Weltverlust oder Realitätsgewinn?

In ihrem Band „Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung“ präsentiert Alexandra Schauer eine komplexe Integration zeitgenössischer Gesellschaftsanalysen

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert: Armut, Säuglingssterblichkeit und Analphabetismus sind weltweit, Gewalt und Kriminalität in den europäischen Ländern deutlich zurückgegangen. Die Lebenserwartung ist gestiegen. Menschenrechte werden besser geschützt. Diese Fortschritte aber – so zeigen neuere Untersuchungen – werden nicht wirklich wahrgenommen: Mehrheitlich denken die Menschen – vor allem in den hochentwickelten Industrieländern und dort insbesondere die Intellektuellen –, dass die Welt gewalttätiger und hoffnungsloser geworden ist, dass moralische Werte verfallen. Das Vorherrschen von Verfallsszenarien belegt auch Schauers eindrucksvolle Analyse sozialwissenschaftlicher Deutungen des historischen Wandels von der Moderne zur Spätmoderne. Sie bestimmt ihn als Weg von der Entdeckung der Welt zu ihrem Verlust. Unter ‚Welt‘ versteht sie, Hannah Arendt folgend, einen gesellschaftlich geteilten Verständigungs- und Handlungsraum, wobei sie – unter Rekurs auf Marx und die kritische Theorie – auch die sozio-ökonomische Perspektive einbezieht. Die Moderne setzt ein mit der Aufklärung und der Herausbildung der Öffentlichkeit: Gemeinsam handeln die Bürger Vorstellungen ihres Zusammenlebens und politische Umsetzungsstrategien aus. Zunehmend jedoch scheint die Zukunft verdunkelt, der Glaube an den Fortschritt und die politische Gestaltbarkeit der Gesellschaft schwinden. An drei Themenbereichen – ‚Zeit‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚Stadt‘ – zeichnet Schauer die beiden Epochenumbrüche nach:

Im ersten Hauptteil geht es um den Wandel des Zeitbewusstseins, den Schauer an Veränderungen der Zeitmessung veranschaulicht. Die Sonnenuhr steht für das an natürlichen Abläufen orientierte zyklische Zeitverständnis der Antike. Im frühen Mittelalter fügte die Heilserwartung ein Moment der Gerichtetheit hinzu. Mit dem Zurücktreten dieser eschatologischen Gewissheit, dem Aufstieg des naturwissenschaftlichen Denkens, der Fülle technischer Erfindungen und der Ausbreitung wohlstandsfördernder Handelsbeziehungen entstanden dann ein geschichtliches Bewusstsein und der Fortschrittsglaube: Der Mensch kann seine Geschichte in eine offene Zukunft hinein entwerfen und aktiv gestalten. Diesen Wandel im Zeitbewusstsein vom Verständnis der natürlichen Zeitordnung als ‚Zeit Gottes‘ zu einer messbaren, teilbaren und kalkulierbaren ‚Zeit der Händler‘ bindet Schauer, Jacques Le Goff folgend, an die Erfindung der mechanischen Uhr: Als öffentliche Kirchturmuhr synchronisierte sie im städtischen Leben die frühkapitalistischen Produktionsprozesse für den Markt. Mit Fernverkehr und Geldwirtschaft entwickelte sich dann der Handelskapitalismus mit dem Imperativ effizienter Zeitnutzung und der Erfindung der tragbaren Taschenuhr. Schließlich trieb die industrielle Revolution die Ökonomisierung der Zeit auf die Spitze: Die Stechuhr unterwarf in den Fabriken die Arbeitskräfte einem rigiden Disziplinarregime.

In der Spätmoderne setzt sich mit der digitalen Revolution, dem flexiblen Kapitalismus und der globalen Weltzeit ein Zeitregime globaler Gleichzeitigkeit und Kurzfristigkeit durch: Öffentliche Uhren verschwinden. Die Fortschrittshoffnung erodiert: Die Zukunft ist von Risiken und Gefahren verdunkelt. Und immer häufiger führt die Suche nach Sinn und Orientierung zu einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit.

