Wie wir der totalen Gegenwart entfliehen können
Milo Rau wirft in seinem Essay „Die Zurückeroberung der Zukunft“ mit Gesellschaftstheorien um sich – und trifft dabei einen Nerv
Von Theresa Antonia Bolte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMilo Rau ist ein Theatermacher mit politischem Anspruch. Das zeigt sich an den Produktionen, die unter seiner Federführung entstanden sind: Mal geht es um die Verurteilung von Pussy Riot (Moskauer Prozesse), mal um das Leid von Geflüchteten auf italienischen Tomatenplantagen (Das neue Evangelium). Dann wiederum führt Rau mit gesellschaftlichen Randgruppen Wilhelm Tell auf und bringt so Menschen ins Theater, die zu dieser Institution keinerlei Bezug haben (Wilhelm Tell). Der Schweizer Theatermacher stürzt sich von einem gesellschaftskritischen Thema ins nächste, arbeitet dabei stets mit Betroffenen zusammen und verschafft sich durch diverse internationale Kooperationen Aufmerksamkeit. 2022 durfte der Regisseur die Zürcher Poetikvorlesung halten und seine Ideen auch im universitären Kontext verbreiten. Die Verschriftlichung seiner Vorlesung ist nun in Form eines Essays mit dem Titel Die Rückeroberung der Zukunft erhältlich. Der Band handelt davon, wie wir durch Kunst dem „kapitalistischen Realismus“ entkommen können.
Warum die Zukunft in Raus Augen zurückerobert werden muss, ist schnell erklärt. Das Problem ist für ihn der Kapitalismus: Investiertes Kapital bedeute immer eine schon verplante Zukunft, weil sich Anleger:innen eine bestimmte Entwicklung der Finanzmärkte versprechen würden. Trete diese dann nicht wie gewünscht ein, könnten zuerst Firmen, Fonds sowie einzelne Rohstoffmärkte, dann möglicherweise verschiedene Börsen ins Wanken geraten. Da wir laut Milo Rau große Angst vor einem Wohlstandsverlust hätten, würden wir uns nicht trauen, für faire Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen einzustehen, wenn dadurch die Profite kleiner ausfallen könnten. Die stets lauernde Gefahr eines Börsencrashs hält uns Wohlstandsverwöhnte also in einem fortwährenden Gegenwartsbrei gefangen, in dem uns jedwede Veränderung des gesellschaftlichen Systems aus Angst vor finanziellem Verlust unmöglich erscheint. Dieser Zustand der Passivität wird von Milo Rau als „totale Gegenwart“ beschrieben.
Die Angst vor Wohlstandsverlust ist aber nur kleiner Teil eines größeren Übels. Rau identifiziert insgesamt fünf Probleme, die uns vom engagierten Handeln abhalten würden – neben Moralismus schade uns Überinformiertheit, unproduktive Kritik, Abgrenzungsverhalten und gleichgültig machender Realismus. Diese Probleme, die Rau unserer Gegenwart attestiert, bezeichnet er als „die fünf Reiter der Posthistoire“. Hier spielt er deutlich auf die vier apokalyptischen Reitern, die in der Offenbarung des Johannes das Ende der Welt einläuten. Was Posthistoire genau ist, wird im Laufe des Essays nicht präzise erklärt. Häufig ist mit dem schmucken Wort die Deutung der Gegenwart als Produkt der Vergangenheit, also als Nachgeschichte, gemeint. Bei Milo Rau scheint Posthistoire allerdings gleichsam ein Begriff für die immerwährende Gegenwart zu sein. Leider bleibt es in dem Essay nicht bei einzelnen eingeworfenen und dann nicht weiter erklärten Fachbegriffen und Konzepten. Raus Text strotzt nur so vor philosophischen Querverweisen, die seine Belesenheit zeigen, die Argumentation des Essays aber nicht immer voranbringen. So wird beispielsweise auf Kierkegaards Vergangenheitsverständnis und auf Latours Vorstellungen zu gesellschaftlichen Narrativen Bezug genommen: beide sind für jeweils genau einen Satz brauchbar und verschwinden dann in der Versenkung. Andere Konzepte wiederum – wie das des Foucaultschen Dispositivs oder der Feinen Unterschiede nach Bourdieu – werden mehrfach sinnstiftend in den Text eingearbeitet und stützen Raus Gedankengänge.
Was beim Lesen insgesamt motiviert, sind die neugierig machenden Schwarz-Weiß-Fotos, die ins Buch eingestreut sind – und natürlich die Hoffnung auf Lösungsansätze. Nachdem Rau seine fünf problematischen Reiter eingeführt hat, rückt er auch prompt mit seinen Zukunftswünschen in Richtung Kulturbetrieb heraus. Er fordert reale Erfahrung statt Information, Praxis statt Kritik und Solidarität statt Ausgrenzung. Darüber hinaus ist für Milo Rau das Aushalten von Widersprüchen anstelle eines übertriebenen Moralismus wichtig für die Entwicklung einer Utopie, die sich dem kapitalistischen Realismus entgegensetzen lässt.
Wie das gehen soll, das zeigt Rau zunächst am Beispiel verschiedener Künstler:innen und (eigenen) Theaterproduktionen. Er schreibt über kognitive Dissonanzen zwischen Idealvorstellungen und tatsächlicher Realität, denen er immer wieder begegnet und die bei ihm zu künstlerischer Aktivität führen: „Auf einmal geschieht etwas, was […] die schönen Worte, die uns vor der Wirklichkeit schützen sollen, […] zerstört.“ Im Falle seines Stückes „Das neue Evangelium“ waren das die katastrophalen Zustände auf Tomatenplantagen in Italien, die ihn aufgerüttelt haben. Bei den Pussy Riot-Prozessen ist es die Erkenntnis, dass unklare gesellschaftliche Regeln Unterdrückung nur befördern. So soll beim verhängnisvollen Pussy Riot-Konzert in der Erlöserkathedrale in Moskau nicht vorhersehbar gewesen sein, ob die Künstlerinnen für ihre Performance hinterher eine Auszeichnung oder eine Strafe erhalten würden. Putin hätte überraschend einen Teil der Aktivistinnen ins Straflager geschickt.
Milo Raus Fazit daraus: Am besten möglichst viel Chaos stiften. Denn es sei wichtig, Widersprüche dort zu finden, wo andere keine sehen und so ungeschriebene Gesetze aufzudecken. „Es geht darum, […] die herrschende Harmonie zu entlarven als falsche Harmonie der Herrschenden“, schreibt der Theaterregisseur recht leidenschaftlich. „Selbst in einer Situation, in der das Falsche […] alles durchdringt, […] besteht die Möglichkeit, sich handelnd dagegen aufzulehnen“, heißt es ein paar Seiten weiter. Der Mittelteil des Bands macht nicht nur wegen Raus Enthusiasmus Spaß, die einzelnen Beispiele fügen sich auch schlüssig ineinander und geben neue Gedanken mit auf den Weg.
Milo Rau ist der Meinung, dass Aktivismus leicht ist, wenn man nur erfasst, wie unnötig der Einsatz von Gewalt ist. Der Theatermacher weitet Hannah Arendts Theorie von der Banalität des Bösen aus und ist der Ansicht, dass auch das Gute banal und alltäglich sei. Aktivist:innen seien keine besonderen Menschen, sondern hätten sich einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Handeln entschieden. Als Beispiele für seine These zieht er zunächst Jesus und Antigone, dann Anton Schmid (Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime), Solange Lusiku (unabhängige kongolesische Journalistin) und Carola Rackete (Seenotretterin) heran. Beim Lesen wächst die Hoffnung, dass Menschen tatsächlich schneller ins widerständige Handeln kommen, als man es von der eigenen ängstlich-passiven Haltung nicht selten gewöhnt ist.
Wen es bald packt, auf die Barrikaden zu gehen, fragt vielleicht: Warum Kunst machen, wenn es scheinbar so viele wichtigere Handlungsmöglichkeiten gibt? Milo Rau versucht sich im letzten Teil seines Essaybandes, der mit „Die Rückeroberung der Zukunft. Oder der kommende Aufstand“ überschrieben ist, an einer Antwort. Es gehe vor allem darum, in der Kunst Räume zu schaffen, in denen Fragen neu ausgehandelt werden können. Als Beispiel spricht er von seinem eigenen Versuch, eine in der Schweiz aufbewahrte ägyptische Mumie wieder zurückzuführen. Ein Vorstoß, der zunächst auf Kritik gestoßen sei, weil die Besucher:innen der St. Galler Stiftsbibliothek sich so sehr an das in ihren Augen alltägliche Exponat gewöhnt hätten.
Milo Rau bezeichnet sich selbst als „einen Spezialisten für eine Art Unwohlsein am Alltäglichen.“ Das mag sein. Rau erläutert schlüssig, wie er in seinen Theaterproduktionen immer wieder an gesellschaftliche Schmerzgrenzen geht und so thematisiert, was ihn an der uns alltäglichen Welt stört. Sein Essay hinterlässt allerdings den Eindruck, Rau sei nicht nur Spezialist für alltäglichen Widerstand, sondern generell für alles. Und er kennt auch jeden, der im Kulturbereich wichtig ist und trägt damit reichlich dick auf. Das führt auf einen schmalen Grat zwischen Selbstdarstellung und interessanter Wissensvermittlung.
Ein wenig seltsam muten Verweise auf Kim de l’Horizon an, die inhaltlich kaum zu Raus Argumentation beitragen, de l’Horizon aber über alle Maßen loben. Rau erzählt von einer Situation, in der er „von dem vortrefflichen Blutbuch von Kim de l’Horizon ermüdet“ nach Zerstreuung sucht. Später wird de l’Horizon als „Extrem-Mensch der Zärtlichkeit“ bezeichnet. Aber dieser auffällige Celebrity Crush sei Milo Rau gegönnt. Es gelingt dem Autor schließlich, von der Bibel bis zu Van Goghs Sonnenblumen verschiedenste kulturelle Erzeugnisse in seinem Sinne zu verwursten und seine Leserschaft dabei emotional mitzureißen. Hier beweist Rau durchaus schriftstellerisches Talent.
Schlussendlich hinterlässt Raus Essay Die Rückeroberung der Zukunft große Lust zu handeln, aber auch ein wenig Unwohlsein bezüglich seiner selbstdarstellerischen Schreibe. Ein Plus sind die vielen eingeführten theoretischen Konzepte, die neugierig auf Raus Argumentation machen, aber im Text stellenweise nur angerissen und nicht eingehender beleuchtet werden. Trotz allem: ein lesenswertes Buch, das berührt und zum eigenen politischen Denken und Handeln ermutigt.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2024 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2024 erscheinen.
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