Falsche Grüße aus der Vorkriegszeit
Anlässlich der Veröffentlichung seines ersten Studioalbums: ein Rückblick auf die womöglich letzten Romanveröffentlichungen von Maxim Biller
Von Sebastian Brass
Als Maxim Biller im Sommer 2021 seinen Roman Der falsche Gruß veröffentlichte, war es vorbereitet, vielleicht abzusehen, aber noch nicht passiert: Putins Russland griff einige Monate später die Ukraine an und der Krieg nimmt seither kein Ende. Biller – der als Kind russisch-jüdischer Eltern in Prag geboren wurde und seit früher Jugend in Deutschland aufgewachsen ist, in München studiert hat und heute als erfolgreicher Schriftsteller in Berlin lebt – reagierte schnell. In der Zeit vom 24. März 2022 verkündete er, ab sofort nicht mehr literarisch tätig sein zu wollen. Sein jüngster, im Herbst 2023 erschienener Roman Mama Odessa war zu diesem Zeitpunkt bereits fertig. Biller wolle, so schrieb er nun auf Seite 1 des Feuilletons der Zeit, „kein Schriftsteller mehr sein, ich will nie wieder einen Roman oder ein Buch mit Erzählungen veröffentlichen, weil ich keinen Sinn darin sehe, aus Wirklichkeit Fiktion zu machen, die hinterher in die Wirklichkeit zurückkehrt und die Menschen für ein paar Monate klüger und ab und zu sogar besser macht.“ Angesichts der Gräuel des Krieges und angesichts der dadurch veranlassten Wichtigtuerei bei gleichzeitiger Empathielosigkeit der Leserschaft wolle er „gerade keine Romane und Erzählungen schreiben, wirklich nicht.“ Der Beitrag ist überschrieben mit einem konsternierten „Alles war umsonst“ (Die Zeit, 13/2022). Es lohnt aber freilich noch immer, Biller zu lesen – sich mit Mama Odessa, insbesondere aber noch einmal mit dem älteren Roman, dem falschen Gruß, auseinanderzusetzen.
Gegen vorschnelle Applikationen seiner Literatur etwa auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt Biller sich vehement zur Wehr, so etwa bei einer Lesung aus Mama Odessa im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin im September 2023. Sicherlich ist auch dieser Roman, in dem Volker Weidermann zuallererst eine Liebesgeschichte zwischen der schreibenden Hauptfigur Mischa (wie üblich ein alter ego von Biller) und dessen ebenfalls schreibender und spät zu einigem schriftstellerischen Ruhm gelangender Mutter erkennt (Die Zeit, 43/2023), nicht direkt unpolitisch; auf tagesaktuelle Politik hin aber lässt er sich kaum lesen. Judith von Sternburg betont in ihrer Rezension den historischen Hintergrund der Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Odessa im Herbst 1941 und bescheinigt Billers Text, „finster grundiert“, aber doch „leichthändig geschrieben“ zu sein und im literarischen Modus von dem zu erzählen, „worüber man nicht sprechen kann“ (Frankfurter Rundschau, 27.8.2023). Überhaupt hat Billers Literatur seit jeher bei aller Skandalträchtigkeit (s. v.a. Esra, 2003) und bei aller Provokation eine bewältigende Komponente: eine Bewältigung, die gerade über die Provokation ihre heilende Wirkung (nicht nur für den Schriftsteller, sondern offenkundig auch für eine Vielzahl von Leser:innen) zu entfalten scheint. „Warum ich ein wütender Schriftsteller wurde“, so heißt es bereits im Klappentext von Billers autobiographischem „Selbstporträt“ Der gebrauchte Jude von 2009. In einem fast aggressiven Sardonismus scheint das zentrale Moment der Biller’schen Poetik benannt – ein Sardonismus, der mitunter in bloße Tiraden umschlagen kann. Diese aber sind durch die von Biller lustvoll der Lächerlichkeit preisgegebenen Erzähler-Protagonisten, die die Tiraden vortragen, bereits ironisch gebrochen. Jude sein (und jüdischer Schriftsteller sein) im Deutschland der Gegenwart: Damit beschäftigt sich Billers Werk mittlerweile seit Jahrzehnten. Das ist ein Verdienst, das auch ohne direkte politische Bezüge politisch zu nennen wäre. Die auf 233 Seiten verteilten präzisen Vignetten von Mama Odessa funktionieren so, und sie funktionieren hervorragend.
