Die Wahrheit erfinden
Der von Jan-Pieter Barbian und Erhard Schütz herausgegebene Tagungsband „Die Traglast der Vergangenheit” bietet eine gelungene Übersicht zu Ralf Rothmanns Werk
Von Thomas Merklinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Frühling vergangenen Jahres, kurz vor seinem 70. Geburtstag, hat Ralf Rothmann unter dem Titel Theorie des Regens Notate aus mehreren Schaffensjahrzehnten zusammengetragen und verbindet darin kleinere biographische Erzählungen mit Reflexionen und poetologischen Überlegungen. In dieser persönlichen Rückschau auf sein Werk zeichnet er schon direkt zu Beginn eine kleine Episode aus seiner Kindheit auf, die als „Geburt des Erzählers aus der Lieblosigkeit“ vorgestellt wird. Der 1953 geborene, im Ruhrgebiet aufgewachsene Schriftsteller leitet seine literarischen Ursprünge aus der gesellschaftlichen Situation der noch jungen Bundesrepublik ab: Weil die Elterngeneration während seiner Kindheit mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt war und als Zuhörerschaft ausfiel und Kinder mithin nicht zu stören hatten, erzählte sich der Junge seine Erlebnisse auf dem Nachhauseweg selbst, wobei er zum „Rhythmus [s]einer Schritte“ Reales und Erfundenes vermischte.
Im Kern enthält diese Episode wesentliche Momente von Rothmanns narrativem Werk, das mittlerweile zehn Romane sowie etliche Erzählungen in vier Sammel- und zwei Einzelausgaben umfasst. Sein Schreiben speist sich aus der realen gesellschaftlichen Anschauung, die in der Tat Lebenserfahrung und literarische Fiktion eng verschränkt und dabei auch die beiden räumlichen Lebenszentren, das Ruhrgebiet und Berlin, aufruft. In seinen narrativen Werken taucht die Jugend im ‚Kohlenpott‘ ebenso auf wie die Maurerausbildung und die Anstellung in einem Krankenhaus. Arbeit ist ein wesentlicher Bestandteil der beschriebenen Lebenswelten. Für die Elterngeneration, insbesondere die Väterfiguren, bestimmen Maloche die Gegenwart und Kriegserlebnisse die Vergangenheit. Den oftmals (auch im Rückblick) jugendlichen Protagonisten der Erzähltexte eröffnet häufig die Kunst, vor allem die Literatur, eine Gegenwelt. „Die Literatur“, heißt es in Theorie des Regens, sei „ein Kolibri in der Maschinenhalle, flüchtig, schön und ohne Zweck. Und doch entzündet sich die Sehnsucht daran, es möge mehr als nur Maschinenhallen geben.“ So sind Rothmanns Texte zugleich von einer musikalischen Sprache getragen, die zudem romantische, religiöse und mystische Motive aufweist. Pflanzen und Tiere etwa besitzen eine große Bedeutung und tauchen nicht nur in Buchtiteln und auf -covern auf, sondern eröffnen vor allem die Ahnung einer anderen Sphäre.
Von der Literaturkritik überwiegend gelobt und mit Preisen ausgezeichnet, finden sich zahlreiche Besprechungen und Laudationes zum Werk Rothmanns. Literaturwissenschaftlich ist die Auseinandersetzung mit seinen Texten hingegen noch überschaubar. Der 70. Geburtstag hat nun aber auch den Anlass für eine Tagung in der Stadtbibliothek Duisburg geboten. Sie wurde am 20. und 21. Oktober 2023 vom Verein für Literatur Duisburg ausgerichtet und folgte auf eine öffentliche Lesung des Autors am Vortag. Der zugehörige Tagungsband, teils mit Farbfotografien der Veranstaltungen bebildert und von Jan-Pieter Barbian und Erhard Schütz herausgegeben, ist unter dem Titel Die Traglast der Vergangenheit. Annäherungen an Ralf Rothmann erschienen und versammelt die Beiträge von sieben Teilnehmern und einer Teilnehmerin.