Der zweite Hauptteil beschreibt, wie sich die Öffentlichkeit und damit der politische Gestaltungswille entwickelt und verfällt. Am Beginn der Moderne steht die Aufwertung des Privaten, die Schauer am Wandel der Wohnverhältnisse veranschaulicht: Das ‚ganze Haus‘ mit einem Wohnraum als Ort des gemeinsamen Arbeitens, Essens und Schlafens, löste sich auf. Jedes Familienmitglied erhält ein eigenes Zimmer. Freiwillig eingegangene persönliche Beziehungen, wie Seelenfreundschaften oder Liebesheirat, gewinnen an Bedeutung. In den literarischen Salons eigneten sich die Privatleute im Streit über Geschmacksurteile Kants Maxime des Selbstdenkens an: Gültig ist allein das aus individueller Einsicht und in gemeinsamer Verständigung Erkannte. Die Idee kollektiver Selbstgesetzgebung war geboren. Aber entgegen ihren proklamierten Prinzipien konstituierte sich die bürgerliche Öffentlichkeit zunächst als geschlossene Gesellschaft der Besitzenden. Der Klassenkonflikt wurde nicht – wie von Marx erhofft – mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern der Ausweitung politischer Beteiligungsrechte beantwortet. Die Gesellschaft erwies sich als gestaltbar.

Im Übergang zur Spätmoderne verliert die Öffentlichkeit an Bedeutung und das Private erfährt eine Entgrenzung. Der flexible, finanzmarktgetriebene Kapitalismus fordert nicht mehr Pflichterfüllung, Gehorsam und Disziplin, sondern Eigenverantwortung und Kreativität – das ‚unternehmerische Selbst‘. Gesellschaftliche Leistungsanforderungen werden verinnerlicht und Strukturprobleme persönlicher Verantwortlichkeit zugerechnet. An die Stelle von Solidarität mit Gleichgestellten treten Statuskonkurrenz, Distinktionsbedürfnisse und Selbstoptimierungsanstrengungen. Auf Scheitern reagiert der spätmoderne Mensch mit Erschöpfung: Depressionen und Burnouts nehmen zu. Oder er sucht Sündenböcke und antwortet mit Wut und der Aufwertung der Eigengruppe. Solch selbstzerstörerischer Individualismus oder rückwärtsgewandter Kollektivismus treiben ihn in die atomisierte Erlebnisgesellschaft oder in destruktive Gemeinschaften. Die Zukunft verdüstert sich, die Welt gilt als nicht mehr beeinflussbar.

Der dritte Hauptteil skizziert die Stadtentwicklung. In den frühmittelalterlichen Städten gab nicht mehr die Sonne, sondern die Kirchturmuhr den Takt vor. Fremde, etwa Handwerker und Händler, zogen zu. Die Zusammenschlüsse der Zünfte und die stadtbürgerliche Selbstverwaltung etablierten ein republikanisches Gegenmodell zur aristokratischen Feudalherrschaft. Die Erfolge der Arbeiterbewegung stützten den Glauben an politische Einflussmöglichkeiten und Fortschritt. Die Fließbandproduktion bewirkte ein starkes Wirtschaftswachstum. In den Städten spiegelt sich dieser Aufschwung in Wolkenkratzern und Prachtbauten in den Innenstädten sowie in den angrenzenden endlosen Reihen von Einfamilienhäusern – in der Entstehung einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft.

Ab Mitte der 70er Jahre trat die flexible Produktion in schlanken Unternehmen an die Stelle standardisierter Massenproduktion in großen Fabriken. Die Globalisierung verschärfte die Konkurrenz. Die neoliberale Fixierung auf die Macht der ‚unsichtbaren Hand‘ untergrub die Vorstellung gesellschaftlicher Gestaltbarkeit. Soziale Ungleichheit und Armut nahmen zu. Die Fortschrittshoffnung schwand. Der Niedergang zeigt sich besonders stark in den USA: Die Zahl schrumpfender Städte wie auch die expandierender Metropolen als Zentren des internationalen Handels steigt rapide an. Die soziale Frage kehrt zurück: Slums wachsen. Reiche ziehen sich in gated communities zurück – in Sicherheitszonen mit Videoüberwachung, Codekarten und Privatpolizei. Die Mauern, die vordem die Stadt nach außen abgrenzten, werden im Inneren wieder aufgerichtet.

