Ein Waldausflug und seine epochalen Folgen
Linda Grant wagt in „Die trotzige Schönheit der Welt“ eine literarische Tour de Force durch das gesamte 20. Jahrhundert und spielt mit der generationsübergreifenden Macht des Erzählens
Von Nina Cullmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlles beginnt mit einem märchenhaften Ausflug in den Wald. Dort trifft die Protagonistin von Linda Grants Roman Die trotzige Schönheit der Welt, Mina, auf eine Gruppe Bolschewiki. Was zwischen dem Mädchen und den jungen Rebellen genau geschah, beschäftigt die vier Generationen in Grants neuntem Roman durch die gesamte Handlung hindurch. Fest steht, dass Minas Waldausflug für viele Spekulationen sorgt und primär Uneinigkeit über die wahrheitsgemäßen Geschehnisse herrscht. Demgemäß kommt dem Erzählanfang des Buches und Minas Ausflug in den Wald eine besondere und handlungstragende Bedeutung zu. Grants mehrere Generationen umfassendes Familienepos eröffnet ein Panorama des 20. Jahrhunderts und führt von Lettland über Liverpool bis nach Soho, dem angesagten Stadtteil Londons, und seiner Filmindustrie. Im Mittelpunkt stehen vier Generationen der jüdisch-bürgerlichen Familie Mendel. Angetrieben wird die Geschichte dabei vor allem von den beiden starken Frauenfiguren der zweiten und dritten Generation: Mina Mendel und ihrer Tochter Paula.
Grant wurde als Nachfahrin polnisch-russischer Juden 1951 in Liverpool geboren, wo auch ein großer Teil der Geschichte spielt. Ihr vielfältiges Werk, zu dem neben einigen Romanen auch Sachbücher und Essays zählen, wurde in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Sie schrieb als Feuilletonistin für The Guardian und debütierte belletristisch erst mit über 40 Jahren. Themen, die in ihren Werken immer wieder auftauchen – so auch in Die trotzige Schönheit der Welt – sind die Rolle von Erinnerungen innerhalb von Familien, Flucht und Vertreibung, die Suche nach Identität sowie die jüdische Kultur.
Die Geschichte beginnt „vor langer Zeit im alten Lettland“ einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Der Erzählanfang weckt durch die pittoreske Erzählweise, die kindliche Naivität Minas, ihren Plan, im Wald Pilze zu sammeln, und durch direkte Referenzen und deutliche Parallelen zu Rotkäppchen deutliche Märchenassoziationen. Mina trifft im Wald jedoch nicht auf den bösen Wolf, sondern auf eine Gruppe anti-zaristischer und große Parolen schwingender Bolschewiki. Der Nachmittag mit den jungen Männern im Wald weckt Minas Freigeist und romantische Gedanken an die Liebe, was sie aufbegehren lässt und sozialistische Ideale in ihr weckt. Diese werden sie ihr ganzes Leben – trotz bürgerlicher Fassade – begleiten. Bei einem für die neugierige Mina unvermeidlichen, verbotenen zweiten Besuch im Wald, der von der konservativen und bürgerlichen Familie selbstverständlich nicht gerne gesehen wird, kommt es gar zu einem ersten zarten Kuss mit einem der Bolschewiki. Diese Begegnung ist nicht nur ein Inkarnationsmoment für Mina, sondern auch Katalysator für die gesamte folgende Handlung und eine Art um sich greifender Familienmythos.
Nachdem Minas jüngerer Bruder Itzik – im Märchensinne wohl der Bösewicht der Geschichte – den Kuss beobachtet hat und dem älteren Bruder Jossel davon erzählt, kommt es zur entscheidenden Wende: Um aufgrund des verbotenen Kusses Schaden von Mina und der Familie abzuwenden, besteigen sie und Jossel ein Schiff – mit dem Ziel Amerika. Sie stranden jedoch aufgrund des Ersten Weltkriegs, anhaltender Prekarität und einer anspruchsvollen bourgeoisen Verlobten Jossels, die er auf dem Schiff kennenlernt, in Liverpool, wo sich ein großer Teil der weiteren Geschichte ereignet. Ihre Eltern und drei Geschwister bleiben in Lettland zurück. Eine Besonderheit dieser jüdischen Familiengeschichte ist es, dass der Fokus vollkommen auf der Emigrationsgeschichte liegt. Wie es mit der restlichen Familie in den Wirren des Holocaust weitergeht, wird nur sehr fragmentarisch erzählt. Eine Ausnahme bildet die Geschichte des zurückbleibenden Bruders Itzik, die in Rückblenden geschildert wird. Itziks Figur überzeugt in ihrer Ambivalenz und ihm kommt für den Verlauf der Geschichte eine tragende Rolle zu.