Mama Odessa, obwohl seit Längerem abgeschlossen, erschien wegen der üblichen Marktmechanismen wie erwähnt erst deutlich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 – aber kurz vor dem 7. Oktober 2023, als die palästinensische Terrororganisation Hamas die Zivilbevölkerung Israels angriff und unvorstellbare Gräueltaten verübte. Seit diesem Tag und seit Israel mit einem seinerseits zahllose zivile Opfer in Kauf nehmenden Gegenangriff auf Gaza reagierte und der Krieg kein Ende zu nehmen scheint, ist von Biller tatsächlich kein neuer literarischer Text mehr erschienen. Das entspricht nicht nur seinen Äußerungen in der Zeit, mit denen er der Literatur abschwor: Es wäre auch absurd, von Biller nun eine literarische Stellungnahme mit der Begründing einzufordern, dass das Klima der deutschen Anti-Israel-Proteste anfällig dafür ist, Antizionismus in Antisemitismus zu übersetzen. Ein Umstand, der Billers Identität, sein Schreiben, sein Leben wohl noch mehr berühren muss als der Ukraine-Krieg; weder ist allerdings von Betroffenen, von in ihrer Identität Getroffenen zu verlangen, dass sie sich einschalten, noch funktioniert die Literatur auf Abruf.
Der falsche Gruß, der bereits 2021 erschienene vorletzte Roman von Maxim Biller, der mit zwölf Kapiteln auf 120 Seiten noch deutlich kürzer ist als Mama Odessa, ist aber trotz dieser Kürze beredt – auch mit Blick auf den Antisemitismus in Deutschland. Weniger mit Blick auf die universitären oder universitätsnahen Proteste gegen Netanjahus Kriegsführung aber gewinnt Der falsche Gruß an Bedeutungsfacetten und diagnostischer Schärfe hinzu, sondern vor allem dann, wenn man ihn auf populistische und autokratische Tendenzen mitten in Deutschlands politischer Mitte bezieht.
Worum geht es in diesem (laut paratextuellem Genre-Marker) Roman, der vielleicht als Novelle treffender bezeichnet wäre? Die in der Tat novellenhafte ‚unerhörte Begebenheit‘ trägt sich in den frühen Nuller Jahren zu und wird zu Beginn gleich benannt:
Es war eine Mischung aus Hitlergruß und dem verrutschten Armwedeln eines Betrunkenen, aber vielleicht war es auch einfach nur mein ungeschickter Versuch, den französischen Quenelle nachzumachen, das weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls stand ich eines Nachts vor fünf Jahren im Trois Minutes in der Torstraße vor dem ewigen Unruhestifter und Menschenfeind Hans Ulrich Barsilay und machte das erste Mal seit meiner Kindheit wieder meine absurde Nazigymnastik.
Mit diesen großartigen Sätzen beginnt Der falsche Gruß, und mit der Erzählerfigur – dem erfolglosen Schriftsteller Erck Dessauer – und dessen Nemesis – dem erfolgreichen jüdischen Schriftsteller Barsilay – sind nicht nur die beiden Hauptfiguren, der Ausführende und der Adressat der titelgebenden Geste, bereits eingeführt, sondern ist auch deren antagonistisches Verhältnis schon klar umrissen. Die Konfliktkonstellation, die Rivalität zweier Schriftsteller und ein skandalöser Vorfall: Der Text arbeitet sehr ähnlich wie Billers magnum opus, der üppige Roman Biografie (2016). Nur sind hier die Identitäten anders verteilt: Es handelt sich beim erzählenden Protagonisten im Gruß um einen erfolglosen, bei dessen Antagonisten um einen erfolgreichen Autor – während in Biografie der erfolgreiche Schriftsteller Solomon Karubiner der Erzähler ist und von seinem Gegenspieler „Claus die Canaille“ erpresst wird, dessen eigenem, eher kümmerlichen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Die Themen der zwei Romane sind trotz dieser Verschiebung ähnlich gelagert: Nicht nur geht es jeweils um das Leben von Juden im gegenwärtigen Deutschland, sondern auch die grundsätzliche Konstellation „jüdischer erfolgreicher Schriftsteller vs. deutscher erfolgloser Schriftsteller“ wird im Gruß erneut aufgerufen und mit antisemitischen Ressentiments sowie verschwörungstheoretisch angereicherten Anti-Establishment-Impulsen verbunden. Doch ringt Biller dem Grundkonflikt hier neue Nuancen ab, und zwar nicht zuletzt indem er die Perspektive dreht: Die gesamte Geschichte ist durch den Ich-Erzähler Erck Dessauer fokalisiert. Und war Biografie noch ein opulenter (um nicht zu sagen: völlig überladener) Familien- und Gesellschaftsroman, so kreist hier nun alles um die beiden Rivalen.
