Auf der Suche nach einem nie kennengelernten Vater
Zora del Buono mit „Seinetwegen“ auf kriminalistischer Recherche nach dem verunglückten Vater
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie in Zürich lebende Architektin, Journalistin, Schriftstellerin und Mitbegründerin der Zeitschrift Mare Zora del Bueno wurde 1962 in Zürich geboren. Sie war acht Jahre alt, als ihr Vater 1963 33-jährig bei einem Autounfall in der Nähe des ostschweizerischen Uznach auf einer Landstraße ums Leben kam. In dem hier zugrundeliegenden Werk, 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, beschreibt die Autorin die Suche nach dem „Töter meines Vaters“, wie sie ihn nennt, und sucht Aufklärung darüber. Von daher bekommt der Titel eine ganz eigene Wendung: Seinetwegen. Das Werk steht damit in einer Reihe von Werken, wie sie in jüngster Zeit in Hinblick auf das zum Teil fiktive Verschwinden von Familienangehörigen erschienen sind, wenn wir an Werke wie Die Verlassenen von Matthias Jürgler (2021) oder Das ist keine gute Geschichte von Lisa Roy (2023) denken.
Das relativ schmale Werk (200 Seiten), wovon nicht explizit gesagt wird, welcher Gattung es angehört, kommt stark autobiographisch, besser vielleicht autofiktional, daher. Die Autorin kehrt auf der Suche nach einer Person, von der sie nur die Kürzel E.T. kennt, in ihre Schweizer Heimat zurück: „Ich kenne nur seine Initialen: E.T.“ Der Unfall ereignete sich auf einer schmalen Straße auf dem Weg nach St. Gallen:
Vater starb nach einer Frontalkollission. E.T. überholte bei durchgezogener Mittellinie in seinem großen roten Chevrolet in einer Kurve ein Pferdegespann und knallte in den VW-Käfer von Onkel und Vater. E.T. blieb unverletzt, der Onkel brach sich den Oberschenkel. Vater war sofort gehirntot, lag aber tagelang im Koma, bis man die Gerätschaften abstellte, Mutter musste den Zeitpunkt entscheiden. Am 18. August 1963 starb er. Er war eben erst dreiunddreißig geworden.
Der abwesende Vater hat die Geschichte der Familie stark beeinflusst. Er stammte aus Bari, aus Apulien, dem Süden Italiens, und war Arzt am Züricher Kantonsspital. Das Schicksal des toten Vaters, besonders die Art, wie er starb, ist zu einer Obsession in der Familie, wie zu einem Schreibimpuls der Autorin geworden. Diese macht sich auch konkret auf seine Spuren in die Gegend, wo der Unfall geschah, zu der Unfallstelle: „Heute vor sechzig Jahren geschah der Unfall. Buche das einzige Zimmer, das sich ad hoc finden lässt. In einem Seminarhaus mit Blick über den Walensee, in dem hoch gelegenen Dorf, das Vater und Onkel querten, bevor sie den Berg hinab und ins Verderben fuhren.“
Die Tochter, sprich die Autorin, inzwischen mehr als 60 Jahre alt, stellt eine fast kriminalistisch anmutende Recherche an. Das Buch wird um einige Fotos der Familie ergänzt: vom Vater und dessen süditalienischer Familie, aber auch von der inzwischen stark an Demenz leidenden Mutter, die Röntgenassistentin war, als sich die Eltern kennenlernten. Darüber hinaus finden sich weitere Fotos aus der Kennenlern- und Hochzeitsphase der Eltern.
Das Werk wird mit einem Zitat von Roland Barthes eröffnet, worin der Begriff des „Nie mehr“ eine entscheidende Rolle spielt. Von diesem „Nie mehr“ wird das gesamte Werk durchzogen. Von der Autorin lässt sich sagen: Nie hat sie ihren Vater selbst erleben können, weil sie viel zu jung war, als er starb. Nie mehr wird sie ihn erleben. Und doch besteht da jener Widerspruch: „Dieses Nie mehr ist nicht ewig, weil man selbst eines Tages stirbt. Nie mehr ist das eines Unsterblichen.“ (Aus: Roland Barthes, Tagebuch der Trauer).
