euch, warum ich euch so eine Geschichte empfehle – ich kann euch versichern, das hat nichts mit meinen persönlichen Präferenzen zu tun.
Das zweite Leitmotiv betrifft die Persönlichkeitsoptimierung, die die Protagonistin anstrebt – ihr Sendungsbewusstsein als Buchcoach nimmt beinahe religiöse Dimensionen an, wenn sie Trauerbegleitung leistet und festhält: „Ich kann den Menschen beim Menschsein zur Seite stehen.“ Das Alter Ego der Verfasserin legt dergestalt ihrem Tun eine altruistische Weltanschauung zugrunde, andererseits entwickelt Hanadas zweites Ich auch egozentrische, um nicht zu sagen narzisstische Züge. Bei der Begegnung mit dem Kollegen aus Kyôto kommentiert sie zum Beispiel:
Kurz bevor wir gingen, wusch ich mir in der Gästetoilette des Restaurants die Hände und schaute in den Spiegel. Für einen Moment dachte ich, ich hätte eine Fee gesehen. Ich leuchtete. Ich erkannte mich fast nicht wieder.
Die Protagonistin wird dem geschätzten Vorbild nacheifern und einen von ihr „kuratierten“ Laden gründen (Hanada führt seit 2022 das Geschäft Kani Books in Tôkyôs Alternativviertel Kôenji, Stadtteil Suginami). Zweifel bezüglich der Zukunft (Partnerwahl, Familiengründung, sicherer Arbeitsplatz, Stabilität) weichen einer ruhigen Gewissheit, ihr bestes Selbst entdeckt zu haben:
An diesem Abend hatte ich meine ganz eigene Lebensfrequenz gefunden, und nun strömte eine elektrisierende Energie durch meine Konturen und ließ mich von innen heraus aufleuchten.
Ob man die „Buchhändlerin“ als Referenz auf die Freude am Lesestoff liest oder eben als zeitgenössisches Zaubermärchen über die Verwandlung einer Durchschnittsfrau in eine Bücherfee, bleibt den Rezipienten überlassen.
Zur Übersetzung
Die Titelwahl trägt nicht unwesentlich dazu bei, wie man eine Publikation wahrnimmt. In der japanischen Variante entsteht der Eindruck eines recht originellen Erfahrungsberichts aus autobiographischer Perspektive einer Frau, die via Internet ein Selbstexperiment durchführt. Bei zahlreichen Begegnungen mit Unbekannten erprobt sie ihr Gespür für das Gegenüber mittels eines Lektürehinweises. Der deutsche Titel lässt eher auf eine möglicherweise neurotisch-depressive Fachkraft eines Büchergeschäfts schließen, die ihren öden Alltag durch eine Zauberbrille betrachtet, um derlei Zumutungen irgendwie zu ertragen. Der Text liest sich flüssig, wenngleich man wohl keine allzu große Mühe darauf verwendet hat, einen reizvolleren Tonfall für die Autorin und ihre Protagonistin zu finden. Stattdessen Übersetzungsdeutsch mit altbekannten Wendungen wie „verblüffen“, „schmunzeln“ oder banalen Formeln wie „wieder Boden unter den Füßen haben“, seinen „Ohren nicht trauen“ und die „Uhr kriecht auf zwei Uhr zu“ (ein schräges Bild; besser: die Zeiger der Uhr…). Die archaistische Prägung „Schwerenöter“ unterläuft den offensichtlich beabsichtigten flotten Zungenschlag, der neudeutsche Ausdruck „wie schön“ klingt leicht affektiert. Gerade die Memoiren einer Buchhändlerin hätten eine ästhetische Sprachebene bemühen dürfen. Man hört in letzter Zeit häufiger, dass manche Leser aktuelle Werke aus Japan lieber in englischer Übersetzung rezipieren.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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