Die Rivalität der beiden Schriftsteller eskaliert, als Naftali Aronowitsch Frenkel ins Spiel kommt, der sowjetische (und jüdische!) Funktionär sowie Mitentwickler des Sonderlagers Solowezki, den Dessauer als Mastermind hinter dem sowjetischen Gulag-System und somit (anknüpfend an die den Historikerstreit auslösenden Thesen Ernst Noltes aus den späten 1980er Jahren) als Wegbereiter des Holocaust begreift. Frenkels Geschichte möchte Dessauer nun in Form einer Biographie bearbeiten, um in die weihevollen Sphären der bundesrepublikanischen Hochkultur aufzusteigen. Er hat sogar bereits einen Vertrag beim besten Verlag des Landes unterschrieben. Dort hat es sich aber schon Barsilay bequem gemacht, und der will den Stoff gleichfalls bearbeiten: „aber eher etwas Literarisches natürlich“, wie der Erzähler Dessauer ihm fantasierend in den Mund legt. Ihm selbst dagegen geht es um eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Es entwickelt sich bei Dessauer eine ausgeprägte Paranoia, die ihn bis in die Zeit hinein verfolgt, als der titelgebende Gruß schon vollzogen und sein Buch Eine sibirische Karriere bereits publiziert ist. Zwar ist die Frenkel-Biographie ein Erfolg und zwar glaubt Dessauer, seinen Erzfeind auszuschalten zu können, indem er beweist, dass die zentrale Szene eines Auschwitz-Besuchs in Barsilays legendärem Memoir Meine Leute erfunden sei. Die Idee, Barsilay könne aus Rache unter dem Titel Der Hitlergruß eine Geschichte „oder eine[n] ganzen Roman über mich“ schreiben, setzt den Verfolgungswahn allerdings fort und bezieht sich natürlich auf Dessauers skandalöse Geste, die zwischendurch auch noch (selbst-)psychologisierend der eigenen Familiengeschichte, konkret dem Nazi-Großvater angelastet wird. Der Roman endet mit der Szene, mit der er begonnen und die ihn und seinen Protagonisten zu keiner Zeit losgelassen hat.
Die Besprechungen des kleinen Romans in der Literaturkritik waren durchweg positiv, von der Nenen Zürcher Zeitung über die Süddeutsche Zeitung bis zum Freitag. Im Zentrum des Lobs standen meist die Ambivalenz der Figuren (so bei Tobias Rüther in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und bei Erika Thomalla im Freitag) und der Umstand, dass der Autor nach allen Richtungen austeile. Tobias Rüther liest den Text gleich allgemein auf die tödlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts hin – und die Praxis, aus ihnen karrieristisch Kapital zu schlagen. (FAZ, 23.8.2021) Laut Nils Minkmar bringt der kleine Roman auf den Punkt, „woran es in der Bundesrepublik fehlt: an einem Verständnis der Gegenwart, Wünschen für die Zukunft und Freude am Leben.“ (SZ, 18.8.2023)
Die Barsilay-Figur – so ontologisch fragwürdig deren einzig durch den paranoiden Erzähler Erck vermittelten Eigenschaften auch sind – lässt sich auch als ironische Spiegelfigur Billers selbst lesen, wie Paul Jandl schreibt. (NZZ, 25.8.2021) Jandls These lässt sich durch den Befund erhärten, dass sowohl die Figur Barsilay in seinen Veröffentlichungen innerhalb der Romanwelt als auch Biller in seinem autobiographischen Text Der gebrauchte Jude so definitiv wie eigentümlich nonchalant die Aussage treffen, Deutsche und Juden seien für immer geschiedene Leute. Neben dieser ironischen alter ego-Funktion, die im falschen Gruß der Gegenspieler Barsilay und damit ausnahmsweise nicht eine Biller’sche Erzählerfigur übernimmt, kommt Barsilay seine Bedeutung für den Roman aber vor allem als Projektionsfläche zu. Die Barsilay-Figur wird Dessauer zur Projektionsfläche seiner Minderwertigkeits- und vererbten Schuldkomplexe sowie seines damit verbundenen Antisemitismus. (So neidet Dessauer dem deutlich berühmteren Schriftsteller nicht nur den Erfolg, sondern auch das Talent – und kommt zu dem Urteil, Barsilay könne „als indirekter Nachkomme von Leuten wie König David, Spinoza oder Glückel von Hameln […] so klar schreiben und denken […], wie sie es oft können, von Geburt an sozusagen und damit völlig unverdient“) Als Nemesis des paranoiden Dessauer schließt die Projektionsfigur des Hans Ulrich Barsilay den Roman noch für eine Lesart auf, die ihn in den Horizont von Ereignissen stellt, die keine Rezension berücksichtigen konnte – weil sie erst zwei Jahre nach Veröffentlichung stattgefunden haben.