Schauer führt eine schier unübersehbare Fülle detaillierter Informationen wie auch globaler Deutungen aus Philosophie, Geschichte, Soziologie, Politologie, Ökonomie, Technikwissenschaft zusammen. Der Text besticht durch seine klare Gliederung, präzise Einführungen und knappe Zusammenfassungen bei den einzelnen Abschnitten sowie durch anschauliche Konkretisierungen abstrakter Thesen und einprägsame Fotos.

Doch melden sich beim Lesen auch an der einen oder anderen Stelle Zweifel. Sie betreffen die theoretische Begrifflichkeit und empirische Triftigkeit sowie die prognostische Gewichtung und normative Bewertung einzelner Aspekte. Einige Beispiele seien angeführt. Zeitmessung und Zeitverständnis sind analytisch und empirisch stärker voneinander unabhängig als Schauer nahelegt. In den Klöstern wurde, so Gerhard Dohrn-van Rossum, (Zeit der Kirche – Zeit der Händler – Zeit der Städte, 1988) auch die Zeit Gottes schon mit Sanduhren oder Waagen sehr präzise gemessen. Und Uhrentürme wurden nicht primär im Blick auf Regulationsbedürfnisse des öffentlichen Lebens errichtet. Vielmehr sollten sie der Selbstdarstellung der Fürsten dienen, das Ansehen konkurrierender Städte mehren und deren Anspruch auf Autonomie bekräftigen. Auch Schauers Diagnose der Überforderung in der Spätmoderne wirft Fragen auf: Fortschreitende Individualisierung habe das Verständnis der Einbettung der eigenen Existenz in gesellschaftliche Verhältnisse untergraben, soziale Solidarität sei erodiert und Scheitern könne nur noch als persönliches Versagen erfahren werden. Diese Annahmen sind nicht zwingend. Schon der Verweis auf die Zunahme von Depressionen ab den 2010er Jahren ist bestreitbar: In einer sorgfältigen Metaanalyse weist Martin Dornes (Macht der Kapitalismus depressiv?, 2016) sie als Folge einer Ausweitung der Definition des DSM (das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ist der offizieller Diagnosekatalog der American Psychiatric Association) aus, die seit 2013 auch leichtere Stimmungsstörungen einbezieht. Zudem ist die ‚Anzeigebereitschaft‘ gestiegen. Bei der Erfahrung individuellen Scheiterns bietet ‚Krankheit‘ also dem ‚erschöpften‘ postmodernen Menschen eine sozial akzeptierte und – wie zunehmende Selbstdiagnosen von ADHS nahelegen – auch ausbaufähige Alternative zur selbstzerstörerischen Schuldzuschreibung. Den gleichen Effekt dürfte die zunehmende Verbreitung genetischer Erkenntnisse zeitigen.

Auch um das Wissen um die Bestimmungskraft gesellschaftlicher Verhältnisse ist es wohl nicht so schlecht bestellt, wie Schauer suggeriert. Dies zeigt sich etwa in den virulenten öffentlichen Debatten über Chancenungleichheit, in den Forderungen nach einer geschlechtergerechten Sprache und nach dem Eingeständnis privilegierter Positionierungen.

Und trotz wachsender Vermögensungleichheit zeigt sich in sozialstaatlichen Arrangements nicht der unterstellte völlige Verfall sozialer Solidarität: So gibt es etwa in Deutschland viele Arbeitskämpfe und die Sozialausgaben sind von knapp einem Fünftel in den 1950ern auf heute mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts angestiegen. Auch widersprechen ökologische Protestbewegungen, internationale Klimavereinbarungen und breites zivilgesellschaftliches Engagement der Unterstellung politischer Apathie. So fragt man sich: Wie repräsentativ sind einzelne beobachtete Phänomene? Finden sich die beschriebenen Hyperindividualisierungstendenzen der kreativen Klasse auch bei dem Rest der Bevölkerung? Sind die Folgen der neoliberalen Politik der USA bruchlos auf Europa übertragbar?