Im Mittelteil des Romans wird Minas Lebensweg in der jüdischen Gemeinde Brownlow Hill geschildert. Dieser Ort ist als ein herrlicher Mikrokosmos verschiedener kauziger und liebenswerter Charaktere gestaltet. So gibt es beispielsweise einen „Frauen verschlingenden“ Friseur, in dessen Etablissement seltsame und verruchte Dinge geschehen, die sogar das Potential haben, Ehen zu zerstören, einen Arzt, der sozialistische Versammlungen besucht, und einen jüdischen und homosexuellen jungen Mann, der eine Coming of age-Geschichte erlebt. Die Darstellung der jüdischen Gemeinde gelingt Grant grandios und mit viel Humor. Sie behandelt jedoch genauso ernste Themen wie Antisemitismus, die Lage der Arbeiterklasse, gelungene oder fehlgeschlagene Assimilation innerhalb der britischen Kultur und – in einem Nebenstrang – die Wirren in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Minas Entwicklung ist hierbei äußerst überzeugend und einnehmend. Indem sie in Kriegszeiten bei der Arbeit in einer Munitionsfabrik mit der Lebensrealität der Arbeiterklasse konfrontiert wird, festigen sich ihre sozialistischen Ideale abermals. Mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg werden die Frauen jedoch wieder in den Haushalt verdrängt. Dieses Schicksal widerfährt auch Mina, die zur guten Haus- und Ehefrau sowie Mutter avanciert, ihren kritischen Geist jedoch stets beibehält.
Erfrischend ist hierbei Grants emanzipatorisch-komische Figurenausgestaltung, die mit einem Augenzwinkern erfolgt und stets liebenswert bleibt: Während alle Frauen des Buches eigensinnig, charakterstark und anpackend sind, wirken viele der männlichen Figuren eher stumpf, labil und hasenfüßig. Der Ausflug der aufmüpfigen Mina in den Wald wird niemals vergessen, weder von ihr noch von anderen Familienmitgliedern: Von vielen Figuren der Geschichte und zu verschiedensten Anlässen wird er immer wieder aufgegriffen – und je nach Weltsicht und ideologischer Ausrichtung anders bewertet und ausgestaltet.
Im zweiten Teil des Buches, der nach dem Zweiten Weltkrieg spielt, rückt eine andere Figur in den Mittelpunkt des Geschehens: Minas Tochter Paula. Wie ihre Mutter hat sie einen rebellischen und freien Geist, doch wählt sie einen anderen Weg und assimiliert sich vollständig, während ihre Mutter ein Leben in einem relativ homogenen und abgeschlossen jüdischen Milieu führt. Paula hadert mit ihrer jüdischen Herkunft. Durch ihren bereits frühkindlichen Radiokonsum lernt sie einen perfekten englischen Akzent, nimmt einen neuen Namen an und geht nach London. Dort arbeitet sie zunächst als Sekretärin und dann in der Filmbranche, erlebt Affären mit Männern und die Diskrepanzen zwischen bürgerlicher Sozialisation und intellektuellem Soho.
Die durchaus ambivalente Emanzipationsgeschichte Paulas und ihre entfremdenden Erfahrungen in Soho gehören zu den überzeugendsten und kurzweiligsten Stellen des Romans. Beide Frauen – Mina und Paula – gehen vollkommen unterschiedliche Wege, allerdings führen beide auf ihre individuelle Weise einen Kampf gegen Misogynie, Antisemitismus und Fremdzuschreibungen. Doch nicht nur das: Minas Waldmythos wird von Paulas Arbeitgebern verfilmt. Grant eröffnet hierbei ein äußerst interessantes Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion mit dem Blick auf zurückliegende Familienereignisse. Dabei betont sie die Macht, die das spekulative (Wieder-) Erzählen bestimmter Erlebnisse für die Ausgestaltung von Familienidentitäten und die kollektive Erinnerung von Familien haben kann. Die Vermittlung dieses Gedankens, dass immer wieder neu erzählte Geschichten eine Familie über Generationen prägen und zusammenführen kann, ist eine der wohl größten Stärken des Buches.