Die Rede ist von dem Fall Hubert Aiwangers, der im September 2023 einige Tage lang in Deutschland breit diskutiert wurde und zu dem Biller selbst sich – wiederum im Feuilleton der Zeit – ausführlich geäußert hat. Hintergrund war die sogenannte ‚Flugblatt-Affäre‘: Aiwanger, dem stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und damaligen Spitzenkandidaten der Freien Wähler bei den anstehenden Landtagswahlen, wurde inmitten des Wahlkampfes von der Süddeutschen Zeitung zur Last gelegt, als Schüler ein nationalistisches, antidemokratisches und gewaltverherrlichendes Flugblatt nicht nur besessen (so viel ist gesichert), sondern auch selbst verfasst und verteilt zu haben. Im medialen Diskurs wurde das Blatt schnell vor allem als antisemitisch interpretiert (wobei von Juden dort nicht explizit die Rede ist). Aiwanger nannte seinen Bruder als Urheber und distanzierte sich vom Inhalt des Flugblatts, blieb sonst aber eine tiefergehende Auseinandersetzung schuldig und drehte die Affäre stattdessen zu seinen eigenen Gunsten, indem er sich als Opfer einer medialen Hetzjagd inszenierte. Ministerpräsident Markus Söder stärkte ihm den Rücken, Aiwanger gewann ein Direktmandat für den neuen Landtag und wurde erneut stellvertretender bayerischer Ministerpräsident.
Aiwangers Dementi der Aussagen ehemaliger Mitschüler, er habe als Jugendlicher auch Hitler-Imitationen vor dem Spiegel geübt, nimmt Biller zum Ausgangspunkt seines Essays „Bruder Aiwanger“ in der Zeit. In Aiwangers Hitler-Imitationen und dem schändlichen Umgang mit der Affäre durch die Öffentlichkeit (einschließlich der selbst antisemitischen Verengung des Flugblattes auf den Antisemitismus, den man darin erkennen wollte) und die Politik (einschließlich Söders Angebot an Aiwanger, einen Fragebogen zu dem Flugblatt „zeitnah“ auszufüllen und Juden zuzuhören, um Absolution zu erhalten) erkennt Biller „das Gegenteil von Diskussion, Argument, Einsicht“ – so wie es „[n]ach jedem rhetorischen Armzucken eines stolzen, aber unterdrückten Deutschen“ üblich sei. Aiwangers Arm und die Idee des stolzen, sich unterdrückt wähnenden Deutschen ziehen eine Linie vom falschen Gruß zum Essay „Bruder Aiwanger“.
Die Linie wird durch weitere Bezugspunkte verstärkt. So ist es neben dem Gruß auch Grass, der in beiden Texten auftaucht. Einen – von ihm so empfundenen – Affront erleidet Dessauer im Roman, als er beim Klassikradio seine „erste große Rezension“ aufnehmen will: eine Besprechung von Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel, ausgerechnet jener Autobiographie des späteren Literaturnobelpreisträgers also, in der derselbe sechzig Jahre später seine jugendliche Mitgliedschaft bei der Waffen-SS gestand. Doch auch hier funkt prompt Barsilay dazwischen – wie Dessauer die Zwiebel bewertet, erfahren wir nicht – und fällt Dessauer mit aus dessen Sicht selbstherrlichen Auschwitz-Reden auf die Nerven. Anlässlich der Flugblatt-Affäre bemüht Biller Grass, den Dichter des Stammtisch-Gedichts „Was gesagt werden muss“, als Exponenten des Typs kleingeistiger deutscher Antisemiten, der in dem Essay als „Bruder Aiwanger“ bezeichnet wird. Grass steht bei Biller in einer Reihe mit Martin Walser und Ernst Nolte, dessen den Historikerstreit auslösende Thesen der Zeit-Beitrag so übersetzt: „Ohne Trotzki und Rosa Luxemburg keine von Deutschen erstickten Juden, und überhaupt sind die immer selbst schuld an ihrem Unglück.“ Ein Argument, ließe sich nun mit einem weiteren Jahr Abstand hinzufügen, das im Jahr 2024 und in Zeiten eines neuen Krieges in Nahost mitunter auch auf Seiten der Linken mal mehr, mal weniger subtil vorgebracht wird.
