Optimismus im Gedicht

Björn Hayer erkundet in seinem Essayband „Die neuen Schöpfer“ die zeitgenössische Lyrik und ermuntert zur Lektüre

Von Benjamin BühlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Bühler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedichte „schärfen“ das Gedächtnis, sie „legen Formeln in das Gedächtnis“, mit denen Wirklichkeiten neu erkundet werden können, so Ingeborg Bachmanns Antwort auf die von ihr selbstgestellte Frage „Wozu Gedichte?“.  Eine solche Erfahrung beschreibt auch Björn Hayer im Vorwort zu seinem Band „Die neuen Schöpfer. Texte zur zeitgenössischen Lyrik“ am Beispiel von Rainer M. Rilkes Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“. Auf die Formel „Du musst dein Leben ändern“ sei er in den verschiedensten Lebensphasen zurückgekommen, zwar habe sie sich immer wieder einer klaren Erkenntnis entzogen, intuitiv habe er sie gleichwohl erfasst. Inzwischen könne er jedoch als wissenschaftlich geschulter Leser und souveränes Ich aus Distanz auf dieses und andere Gedichte schauen. Die aus diesen beiden Perspektiven, der naiven und der geschulten, entstehende Spannung und Dynamik mache nach Hayer den Umgang mit Poesie erst interessant, das Wechselverhältnis zwischen ihnen ermögliche Erkenntnisbildung.

Aus dieser Doppelperspektive blickt Hayer – Literaturwissenschaftler, -kritiker sowie selbst Lyriker – auf die zeitgenössische Lyrik, und zwar ausgehend von einer steilen These: Die Lyrik der Spätmoderne begleite oder beschreibe die Gegenwart nicht nur, sie wolle ihr „visionärer“ Wegweiser sein. Dementsprechend sind die ersten drei Blöcke überschrieben mit „Von Vergangenheit und Zukunft“, „Politische Lyrik“ und „Anthropozän und Klima“, während der abschließende vierte Block „Porträts und Persönliches“ bietet.

Was dem Band gut gelingt ist das Aufzeigen der gesellschaftlichen Relevanz heutiger Lyrik anhand von Themen wie Umwelt, Migration, Geschlecht oder dem Verhältnis zu Tieren, was Hayer mit einer Fülle von Gedichten verschiedenster Autor:innen aufzeigt, weshalb der Band auch einen guten Überblick über die Breite gegenwärtiger Lyrik bietet. Das erste Kapitel greift den Titel auf, den er unter anderem mit Silke Scheuermanns Gedichten zu ausgestorbenen Tieren wie dem Mammut, Säbelzahntiger oder Dodo erläutert, was einerseits den Menschen als technokratischen Schöpfer und andererseits die Dichterin als poetische Schöpferin zeigt. Die damit erscheinende Melancholie angesichts der Ausbeutung der Natur, der Endlichkeit und des Verfalls führt nach Hayer jedoch keineswegs in die Sackgasse, vielmehr trage sie den Keim der Utopie in sich. Immer wieder hebt Hayer die positiven Momente der von ihm vorgestellten und behandelten Gedichte hervor, insofern ist ihm hoch anzurechnen, dass er die Gegenwartsdichtung nicht auf Katastrophismus und Fatalismus festschreibt, wie das in den letzten Jahren immer wieder geschehen ist. Allerdings fragt man sich dann doch auch, worin diese utopischen Elemente eigentlich genau bestehen sollen: Dass in Daniel Falbs Gedichten Neologismen und Vermischungen von Fachsprachen eine von Technologie gesteuerte Realität in ihrer sprachlichen Beschaffenheit imaginieren oder Thilo Krauses Gedichte einer Poetik der Globalisierung zuzuordnen sind, die visionär über das Zeitalter von Krieg, Abschottung und Neokolonialismus reichen, mag zwar prinzipiell richtig sein, doch bleiben Hayers Ausführungen hier zu oberflächlich. Auch die mehrmals aufgegriffenen romantischen Ideen des Poetisierens und der Vermischung bleiben wenig konkret – die zeitgenössische Dichtung habe „Lust an der Metamorphose“, im Gedicht gebe es kein Außerhalb der Sprache, es umfasse „Körper, Natur, Geist“, das heute vielfach verwendete Mittel des Zeilensprungs rekurriere in der Epoche des Klimawandels wieder auf die „Idee des frühromantischen Gleichgewichts“, erst die Poetisierung der Welt ermögliche die Entstehung von Neuem. Auch Theorien werden in diese vermeintliche Romantisierung der Gegenwartslyrik einbezogen, Bruno Latours Netzwerk-Theorie steht bei Hayer einer Dichtung gegenüber, die über die Beseelung von Kreaturen und Naturelementen Empathie vermittle – eine These, die Hayers eigenen Beispielen widerspricht. Hier hätte man sich einen analytischeren Zugang gewünscht, denn Hayer ist völlig zuzustimmen: die Gegenwartslyrik ergeht sich nicht bloß in Untergangsszenarien, sie leistet präzise und differenzierte Analysen gegenwärtiger Problem- und Konfliktlagen.

Überzeugend sind Hayers Überlegungen zur „Sprachfähigkeit als Schlüssel zur Selbstermächtigung“, denn erst indem für Phänomene, Erfahrungen und Prozesse Worte gefunden werden, können sie auch erfasst werden. So greife Dagmara Kraus den Wortschatz von Migrantinnen und Migranten für ihr eigenes Schaffen auf, José F.A. Oliver zerlege separatistisches Sprechen, während Ulrike Draesner und Oswald Eggers einen „Sound der Wildnis“ erschafften. In der Versprachlichung der unüberschaubaren Krisen, der rasant verlaufenden Transformationen durch Migration oder Klimawandel sowie dem Entfalten zukünftiger Möglichkeitsräume liegt, wie Hayer an vielen Beispielen aufzeigt, ein großer Beitrag zeitgenössischer Dichtung zu gegenwärtigen Diskussionen und Befindlichkeiten.

Wie schon deutlich wurde, orientieren sich die kurzen Kapitel –sie umfassen drei bis fünfzehn Seiten – vor allem an Motiven, Themen und Stichwörtern. Zwar kommen auch  Zeilensprünge oder Neologismen zur Sprache, insgesamt bleibt aber Formales eher im Hintergrund. Doch die Betonung des Utopischen und Optimistischen ergibt durchaus Sinn, denn der Band zielt eben nicht auf ein wissenschaftliches Publikum, sondern möchte Leser:innen für die aktuelle Lyrik interessieren.  Allerdings hätte der Band ein besseres Lektorat verkraftet. Dass der Frosch als Reptil ausgewiesen wird, mag verzeihbar sein, störend sind aber die vielen Wiederholungen: Der Begriff des Anthropozäns muss nicht bei jeder Erwähnung erklärt werden, vor allem aber wiederholen sich ganze Passagen, manche nahezu wortgleich. (So etwa Ausführungen zu den lyrischen Dodos von Scheuermann und Mikael Vogel, zur Traumatisierung durch Königs-Interpretationen oder zu einem Gedicht von Stefan George.)

Die Einträge zum letzten Abschnitt „Porträts und Persönliches“, behandelt werden unter anderem Marion Poschmann, Barbara Köhler, Elke Erb oder Louise Glück, liest man zwar gerne, aber man fragt sich, wie sie miteinander zusammenhängen. Überhaupt ist es schade, dass Hayer seine interessanten und vielfältigen Beobachtungen am Schluss nicht begrifflich sortiert und zusammenfasst.  

Wie ausgeführt, bietet der Band keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lyrik, das hat Hayer in Monographien wie Utopielyrik. Möglichkeitsdimensionen im poetischen Werk. Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke, Paul Celan (2021) oder dem Sammelband Gegenwartslyrik. Entwürfe - Strömungen – Kontexte (2021) bereits geleistet. Der vorliegende Band, der eine Reihe von Aspekten aufgreift, mit denen sich Hayer in seinen wissenschaftlichen Arbeiten auseinandergesetzt hat, will vor allem Lust auf die Lektüre zeitgenössischer Lyrik machen – und das gelingt ihm mit seinem breiten Panorama der Gegenwartsdichtung durchaus.

Titelbild

Björn Hayer: Die neuen Schöpfer. Texte zur zeitgenössischen Lyrik.
Gans Verlag, Berlin 2024.
250 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783946392415

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