Das Werk an sich ist so lesenswert und spannend geschrieben, weshalb der Rezensent von jedwedem Spoilern absehen möchte. Allerdings lässt sich andeuten, in welche Richtung die Suche geht. Die Autorin befragt viele Personen, auch Texte der Eltern, Dokumente, Archive, die „Kiste mit den Vaterunterlagen“. Auf diese Weise kommt sie den wirklichen Geschehnissen immer näher. Zudem kristallisiert sich eine äußerst spannende Geschichte heraus, die ganz anders endet, als die Autorin es sich vorgestellt hat.
Auf diese Weise wird die Suche, die selbst zum Thema gemacht wird, die Auseinandersetzung der Autorin mit sich und ein Weg zu sich selbst. Das drückt sich beispielsweise darin aus, dass auch andere Beispiele zu dem Thema bereitgestellt werden, Geschichten aus ihrem Freundeskreis, aus ihrer erweiterten Familie, aber auch theoretische Texte und Statistiken. Die Frage wird dabei virulent: Wie lässt sich das Thema des (nicht selbst) verschuldeten Unfalls einer Person behandeln? Wahrscheinlich ist Roland Barthes auch deshalb ein so gewichtiger Zeuge, weil er selbst ebenfalls einem Verkehrsunfall zum Opfer fiel. Zudem wird im Werk die Geschichte vom Unfall Albert Camus‘ erzählt und die Reaktion seiner Tochter geschildert.
In diesem Zusammenhang äußert die Autorin einige geistreiche (Aufmerk-) Sätze und entwickelt weiterreichende Überlegungen bzw. stellt Fragen, etwa jene, warum Menschen das Sterben greiser Eltern als Katastrophe bezeichnen. Oder sie beschreibt Reaktionen auf den Tod ihres Vaters aus ihrem Umfeld, wo die meisten das mehr oder weniger achselzuckend hinnahmen, in dem Sinne: Das war ein Unfall, da kann man halt nichts machen, anders als bei Mord und Totschlag, wo man den Täter benennen kann.
Die Autorin schreibt so detailreich wie poetisch. Sie geht phänomenologisch vor, sie beschreibt die Einzelheiten, etwa sehr ausführlich ihre Besuche bei ihrer demenzkranken Mutter, die sie nicht mehr wiedererkennt und die zuvor eine sehr selbstbestimmte Frau und Mutter war, nach dem Tod des Vaters nie mehr geheiratet hat, nur noch eine weitere Beziehung hatte, und ihr Leben durchaus bewusst in die Hand nahm.
Der Vater verunglückte in einem VW. Seitens der Autorin werden dazu einige Überlegungen zum VW und dessen „Erfolgsgeschichte“ angestellt, jenes Automobilmodell, das für die Autorin nur Tod und Leid bedeutete:
Lachen, Wind. VW Käfer gab es viele. Da sind die ersten Menschen drin, die nichts von unserer persönlichen Käfer-Tragödie wussten. (…) Für viele war es ihr erstes Auto überhaupt, ein Freiheitsversprechen. Für uns war es der Tod.
Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang auch an frühe Kinobesuche, Filme wie Herbi, ein toller Käfer, aber auch an Bambi, wie sie „um die totgeschossene Mutter des kleinen Hirschs weinte, dass er nun auch Halbwaise war (so wie ich)“.
Darüber hinaus stellt sie sich Fragen wie: „Wo ist der Unfall passiert? Wo war das Krankenhaus? Der Mann, der die Verletzten überführt hat. Wo fand der Gerichtsprozess stand?“ Oder sie stellt Überlegungen an, welches die letzten Worte des Vaters oder die letzten Sätze zwischen Vater und Onkel gewesen sein mochten.
Besondere Ereignisse im Leben der Tochter bekommen durch den Unfalltod des Vaters eine ganz eigene Wendung, etwa wo sie von dem Ereignis mit dem Pfarrer aus dem Nachbardorf erzählt:
Der Pfarrer vom Nachbardorf (…) dreht mit uns über mehrere Wochen einen Kurzfilm. (…) Ich sitze am Steuer des VW Käfer (!) des Pfarrers, auf dem Schoß (!) dieses Mannes, dessen Arme mich auf Hüfthöhe umschlingen, um möglichst unsichtbar den Wagen zu steuern, während ich tue, als führe ich. (…) War der Pfarrer ein Sadist? Gedankenlos? Oder einer mit einem verquerten therapeutischen Ansatz?
