Ein Jurist blickt auf Kafka
Rechtsanwalt Ulrich Fischer analysiert die unternehmerische Tätigkeit des tschechisch-deutschen Autors
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Schriften von Franz Kafka bleiben unveränderlich, die Meinungen über sie wechseln. Thomas Anz brachte mit diesen Worten vor einigen Jahren Auslegungs-, Verstehens- und Verständigungsprobleme von Forschenden bei der Lektüre der polyvalenten Texte auf den Punkt. Dass aber auch biografische Details aus dem Berufsleben des Autors bis heute Spielräume für Interpretationen bieten, kann durchaus überraschen. Ulrich Fischer, Frankfurter Rechtsanwalt und Spezialist für Arbeitsrecht, beleuchtet in seinem Buch „Asbest“ die Tätigkeit Franz Kafkas als Unternehmer.
Bekannter und vielfach untersuchter Fakt ist, dass der nachts schreibende Franz Kafka tagsüber als promovierter Jurist in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) in Prag arbeitete. Auch die parallele Tätigkeit zwischen 1911 und 1918 als geschäftsführender Gesellschafter des Familienunternehmens „Prager Asbestwerke Hermann & Co.“ sollte den am Leben des Autors interessierten Lesenden nicht unbekannt sein. Publiziert wurde hierzu jedoch deutlich weniger als zur Büroarbeit sowie der heimischen Textwerkstatt. Die Quellen- und Dokumentenlage im Hinblick auf Kafkas Rolle als Arbeitgeber bezeichnet Ulrich Fischer als „ungünstig“. Trotzdem gelang es Fischer, mit einer offenbar aufwendigen Recherche ausreichend Belege für neue Erkenntnisse zu finden und dabei seit Jahren bestehende Auffassungen zu korrigieren. Neu wird den allermeisten beispielsweise sein, dass der Beamte Franz Kafka mit höchster Wahrscheinlichkeit seiner Pflicht nicht nachkam, die Arbeit in der Fabrik als Nebentätigkeit anzumelden. Denn sie bildete einen Interessenskonflikt zu seiner Tätigkeit in der AUVA – und wäre Kafka daher nie genehmigt worden, belegt Fischer ausführlich und schlussfolgert: „Die von Kafka ausgeübte Position in seinem Unternehmen war eindeutig illegal.“ Es wird dank Fischers Untersuchung außerdem deutlich, wie ungenau manche Behauptungen zur unternehmerischen Tätigkeit Kafkas sind.
Nach Fischer publizierende Germanisten täten gut daran, sein Buch zu lesen, wenn sie ein Interesse daran haben, das hauptberufliche Wirken Kafkas korrekt abzubilden. Ein Beispiel: In seinem erst unlängst im Vorfeld des 100. Todestages von Kafka 2024 erschienenen Werk Kafka. Um sein Leben schreiben streifte Rüdiger Safranski rund zwei Jahre nach Erscheinen von Fischers Forschungsergebnissen die unternehmerische Tätigkeit Franz Kafkas nur oberflächlich. Safranski schrieb wie andere vor ihm, Kafka sei als „stiller Teilhaber“ hinzugezogen worden, als der Vater seinem Schwiegersohn „dabei half, eine kleine Asbestfabrik zu begründen“. Dies ist nicht nur ungenau, es ist falsch, zeigt die Lektüre von Fischers Buch auf. Kafka und sein Schwager Karl Hermann entwickelten die Idee zur Gründung eines Asbestfabrik gemeinsam. Sie interessierten sich für die Möglichkeiten der Verwendung von Asbest in der Flugzeugindustrie:
Bis zur tatsächlichen Firmengründung hatte Franz Kafka vielfache Gelegenheit, vom Fortschritt der Luftfahrt und den Abenteuern ihrer Pioniere zu lesen, aber auch von den in der neuen Industrie verwendeten Materialien zu lesen, erläutert Fischer. Kafka-Experten wie Thomas Anz – den Fischer nicht namentlich nennt – urteilten zuvor, man könne die Motivation Kafkas zu seinem unternehmerischen Engagement entweder als Anpassung an den ökonomischen Aufstiegswillen des Vaters oder als Versuch, sich einen finanziellen Freiraum zum literarischen Schreiben zu schaffen, werten. Fischer öffnet den Blick für eine dritte Möglichkeit: Kafka faszinierte der technische Fortschritt. Und am Konzept zur Firmengründung war Kafkas Vater offenkundig nicht beteiligt. Der Vater war froh über den erwachten Unternehmergeist seines Sohnes und steuerte später das Wagniskapital hinzu.
Kafka habe sich der Fabrik „so gut es ging“ verweigert, schreibt Safranski außerdem. Er entnahm seine These zweifellos einem Brief von Kafka an Felice Bauer vom 1. November 1912, in welchem diese Aussage zu finden ist. Jedoch setzte sich Kafka in darauffolgenden Briefen mit seiner Arbeit als Fabrikant weiter auseinander. In der Gesamtschau von Ulrich Fischer ergibt sich ein differenzierteres Bild: Zwar lastete der Arbeitsdruck schwer auf Kafka. Fischer betont aber, dass Kafka eine Gesellschafterstellung innehatte und diese sehr ernst nahm. Er belegt Kafkas „kurzzeitig aufflackernde Begeisterung“ für das Asbestwerk. Virtuos verknüpft Fischer Tagebucheinträge Kafkas mit einer Briefkorrespondenz zwischen Max Brod und Kafkas Mutter. So wird das Geschehen lebendig. Der Autor berichtet von den Gängen in die Fabrik, den belegbaren Aktivitäten und schließlich „erregten Auseinandersetzungen im Kreis der Familie“, Vorwürfen wegen schlecht laufender Geschäfte bis zum „Geschrei in der Wohnung“. Denn das eingelagerte Geld war schnell aufgebraucht, ein angestellter Werkmeister hatte den „miserablen Geschäftsbetrieb“ nicht im Griff. Kafka half, formulierte Bettelbriefe an seinen Onkel in Madrid, geriet hernach in Panik und beschrieb das Geschäftsgebaren, für welches er haften würde, als „betrügerische Wirtschaft“. Die Belastung trieb Kafka bis an den Rande des Selbstmords.
Mit juristischer Genauigkeit zeichnet Ulrich Fischer sowohl die Firmengründung als auch den Betriebsübergang von den persönlich haftenden Gesellschaftern der Familie Kafka zu neuen Unternehmern – „erfahrene Manager internationaler Konzerne“ – zwischen 1917 bis Mai 1918 nach. Er blickt in das Handelsregister, prüft die Schriftsätze beim Handelsgericht sowie Datierungen der einzelnen Schriftstücke und erklärt alle rechtlichen Schritte. Viele Details wie die Wahl der Firmenbezeichnung oder die Erarbeitung des Gesellschaftervertrages sind „bisher in der Kafka-Forschung kaum analysiert worden“, wundert sich der Autor und versucht die Lücken zu füllen. Ulrich Fischer weiß seine Thesen dabei stets gründlich zu belegen. Und wo er aus Gefundenem Rückschlüsse zieht, die keine Beweiskraft entfalten, „weil es kaum verlässliche Quellen gibt“, erläutert er auch dieses: Ihm fällt auf, dass eine Reiseentscheidung von Kafka mit Max Brod zu einer Flugschau in Italien nach dem Erscheinen entsprechender Artikel in der Zeitung getroffen wurde. Unter anderem der Germanist Peter Demetz hätte gemeint, dass die Freunde erst vor Ort in Riva die Entscheidung zum Besuch der Schau getroffen hätten; dies „erscheint mir unwahrscheinlich“, widerspricht Fischer höflich und vorsichtig. Er zitiert aus Tages- und Wochenzeitungen wie dem Prager Tagblatt und Bohemia, welche Kafka abonniert hatte. Diese scheinbar marginale Gebrauchsliteratur, welche sich auf Kafkas Schreibtisch häufte, hatte eine zentrale Bedeutung für den Autor. Indem Ulrich Fischer eine Verbindung zwischen erschienenen Artikeln und der Korrespondenz zwischen Kafka und Brod bis zum Aufbruch nach Italien erkennt, belegt er die immense Bedeutung der Zeitungslektüre, der Textverarbeitung Kafkas, zwei Jahre vor der faszinierenden Untersuchung hierzu von Andreas Kilcher (Kafkas Werkstatt), die 2024 erschien – ein weiterer bemerkenswerter Erfolg Fischers.
Zu erwähnen bleibt, dass die Kafka-Forschung den wertvollen Beitrag Fischers möglicherweise dem Corona-Virus verdankt. Ulrich Fischer arbeitete bis 2020 als Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. Erst die Pandemie habe ihm Zeit-Freiräume für die umfangreichen Recherchen und das Schreiben des Buches geschaffen. Ohne die Pandemie wäre sein Buch vielleicht nie geschrieben worden. Etwas Positives ist also aus einer für die meisten sehr belastenden Zeit entstanden – das gelungene Experiment, sich als Jurist in die Literaturwissenschaft zu wagen.
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