Entscheidender noch: Ist Schauers Wertung überzeugend? Zwar trifft sie in der Tat ein – besonders unter jüngeren Befragten vorherrschendes – Grundgefühl: Zukunftshoffnungen schwinden, Ängste vor wachsender Unübersichtlichkeit und Unbeherrschbarkeit nehmen zu. Doch solche, überdies von populistischen Strömungen gezielt geförderte, Stimmungen als ‚Verlust der Welt‘ zu deuten, scheint zu pauschalisierend. Mit dem Inkrementalismus, d. h. der Idee eines Schritt-für-Schritt-Politikstils, könnte man das Schwinden der Vorstellung „die Welt könne auch ganz anders sein“ auch als Lernschritt verstehen: Bei komplexen Systemen – so die zentrale These – stehen nicht eine Totalplanung und Kämpfe um ganzheitliche Lösungen an, sondern die Errichtung einer dauerhaften Fehlerkorrektur. Auch Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde82003) plädierte nachdrücklich für eine sich durch Irrtumskorrekturen langsam fortentwickelnde ‚offene Gesellschaft‘. Klaus von Beyme (Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997) warnte vor ‚Steuerungseuphorie‘ und riet zur ‚Planungsskepsis‘. Und nicht zuletzt ist auch die Anerkennung der Grenzen des Machbaren, der ‚Untilgbarkeit des Zufälligen‘ (Odo Marquard), nicht ganz unangebracht. Kurz: Man muss die ‚spätmodernen‘ Sichtweisen nicht als ‚Verhärtung des Wirklichkeitssinns‘, nicht als ‚überwertigen Realismus‘ bewerten. Man kann die Verabschiedung von menschlicher Selbstüberschätzung, überzogenem Machbarkeitswahn und illusionären Zukunftshoffnungen sowie die Erkenntnis negativer Folgen von Fortschritt auch als Realitätsgewinn sehen. Schauer weiß um solche Einwände. Mit Marx betont sie, dass Menschen ihre eigene Geschichte „weder unter selbstgewählten Voraussetzungen noch mit vorhersehbaren Konsequenzen“ machen. In dieser Einsicht sieht sie „ein Wahrheitsmoment“, eine „stärkere Berücksichtigung der Dialektik, mit der sich die moderne Aneignung der Welt als Handlungsraum vollzogen hat.“ Doch dieses Zugeständnis bleibt eher rhetorisch: Letztlich gilt aus ihrer Sicht: Fehlt „das Vermögen, das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte“, bzw. – leicht überpointiert formuliert – der Glaube an die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs und an die vollständige Formbarkeit der Gesellschaft, ist der Mensch ohne Welt.

Ja, der Text enthält Wertungen, die Widerspruch hervorrufen mögen. Ja, einige Analysen sind überzeichnet. Das betrifft insbesondere den mittleren Hauptteil, in dem Schauer soziologische Gesellschaftsanalysen darstellt. Schließlich gefallen Soziologen sich in Gesellschaftserfindungen. Davon zeugen 18 in ihrer Literaturliste angeführte Buchtitel, die u. a. eine vor-, nach-, industrielle, bürgerliche, gespaltene, eine Erlebnis-, Netzwerk, Abstiegs-, Arbeits-, Externalisierungs-, Klassengesellschaft, eine Gesellschaft der Angst, des Spektakels, der Singularitäten ausrufen. Diese Liste ergänzt Schauer dann noch durch ihr eigenes Konzept einer ‚spätmodernen Vergesellschaftung‘. Dass solch zugespitzte Etikettierungen der komplexen, in sich je widersprüchlichen gesellschaftlichen Realität nicht gerecht werden können, folgt schon aus ihrer Vielzahl. Schauer ist sich auch dieser Problematik bewusst. Aber indem sie darauf verzichtet, den Geltungsbereich der verschiedenen Gesellschaftsdiagnosen zu bestimmen, bleibt sie deren Einseitigkeiten ausgeliefert. Und dennoch: Dem zeitgeschichtlich interessierten Leser verspricht es Gewinn, sich mit Schauers hoch informativer, anregender und faszinierender Zusammenschau einer Vielfalt von Perspektiven auseinander zu setzen.

Auswahlbibliografie

Dohrn-van Rossum, Gerhard: „Zeit der Kirche – Zeit der Händler – Zeit der Städte. Die mechanische Uhr und der Wandel des Zeitbewußtseins im Spätmittelalter“, in: Rainer Zoll (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit (= edition suhrkamp 1411), Frankfurt am Main 1988, S. 89-119.

Dornes, Martin: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 2016.

Popper, Karl: Der Zauber Platons (= Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1), Tübingen 82003.

Popper, Karl: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen (= Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2), Tübingen 82003.

von Beyme, Klaus: Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
704 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299739

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