Die Erzählerin stellt sich viele Fragen, immer wieder in vielerlei Hinsicht und in Bezug auf ihre Beziehungen. Sie trifft sich samstags nach dem Markt regelmäßig im Café mit Isadora, Psychiaterin, einer Freundin, und mit Henry, einem Raumgestalter und Autor, wo regelmäßig diese Themen abgehandelt werden. Dabei berührt das Werk auch auf die Geschichte der Autorin in der Homosexuellenszene im (West-) Berlin der 70er und 80er ein, wo die Autorin erstmalig ihre eigene Freiheit fand.
Immer wieder wird ihr (Lebens-)Thema auch zwischen den dreien im Café verhandelt. Besonders ergreifend erzählt die Autorin die Geschichte des Familienrings, eines Diamantrings in Weißgold, den die Mutter von den Schwiegereltern zur Geburt der Tochter bekommen hat, und den die Tochter von der Mutter ohne deren Wissen übernimmt, da diese den Verlust nicht mal mehr bemerken kann.
Ins Werk werden Statistiken eingestreut, etwa über Tote im Straßenverkehr in verschiedenen Jahren oder Getötete als Verkehrsteilnehmer. Zudem werden prominente Opfer des Straßenverkehrs wie Günther Armin Holz, Dieter Brinkmann, Albert Camus, James Dean, Helmut Newton, Falco oder eben Roland Barthes erwähnt. Auch auf das bekannte Werk von Boris von Heesen Was Männer kosten wird Bezug genommen, worin es lakonisch heißt: „80 Prozent der Verkehrs-Strafpunkte, die in Flensburg schlummern, gehen auf männliche Konten.“
Zudem wird der „interkulturelle Hintergrund“ der gesamten Familie, nicht nur des Vaters, thematisiert: Die italienischen Eltern des Vaters, die Großeltern, auch die der Mutter, die Großmutter, die aus Slowenien kam, deren und des Großvaters Geschichte, ihre Begeisterung für Tito und Widerstand gegen Mussolini, die sie in einem früheren Roman Die Marschallin beschreibt. Darum kreisen auch viele Gespräche im Kaffeehaus. Schließlich stößt sie auf die Kiste mit den Unterlagen des Vaters, die Briefe, Kondolenzschreiben, Liebesbriefe der Eltern.
Eine Zeile nimmt sie besonders mit: „Das hoffnungsvolle Leben eines großen Menschenfreundes ist erloschen.“ Bei ihr ruft es die folgende Assoziation hervor:
Eigentlich dachte ich immer, ebenfalls eine große Menschenfreundin zu sein. Aber je älter ich werde, desto klarer wird die Menschenfreundin ist keine Menschheitsfreundin. Die Menschenfreundin wünscht sich das Ende der Menschheit zum Wohl der Tiere, der Natur, des Planeten.
Diese veränderte Haltung hängt mit den Umständen des Todes bzw. dem Gerichtsurteil zusammen. Gegen E.T. wurde ein sehr mildes Urteil verhängt, das in einem Leserbrief in einer Zeitschrift von einem Kollegen des Vaters sehr kritisiert wurde, woraufhin E.T. die Zeitung verklagen wollte: „Den Kollegen meines Vaters, der einen Leserbrief schrieb, nachdem das Gerichtsurteil bekannt gegeben worden war, 200 Franken für ihn, kein Gefängnis. E.T. fürchtete, man könnte ihn in dem Text erkennen.“
Dem Werk ist eine große Leserschaft und der Autorin zu wünschen, dass es in die Endauswahl zum Deutschen Buchpreis kommt; es ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend geschrieben, so dass man geneigt ist, es nicht mehr aus der Hand zu legen. Das liegt zum einem am Plot, aber vor allem auch an der Sprache der Autorin, die zu fesseln und alle Widersprüche der Tochter und ihre im Werk dargestellte Entwicklung bei der Suche gekonnt einzufangen und darzustellen weiß. Del Buenos Werk ist einmal mehr Beweis dafür, was große Literatur im Verhältnis zur bloßen Beschreibung von Fakten vermag: Über eine ergreifende Schilderung der Seelenspuren verbunden mit nüchternen Fakten eine große Aufnahmebereitschaft, ein Nachvollziehen und ein ‘Miterleben’ der Leserschaft erzeugen zu können.
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