Das Medizinische ist politisch

Susanne Boehm hat eine informative und gründliche Untersuchung über die Geschichte des Berliner Frauengesundheitszentrums geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1974, also vor genau fünfzig Jahren wurde in West-Berlin das Feministische Frauengesundheitszentrum (FFGZ)  gegründet. Erst drei Jahre später konnte es in eigene Räume einziehen und von Anfang der 1980er Jahre an residierte es in einem der zahlreichen besetzen Häuser Kreuzbergs. Dabei entwickelte es sich schon bald zu einer der wichtigsten Einrichtungen der deutschen Frauenbewegung.

Anhand dreizehn anonymisierter Einzelinterviews und einem über drei Stunden andauernden Gruppengespräch mit ehemaligen Mitarbeiterinnen verschiedener ‚Generationen’ des Zentrums sowie einigen Archivalien, Publikationen und den wenigen bereits „bestehende[n] Systematisierungsversuche[n] des Forschungsdiskurses“ geht die Soziologin Susanne Boehm der Historie und „gesellschaftspolitischen Bedeutung“ des FFGZ nach. Denn seine Geschichte kann ihr zufolge exemplarisch für die der gesamten Frauengesundheitsbewegung Deutschlands stehen, in der die Autorin aus guten Gründen nicht nur einen „eigenen Zweig der Frauenbewegung“ ausmacht, sondern auch den „Grundstein für normativen Wandel“ im bundesdeutschen Gesundheitssystem. Sicher handelt es sich bei dem Zentrum um ein tragfähiges Beispiel für die Entwicklung der feministischen Frauengesundheitsbewegung in Deutschland, wenngleich die Situation in (West-)Berlin bis zum Fall der Mauer 1989 doch eine sehr besondere war.

Die Methode ihrer Untersuchung bezeichnet Boehm als „historisch-rekonstruktiv“, wobei ihr wichtigster theoretischer Gewährsmann Michel Foucault ist, auf dessen Konzepte des Bios-Prinzip und der Bio-Macht sie im der eigentlichen Untersuchung vorangestellten theoretischen Teil ebenso mehrfach Bezug nimmt wie auf seine Vorlesungen zur Gouvernementalität. Relevanter aber ist, dass sie die Grounded Theory Methodology  anwendet, der gemäß die Erhebung und Interpretation von Daten „nicht anhand der Schemata Hypothese und deren Überprüfung“ erfolgt, sondern ein „geöffneter Blick bei[behalten]“ wird.

Bevor sich Boehm der konkreten Geschichte des FFGZ zuwendet, wirft sie einen durchaus genauen Blick auf die Geschichte der deutschen Frauengesundheitsbewegung insgesamt, die insbesondere in ihren Anfängen aufs engste mit der US-amerikanischen verknüpft war. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung hierfür war eine längere Rundreise, die einige Vertreterinnen der schon weiter vorangeschrittenen US-amerikanischen Frauengesundheitsbewegung durch die BRD und nach (West-)Berlin führte.

Der dreigliedrige Hauptteil der vorliegenden Untersuchung unternimmt es, das FFGZ „in seinen Schattierungen zu sehen, die in den Jahrzehnten seit der Gründung den Kern, aber auch den Wandel der Einrichtung erkennbar werden lassen“. Dabei geht Boehm zunächst in aller Ausführlichkeit auf die Vor- und Frühgeschichte des FFGZ ein, in welcher sowohl der Zentralrat zur Befreiung der Frauen wie auch die aus diesem hervorgegangene Gruppe Brot und Rosen eine bedeutende Rolle spielten. In beiden hatte die feministische Filmschaffende Helke Sander eine zentrale Rolle in. So wird sie von Boehm aus gutem Grund als: „Schlüsselfigur in der Schnittstelle zwischen Studierendenbewegung, Frauenbewegung, Kinderladenbewegung und der späteren Frauengesundheitsbewegung“ gewürdigt.

Im Zentrum von Bohems Ausführungen zur Vor- und Frühgeschichte des FFGZ steht der in den USA entwickelte und von deutschen Feministinnen übernommene „Self-Help-Ansatz“. Hier wie dort führte er bald zu Selbsthilfegruppen und Frauengesundheitszentren, die eine „politische Grundsatzarbeit entwickelten“. Denn wie die Feministinnen erkannten, „bündelten“ sich in der damals noch durchgängig männlich besetzten Gynäkologie „mehrere Ebenen“ der Diskriminierung von Frauen „wie in einem Brennglas“. Mit der „gynäkologischen Selbsthilfe“ bildeten die gesundheitspolitisch tätigen Frauenrechtlerinnen eine Protestform heraus, die auf „radikale[] Eigenständigkeit“ von Frauen setzte und damit zugleich die „Autoritäten aus Medizin und Pharmazie“ ganz grundsätzlich infrage stellte.

Die Anfangsphase des FFGZ war naheliegenderweise durch eine Aufbruchsstimmung voller „Elan, Eifer, Neugierde und Verspieltheit“ geprägt. Zugleich war das Zentrum wie auch die Frauengesundheitsbewegung überhaupt „offene[n] Anfeindungen durch Politiker:innen, vor allem der CDU“ ausgesetzt, bei denen der Vorwurf, die Frauen im FFGZ seien lesbisch, nicht fehlen durfte. Dabei schwang die Anschuldigung zumindest unausgesprochen mit, die im Zentrum und bei Rundreisen angebotenen Anleitungen und Durchführungen vaginaler (Selbst-)Untersuchung dienten dem sexuellen Voyeurismus der Feministinnen, welche die Hilfesuchenden zur Befriedigung ihrer sexuellen Lust missbrauchten. Die Akteurinnen des FFGZ selbst sahen in den mithilfe eines Spiegels und eines Spekulums ermöglichten Selbstuntersuchungen eine „Bestärkungspragmatik“ für die Frauen und zugleich eine „politisierende Aktionsform“. Noch in den durchgeführten Interviews werden die gelegentlich in Gruppen durch- und vorgegeführten Vaginaluntersuchungen rückblickend als die „eigentlich radikale“ Praxis und Politik der Frauengesundheitsbewegung in den 1970er Jahren hervorgehoben. Ein weiterer „zentraler Aspekt“ der Arbeit im FFGZ war zu dieser Zeit, „dass Frauen angstfrei und in vertraulichem Setting über das Absaugen der Gebärmutterschleimhaut selbst entscheiden“ konnten. Insgesamt standen die Gesundheit, die Sexualität und die Körperlichkeit der Frauen im „Fokus“ des FFGZ, dessen Beratungen auf die „umfassende Stärkung von Frauen als Subjekte“ zielte, indem sie ihnen „unabhängige Gesundheitsinformationen“ anboten, um sie so zu befähigen, „selbst aktiv zu handeln“.

Doch waren die Frauen im FFGZ trotz des allen gemeinsamen Interesses von Beginn an keine „homogen[e]“ Gruppe. So unterschieden sich etwa die Herkunft der Frauen, ihr sozialer und politischer Hintergrund sowie ihre jeweils „individuelle Motivation“, was im Laufe der Zeit zu verschiedenen internen inhaltlichen Auseinandersetzungen führte. Hinzu kamen Kontroversen mit anderen Gruppen der Frauengesundheitsbewegung wie etwa dem ebenfalls in Berlin ansässigen „feministischen Selbsthilfeladen Im 13. Mond“. So kam es wiederholt zu Meinungsverschiedenheiten mit den dortigen „Spirifrauen“, wie der Esoterik zugeneigte Frauen damals genannt wurden, und den „Politfrauen“ des FFGZ, in dem es zwar auch einzelne „Spirifrauen“ gab, die jedoch nur eine kleine Minderheit bildeten.

Zudem begann sich die theoretische (und praktische) Ausrichtung der Gruppe im Zentrum langsam zu verschieben. Dies lag nicht zuletzt an personellen Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollzogen. Die damit zusammenhängenden „Diskussionen, in denen neben der Arbeitsweise im Zentrum auch Ideale des Arbeitens und Lebens zur Sprache kamen, bedingten Brüche im Miteinander“, die sich auch in den Beiträgen im ab 1976 erscheinenden zentrumeignen Periodikum Clio – die Zeitschrift für Frauengesundheit widerspiegelten. Überdies „führte“ die „Kluft zwischen politischen Ansprüchen der Kollektivität“ und deren alltäglicher Realisierbarkeit zu „großen Herausforderungen“. Denn es zeigte sich, dass sich die Maxime der Gründungsphase, der zufolge alle Frauen alles machen, in der Praxis auf Dauer nicht durchhalten ließ. Denn das Spektrum der Aufgaben und Tätigkeiten des FFGZ erweiterte sich stetig und erforderte eine zunehmende Spezialisierung.

Zudem kam es wie in fast allen links-autonomen Projekten um 1980 zu Auseinandersetzungen um die Frage Autonomie versus Staatsknete, womit die Annahme von Geldern „aus öffentlicher Hand“ gemeint war, mit der eine gewisse Abhängigkeit einherging. Diese war nicht nur inhaltlicher Art war, sondern hing auch damit zusammen, dass die finanziellen Zuschüsse immer nur befristet gewährt wurden. Boehm betrachtet das Zentrum als exemplarisches Beispiel „jener Frauenprojekte, das sich schließlich für die Arbeit mit ‚Staatsknete’ […] entschied[en] und hiermit einen internen Veränderungsprozess einging[en]“ .Ungeachtet aller Fragen, Kontroversen und Auseinandersetzungen blieben die „Kernanliegen“ des FFGZ in den 1970ern und 80ern doch dieselben: die „Bestärkung leiblicher Autozeption“ von Frauen, ihre auf Selbstermächtigung zielende Beratung in frauenspezifischen Gesundheitsfragen und die „Solidarisierung mit der Bewegung gegen den §218“.

In der ersten Hälfte der 1980er Jahre befand sich das FFGZ „auf einem Höhepunkt der eigenen Einbettung in West-Berlins Alternativszene“. Dazu hatte nicht zuletzt beigetragen, dass das Zentrum seine Zelte in einem der damals nicht weniger als 169 besetzten Häuser in Berlin aufgeschlagen hatte, was allerdings auch mit einer gewissen Unsicherheit einherging. Denn es musste jederzeit damit gerechnet werden, von der Polizei gewaltsam geräumt zu werden.

Eine weitere Kontroverse wurde in den späten 1980er Jahren von außen an das Zentrum herangetragen, denn von 1987 wurde es von seinem „Umfeld“ gedrängt, das „Etikett ‚feministisch’“ abzulegen. Bekanntlich ist es dieser Forderung allerdings nicht nachgekommen Dafür aber hat sich das Zentrum zunehmend professionalisiert und erarbeitete in der ersten Hälfte der 1990er Jahre „pointierte Gegenwartsanalysen zur Gesundheitspolitik“, die der Autorin zufolge sogar „die Machtfrage stellten“.

Legt Boehm die Entstehungszeit und die ersten beiden Jahrzehnte des FFGZ ausführlich dar, so wird die Zeit von 1995 bis 2015 in einer knappen „Kurzbetrachtung“ kaum mehr als kursorisch umrissen.

Festzuhalten aber bleibt, dass sich im Laufe der Zeit im FFGZ zwar einige – auch einschneidende – Änderungen vollzogen haben. Sein zentrales Anliegen jedoch über die gesamten 50 Jahre seiner bisherigen Existenz hinweg blieb dasselbe: die „Selbstbestimmung der Frauen“ in gesundheitlichen Fragen zu stärken.

Insgesamt hat Boehm eine denkbar informative Untersuchung zur Historie des FFGZ vorgelegt. Bedauerlicherweise leidet ihre aus einer Dissertation hervorgegangene Arbeit allerdings an allen gängigen Schwächen einer Qualifikationsarbeit (Zum Beispiel ständige Wiederholungen oder langatmige Ankündigungen, was im jeweiligen Kapitel verhandelt werden wird.) Hinzukommt eine besondere Eigenheit der oft umständlichen Satzbildungen Boehms, von der hier nur ein Beispiel angeführt werden soll:

Es bleibt allerdings offen, inwieweit die Texte von Wagner und Mader auch die maßgeblichen waren, die zur Bewusstwerdungsthematik rezipiert wurden in frauenbewegten Kreisen der Bundesrepublik.

Sie erschweren den Lesefluss ebenso wie die wörtliche Rede der oft ausgesprochen langen Zitate aus den Interviews mit Akteurinnen des FFGZ, die stets mit all ihren zahlreichen Wortwiederholungen, unvollendeten und kaputten Sätzen zwar die Authentizität der Wiedergabe wörtlicher Rede erhöhen mögen, aber sehr ermüdend zu lesen sind.

Positiv zu vermerken ist hingegen, dass Boehm ihre Zitate stets ausweist – abgesehen von einem Fall: Die Parole „Feminismus ist die Theorie – Lesbischsein die Praxis“ bleibt ohne Quellenangabe. Allerdings war der Spruch damals im Munde aller – wie sie damals genannt wurden – Politlesben, womit Frauen gemeint waren, die aus politischen Gründen ausschließlich sexuelle Beziehungen zu Geschlechtsgenossinnen eingingen. Es ist also nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt, dass Boehm hier auf eine Quellenangabe verzichtet. Denn der Spruch wird gemeinhin Ti-Grace Atkinson zugeschrieben, die ein Jahr nach Jill Jonstons 1973 erschienenem Buch Lesben Nation mit ihrer Essaysammlung Amazon Odyssey ein zweites bedeutendes Werk des lesbischen Separatismus veröffentlichte. Tatsächlich aber hat Atkinson ein wenig anders formuliert. In einer 1970 gehaltenen Rede vor dem New Yorker Zweig der Daughters of Bilitis sagte sie: „Feminism is a theory; but Lesbianism is a practice.” Ein scheinbar nur kleiner Unterschied, der die Aussage aber entscheidend verändert. Gut also, dass Boehm den von ihr zitierten Spruch nicht Atkinson zugeschrieben hat, sondern offenließ, von wem er stammt. Es dürfte Anne Koeds 1971 erschienenen Schrift Lesbianism and Feminism gewesen sein, in der er erstmals auftaucht. In ihrer Schrift stellt Koed die Sentenz zwar in unmittelbare Beziehung zu Atkinson, ohne sie ihr allerdings direkt als Zitat zuzuschreiben.

Wie dem auch sei. Wichtig ist hier vor allem, dass Boehm eine gründliche Arbeit vorgelegt hat, die bald zum Standardwerk über die Geschichte des FFGZ avancieren dürfte und zudem deutlich macht, inwieweit die Entwicklung des Zentrums exemplarisch ist – und zwar nicht nur für die Frauengesundheitsbewegung, sondern in Manchem auch für autonome linke Initiativen der 1970er Jahre überhaupt.

Titelbild

Susanne Boehm: Die Frauengesundheitsbewegung. Kritik als Politikum.
Transcript Verlag, Bielefeld 2024.
396 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783837670325

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