Die knapp vierzig Kapitel in Die trotzige Schönheit der Welt erzählen – in der vorliegenden Fassung von Brigitte Jakobeit aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt – die Familiensaga mehrsträngig und annähernd chronologisch, mit jeweils kleinen Ausflügen in die Zukunft und Vergangenheit, die sich aber äußerst angenehm in die Erzählstruktur eingliedern. Es wird ein vielgestaltiges Bild der Familie entworfen, da in den Kapiteln jeweils unterschiedliche Figuren im Mittelpunkt stehen und unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden. Mit den verschiedenen Teilen der Erzählung geht auch ein unterschiedlicher Erzählstil einher. Während der erste Teil inklusive des Erlebnisses im Wald eher in naiv-kindlicher und verträumter Manier erzählt wird, entwickelt sich die Erzählweise analog zur Reifung Minas hin zu einer deutlich deskriptiveren und erwachseneren Art. Dies unterstreicht die veränderte Haltung der Charaktere und fügt sich authentisch in den Erzählfluss ein. Schön ist es, dass die Märchenmotivik eine Art Leitlinie ist und immer wieder aufgegriffen und reflektiert wird. So wird beispielsweise von zwei Charakteren über Vladimir Popps Morphologie des Märchens referiert, was sich direkt auf den ersten Teil des Romans beziehen lässt und einen schönen Rahmen schafft. Aufgrund dieser Tendenz des Romans passt der englische Titel des Buchs The Story of the Forest deutlich besser als das etwas kitschig anmutende Die trotzige Schönheit der Welt.
Grants Roman eröffnet ein vielschichtiges Referenz- und Themenarsenal: Von der Rolle des Zufalls und der Relevanz einer einzigen Entscheidung für kommende Generationen, durchkreuzten Träumen, Sackgassen, kollektiver Erinnerung, der Sozialgeschichte der britischen Diaspora, der Suche nach Identität, Antisemitismus, Vertreibung, Exil und Assimilation in einer neuen Lebensumgebung bis hin zu der sich verändernden sozialen Rolle der Frau im 20. Jahrhundert ist alles dabei. Auch ihr Figurenarsenal ist eindrucksvoll und auf den über 350 Seiten erhalten die emigrierten Figuren eine differenzierte und kontrastreiche Ausgestaltung mit dynamischen Entwicklungen. Man kann es als unzulänglich empfinden, dass der Zweite Weltkrieg und die Schicksale der zurückbleibenden Figuren nur fragmentarisch erzählt werden. Es ist jedoch eine Art erzählerischer Clou, dass in diesem Buch eine Exilgeschichte erzählt wird und der Fokus außerhalb Kontinentaleuropas und damit abseits des großen, erschütternden Krieges liegt. Hier wird von jenen erzählt, die nicht dabei waren und die Unsicherheit in der Ferne ertragen und dennoch ihren Weg finden mussten. Die ungenauen und diffus bleibenden Geschichten der Zurückbleibenden intensivieren den innerfamiliären Hang zum Geschichtenerzählen. Exemplarisch zeigt sich dies anhand von Minas Waldausflug, der den Status eines familiären Mythos erreicht und stets weiter- und neuerzählt wird. Die Figuren erzählen einander und umweben Geschichten mit eigenen Erfahrungen und Leidensmomenten, um ihren Verlust und die Ungewissheit besser ertragen zu können. Das Erzählen wirkt dadurch gar als eine Art Überlebensstrategie in unsicheren Zeiten.
Es überrascht, dass der Roman, der zahlreiche signifikante und zeitgemäße Fragen aufwirft und viele moderne Diskurse verhandelt, in den deutschen Feuilletons kaum rezipiert wurde. Linda Grants Die trotzige Schönheit der Welt und seine starken Frauenfiguren hallen lange nach. Schlussendlich lässt es sich nicht rekonstruieren, was zwischen Mina und den Bolschewiki im Wald geschah, da das Erlebnis je nach Perspektive anders interpretiert und ausgelegt wird. Doch genau darin liegt die faszinierende Kraft dieser Familiensaga.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2024 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2024 erscheinen.
|
||