Auch wenn Rothmann unter anderem mit zwei Gedichtbänden als Lyriker und mit Berlin Blues als Dramatiker in Erscheinung getreten ist, darf man in ihm doch in erster Linie einen Erzähler sehen. Das schlägt sich auch in der Themenauswahl des Tagungsbandes nieder, der den anderen beiden literarischen Gattungen zwar keine eigenständige Betrachtung zukommen lässt, dabei aber dennoch eine gelungene Einführung in zentrale Werkaspekte bietet. Jan-Pieter Barbian, Direktor der Stadtbibliothek und Vorsitzender des Vereins für Literatur Duisburg, ist als einziger mit zwei Beiträgen vertreten. Der erste, auch als Einleitung lesbare Text, gibt einen komprimierten und gelungenen Überblick über Leben und Schreiben Rothmanns und stellt zentrale Themen und Stellen aus dem Werk heraus, darunter auch oben einleitend angeführte Punkte. In seinem zweiten, am Ende stehenden Aufsatz beschäftigt sich der Germanist und promovierte Historiker mit der in den letzten Jahren erschienenen Kriegstrilogie, worin Rothmann fiktional gehöht der Vergangenheit seiner Eltern nachspürt.
Unter anderem mit Bezug auf die Typologisierung Wolfgang Hardtwigs zur literarischen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Kriegsgeneration zeigt Barbian in einer genauen Darstellung der Romantrilogie, wie Rothmann als Vertreter einer Erzählergeneration der „Nachgeborenen“ eindrücklich und schonungslos die Vergangenheit in den Blick nimmt. Mangels eigenen Erlebens begleite diese Erzählergeneration dabei stets eine Selbstreflexion ihres Schreibens. Bei Rothmann zeigt sich das in einer Vorgehensweise, die für sein gesamtes Werk gelten darf. Auch wenn sich biographische Bezüge ergeben, sei sein Erzählen doch nicht autobiographisch zu nennen. Die Vergangenheit wird vielmehr fiktional rekonstruiert – „Die Wahrheit muss erfunden werden“, heißt es in Theorie des Regens. Und doch habe Rothmann gerade dadurch „seinen Eltern und mit ihnen einer ganzen Generation die Sprache für das gegeben, was sie als Opfer und Täter erlebt und erlitten haben, selbst aber nicht erzählen und erklären konnten oder wollten.“
Dieses literarische Verfahren, die Vergangenheit in fiktionaler Ausgestaltung wahrer werden zu lassen, scheint auch in der Erzählung „Hotel der Schlaflosen“ aus der gleichnamigen Erzählsammlung auf. In seiner historisch kontextualisierenden Lektüre zeigt Ralf Klausnitzer, wie die Begegnung und Exekution Isaak Babels durch den Scharfrichter Wassili Michailowitsch Blochin in einem nicht namentlich genannten Moskauer Hotel in „Verknüpfung von historischer Referenz und fiktionaler Ausgestaltung“ eine über das Überlieferte hinausgehende Auseinandersetzung mit dem Komplex Macht und Kunst erzeugt. Indem Rothmann die Lücken in der faktischen Überlieferung fiktional fülle, öffneten sich grundsätzliche Fragen, wodurch die Erzählung jenseits des Historischen zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit den aufgerufenen Problemkomplexen anrege.
Den Ruhrgebietsromanen widmen sich drei Beiträge. Thomas Wegmann geht der narrativen Darstellung des Wohnens in der Kohleregion nach, das in den Romanen Stier, Wäldernacht, Milch und Kohle sowie Junges Licht durch Ambivalenzen und eine liminale Raumgestaltung geprägt sei, da im doppelten Sinne von „Übergangszeiten“ erzählt werde. Die in der Erinnerung aufgerufene Welt der Vergangenheit thematisiert dabei die Adoleszenz der Zentralfigur und den Strukturwandel der Region. Im Vergleich mit der Verfilmung des Romans Junges Licht durch Adolf Winkelmann aus dem Jahr 2016 analysiert der Aufsatz von Manuel Köppen, wie die Adoleszenzthematik jeweils in der Raumgestaltung umgesetzt wird. Bei Dieter Heimböckel wiederum ergibt sich die besondere Situation, dass er selbst aus dem Ruhrgebiet stammt und sein eigenes Aufwachsen in Oberhausen in den Ruhrgebietsromanen wiedererkennt. Bereits in einigen vorangegangenen Aufsätzen ist er Ruhrgebietsbezügen bei Rothmann nachgegangen. In seinem Tagungsbeitrag nimmt er von Die Nacht unterm Schnee ausgehend zentrale ‚Rückspiegelungen‘ in den Blick, wobei das schonungslos gestaltete Ruhrgebiet hier nur als eine „Hölle“ neben anderen erscheint.
Rothmann lebt bereits in Berlin, als er seine Ruhrgebietsromane schreibt. Gleichzeitig besitzt der erste Berlinroman Flieh, mein Freund (nach der Berliner Erzählung Messers Schneide und dem Theaterstück Berlin Blues) einen aus dem Ruhrgebiet stammenden Protagonisten, wie Erhard Schütz in seinem Beitrag zu den in Berlin zu verortenden Romanen anführt. Hitze und Feuer brennt nicht folgen zudem jeweils auf einen Roman, der im Ruhrgebiet angesiedelt ist. Es mögen mit dem Handlungsort Berlin in den jeweiligen Romanen zwar andere Themen in den Vordergrund treten, die Gentrifizierung etwa oder der DDR-geprägte Ostteil der Stadt, sie hätten jedoch nicht den Anspruch, die um 2000 aufkommende Forderung nach dem ultimativen Berlin-Roman einzulösen. Statt einer Erforschung des Gesamtphänomens ‚Berlin‘ verblieben Rothmanns Romane vielmehr im konkret Alltäglichen, gehen auf „Räume, Charaktere, Sprache und Mentalitäten“ ein und eröffneten darüber hinaus das „Faszinosum der Stadt als Naturlandschaft“ und Lebensraum nicht nur von Menschen.
Tiere und naturmystische Erfahrungen tauchen in Rothmanns Erzählen häufig auf, zudem finden sich biblische Intertexte und theologische Vorstellungen. Beiden Bereichen kann eine (auch romantische) Sehnsucht nach Ganzheit und Heil zugesprochen werden als Gegenpol zu einer säkularen und heillos erscheinenden Gegenwart. Der „theopoetische“ Kern des Werks ist nach Michael Braun dabei „fragmentarisch und paradox“, insofern der Mensch ohne Gottesbezug existiert, dabei aber in religiösen Relikten nach Erlösung suche. Der Rückbezug auf die Bibel und religiöse Vorstellungen ist in vielfältigen direkten und indirekten Verweisen gegeben, darunter auch säkularen Schwundstufen. Die Sünde etwa werde zur Schuld. Auf diesen Aspekt geht Britta Caspers ein, indem sie die Thematik von „Schuld und Schuldübertragung“ in den späten Ruhrgebietsromanen Milch und Kohle und Junges Licht herausarbeitet und dabei auch die Christusreferenzen in Junges Licht untersucht. In Verbindung mit der von Heinrich Böll verwendeten Formel der „stillen Feiung“, die der mit Christus-Initialen versehene Protagonist Julian Collien in einem TV-Beitrag aufschnappt, scheint eine auf die Zukunft entworfene Überwindung der Vergangenheit auf, die sich hingegen bei Thomas in Milch und Kohle nicht einstelle.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nimmt bei Rothmann großen Raum ein, worauf auch der Titel des Tagungsbands abhebt. Rothmann folgt dem an unterschiedlichen Stellen formulierten Gedanken, dass die Wahrheit der Erfindung bedarf. In der fiktionalisierenden Ausgestaltung des eigenen Herkommens sowie der Vorgeschichte seiner Eltern ergibt sich dabei ein eindrückliches, lebensvolles Erzählwerk. Der vorliegende Tagungsband bietet nun eine gelungene Übersicht zu zentralen Aspekten der Texte Ralf Rothmanns und eröffnet Impulse für eine weitergehende wissenschaftliche Beschäftigung mit einem großen Erzähler.
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