Im Essay apostrophiert Biller Nolte als „de[n] Historiker mit der verkrüppelten Hand und dem schlechten Gewissen eines von der Wehrmacht ausgemusterten Zivilisten“ – dessen These, dass die sowjetischen Gulags ursprünglicher gewesen seien als die deutschen Konzentrationslager, wird von Biller also als Kompensation einer gescheiterten Nazi-Laufbahn erklärt. Auch im autobiographischen Text Der gebrauchte Jude hatte Biller sich bereits an Nolte abgearbeitet; im falschen Gruß sympathisiert nun Dessauer mit der These, die 1987 den Historikerstreit auslöste. Er glaubt, während seiner Arbeit an der Frenkel-Biographie „den endgültigen Beweis“ geliefert zu haben, dass Noltes „schrille Weltbürgerkriegsthese […] mehr war als nur die Halluzination eines alt gewordenen Nazijungen, der wegen einer verkrüppelten Hand [sic!] nicht zusammen mit seinen Klassenkameraden für den Führer ins Feuer gehen durfte und diesen Verrat als erwachsener Mann wieder gutmachen wollte“. – Dieselbe Denkfigur, die in Der gebrauchte Jude schon auftaucht und auch im Zeit-Essay artikuliert wird (und übrigens durchaus in Noltes eigenen Äußerungen zu seinem Werk verankert ist).
Grass wie Nolte sind in Der falsche Gruß also zentrale Bezugspunkte eines literarischen Spiegelbilds der Realität, wie Biller sie sieht und andernorts beschreibt. Um ein Spiegelbild handelt es sich auch insofern, als die eigenen Einsichten die Seite wechseln und spiegelverkehrt als Ideen des Gegners auftauchen. Das literarische Ergebnis trägt zudem Züge eines Zerrspiegels, ist doch Billers alter-ego-Figur Barsilay zum einen ironisch gebrochen und zum anderen ein Phantasma der kranken Psyche Dessauers. Noltes Thesen auf eine gescheiterte Nazi-Laufbahn zurückzuführen und lächerlich zu machen, erscheint so als Strategie eines jüdischen intellektuellen ‚Establishments‘. Der Nachvollzug der Dessauer’schen Paranoia führt spektakulärerweise bis in den Paratext des Romans hinein: Schon der Klappentext ist, obwohl hier freilich nicht Erck Dessauer selbst, sondern eine unpersönliche (Verlags-)Stimme spricht, von Dessauers Stimme ‚angesteckt‘: Der Kampf gegen Barsilay wird als geradezu notwendig dargestellt, wenn es – gänzlich ohne Psychologisierung und mit den sprachlichen Mitteln einer klassischen Plotbeschreibung – heißt: „Bevor der berühmte Schriftsteller seinen Aufstieg verhindern kann, muss Erck ihn mit einer unerhörten Intrige aufhalten.“ Dass es nicht nur der Haupttext, sondern schon der Klappentext ist, der uns so auf Dessauers Seite zieht, uns dazu bringt, uns in Dessauer zu spiegeln, ist die letzte und ist vielleicht die entscheidende Verbindung zwischen dem Roman und dem Essay „Bruder Aiwanger“. In letzterem findet die oben bemühte Spiegelmetapher ebenfalls Anwendung: als Thomas-Mann-Zitat. In der Dachzeile des Zeit-Essays heißt es: „Deutschland guckt in den Spiegel und sieht einen Mann mit kleinem dunklen Bart.“ Das Spiegel-Bild ist wie der Haupttitel bei Mann geborgt, der im Jahr 1938 in seinem Exil-Text „Bruder Hitler“ den Diktator nicht nur als das Böse, sondern auch als ein brüderliches Spiegelbild aller Deutschen – inklusive seiner selbst – (an-)erkannt hat. „Bruder Aiwanger“, argumentiert Biller, sei eine Aktualisierung dieses Spiegelbilds. Vor diesem Hintergrund lässt sich Der falsche Gruß selbst als Spiegel lesen, der den Deutschen vorhält, wie gern sie in den Spiegel schauen – und darin nicht mehr Hitler, wohl aber Dessauer und Aiwanger, ihre falsch grüßenden Brüder, erkennen.
In seinem Bekenntnis in der Zeit im Frühjahr 2022, fortan keine Literatur mehr schreiben zu wollen, hat Biller sich eine Hintertür offengelassen: Vor Jahren schon habe er sich vorgenommen, über eine ganz bestimmte kleine Straße in Odessa zu schreiben. „Jetzt denke ich, wie schade, das kann ich also nicht mehr tun. Oder vielleicht doch? Ja – dann aber erst sehr viele Jahre nach dem Krieg.“ Der Krieg dauert an, und mit dem neu und so brutal wie nie entflammten Krieg im Nahen Osten ist ein weiterer hinzugekommen, der Biller ebenfalls auf das Persönlichste erschüttern muss. Er wird nun aber, so ist in einer Vorab-Ankündigung des jüdischen Verlags Hentrich & Hentrich zu lesen, eine Kurzgeschichte zur von Maayan Eitan und Oded Wolkstein herausgegebenen und Ende 2024 erscheinenden Anthologie Schutzraum: Seit dem 7. Oktober beisteuern. Bereits im August ist Billers erstes Studioalbum (mit dem treffenden Namen Studio) erschienen, und das nimmt in mit leiser Stimme melancholisch vorgetragenen, klugen Texten nun doch auch auf den Ukraine-Krieg Bezug. „Heute fuhr sie in den Krieg“, heißt es in Die Kriegsreporterin – und in dem Song, einer Hommage an seine aus der Ukraine berichtende Freundin, kommen explizit Kriegsschauplätze vor. Die narrativ angelegten Texte des Albums hören sich zuweilen an wie Kurzgeschichten (was nicht nur daran liegt, dass Biller oft eher spricht als singt). Ob Biller seinen Abschied von der Literatur explizit widerrufen wird oder schlicht qua Verfahren, ob doch auch noch längere Texte folgen werden: Das ist zunächst egal. „Sie hat mir immer gesagt, dass ich über sie schreiben kann“, singt Biller in Die Kriegsreporterin – und Biller schreibt. Eine gute Nachricht.
Literaturliste
Biller, Maxim: Alles war umsonst. Warum ich kein Schriftsteller mehr sein will. In: Die Zeit, 13 (2022), 24. März 2022, S. 47.
Biller, Maxim: Biografie. Köln 2016.
Biller, Maxim: Bruder Aiwanger. Deutschland guckt in den Spiegel und sieht einen Mann mit kleinem dunklen Bart. In: Die Zeit, 39 (2023), 14.9.2023, S. 43.
Biller, Maxim: Der falsche Gruß. Köln 2021.
Biller, Maxim: Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Köln 2009.
Biller, Maxim: Esra. Köln 2003.
Biller, Maxim: Mama Odessa. Köln 2023.
Biller, Maxim: Studio (Musikalbum). Greedy For Best Music. VÖ 23. August 2024.
Eitan, Maayan/Oded Wolkstein (Hgg.): Schutzraum. Seit dem 7. Oktober. Berlin/Leipzig 2024 (erscheint).
Jandl, Paul: Da reisst es dem Mann unversehens den Arm zum Hitlergruss hoch – und gleich stehen die alten Gespenster wieder mitten in Berlin. In: Neue Zürcher Zeitung, 25.8.2021.
Mann, Thomas: Bruder Hitler, in: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 12, Frankfurt 1974, S. 845–852.
Minkmar, Nils: Erst ein Hitlergruß, dann wird geweint. In: Süddeutsche Zeitung, 18.8.2021.
Rüther, Tobias: Der Stoff, aus dem Karrieren sind. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.8.2021.
Thomalla, Erika: „Der falsche Gruß“ von Maxim Biller. Wer ist jetzt der Böse? In: der Freitag, 33 (2021).
von Sternburg, Judith: Maxim-Biller-Roman: Die Suche nach dem Kompass. In: Frankfurter Rundschau, 27.8.2023.
Weidermann, Volker: Der Auftrag. Maxim Billers traumhafter Roman „Mama Odessa“ – wie Rada Biller ihren Sohn zum Schriftsteller machte. In: Die Zeit, 43 (2023).
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen