Unendliche Pein?
Ein Tagungsband von Mariacarla Gadebusch Bondio und Marc Föcking untersucht die „Kulturgeschichte unheilbarer Wunden in der Vormoderne“
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVerwunden, verwundet werden, Verwundung und Wunde – all das sind Komponenten, die in einer ‚normalen‘ Biografie in unterschiedlicher Häufigkeit und Graduierung vorkommen, mithin anthropologische Konstanten. Dabei ist in der westlichen Zivilgesellschaft die Art der Wunden und Verwundungen häufig eher immaterieller Art, in der Durchschnittsbiografie wird sicherlich häufiger durch Worte Verletzung erfahren als durch körperliche Gewalt. Das bedeutet: Es gibt Erlebnisse, Ereignisse oder auch ‚Ergebnisse‘, die – zumindest vermeintlich – ewig andauern.
Zu oft sind diese eher negativer Natur; anhaltendes Glück etwa ist zwar etwas weithin Erstrebtes, aber eher selten Erreichtes, während die Folgen einer Verletzung im körperlichen Rahmen beziehungsweise die Macht einer Kränkung unerachtet ihrer rational gesehen geringfügigen Natur mitunter ein ganzes Leben lang ihre unheilvolle Wirkung zu entfalten vermögen. Dass Vorkommnisse, die im linearen wie im Streaming-TV ganze Serien generieren, keine Phänomene der postmodernen Gegenwart sind, ist angesichts ihrer universalen Gültigkeit nicht außer Frage zu stellen, und eben die hier wirksamen Aspekte und Effekte sind zentraler Bereich der Tagung Eternal Wound – Die ‚Ewige Wunde‘ in der Frühen Neuzeit samt der zugehörigen Publikation Die ‚ewige Wunde‘.
Bereits die Gestaltung des Bandes lässt Düsteres ahnen. Wo vor ungefähr 20 Jahren Plakat und Umschlag des Ausstellungskatalogs der in der Schirn-Kunsthalle Frankfurt präsentierten Ausstellung Blut effekthascherisch Rot- mit Schwarztönen kontrastierten und ineinander verlaufen ließen, wird im vorliegenden Fall die „ewige Wunde“ durch (im längeren Rückseitentext leider kaum mehr lesbare) rote Schrift auf schwarzem Untergrund quasi abstrahiert. Aufmerksamkeit generiert diese Aufmachung in jedem Fall.
Im Buch geht es um Allgegenwart und Auswirkung, um die Universalität von „ewigen Wunden“ auf verschiedenen Ebenen. „Insofern sind nicht oder nur schwer heilbare Wunden nicht nur ein medizinisches Problem, sondern haben als kulturell aufgeladenes Phänomen den Charakter einer anthropologischen Konstante“, so die beiden Herausgeber Mariacarla Gadebusch Bondio und Marc Föcking in ihrem knappen, aber informativen und auf die Materie hinleitenden Vorwort. Schon hier wird – unter Bezug auf den Meta-Link zu medizinisch-naturwissenschaftlichen Aspekten – verdeutlicht, dass der ‚weiche‘ Aspekt von Literatur tatsächlich einen Sitz im Leben hat, der das respektive die Sujet(s) eben mehr als l’art pour l’art sein lässt. Die „anthropologische Konstante“ besteht hier eben nicht nur aus Kultur, sondern auch aus Natur.
Der Band beginnt schließlich mit Beate Kellers sehr weit, jedoch nicht weitschweifig, gefasstem Überblick zum Thema (oder vielmehr den Themen) „Ewige Wunden der Liebe, des Kampfes und des Glaubens in der mittelalterlichen weltlichen und geistlichen Literatur“. Dieser Parforce-Ritt muss per se, zumal sich über lediglich 19 Seiten erstreckend, unvollständig sein, lässt gleichwohl aber zumindest die Komplexität der Thematisierung dieser diversen Wunden sowie ihre – unter divergierenden Aspekten realisierte – Ubiquität in der mittelalterlichen Literatur erahnen.
Dass hier ausgerechnet der theologische Blick erst an zweiter Stelle steht, überrascht zunächst, ist aber wohl dem nachfolgenden Beitrag Petra Kaysers („Wound worship: Devotion to and through the body of Christ“) geschuldet, in dem die literarisch-liturgische Verehrung des Leidens und vor allem der Leidensmerkmale, also im Zuge der Kreuzigung zugefügten Verletzungen und deren Spuren, im Fokus steht. Dieser Beitrag ist bereits im Fließtext monochrom illustriert, es werden aber auch im Anhang farbige Abbildungen geboten.
In die literarische Welt des Säkularen, die allerdings lediglich eine Matrix für das Spirituelle liefert, begibt sich in der Folge Daniel Fliege, der in „‚Pensando la sua piaga‘“ Girolamo Malipiero beziehungsweise dessen Petrarca spirituale in den Blick nimmt und dabei beschreibt, wie Malipiero die Leiden Petrarcas an der Liebe zu Beatrice zur Basis für die Erweiterung des Horizontes vom Individuell-Menschlichen zum Transzendenten macht.
Ebenfalls der theologischen Perspektive verhaftet ist der Beitrag „‚Morsure, logette, doux nid‘“ von Rogier Gerrits, der – bezogen auf die französische geistliche Literatur der Frühen Neuzeit – eine literarisch-kontemplative Verdichtung des Wunden-Motivs nachweist, denn „die unheilbare Wunde ist [in diesem Zusammenhang] für die Meditation der imaginäre Ort, an dem Anfang, Gegenwart und Zukunft zusammenfließen und sich überblenden“.
Und Maria Schaller („‚Amor sculpsit‘“) verlässt den theologischen Bereich nicht; sie stellt eine „gemalte Wunden-Genealogie der sizilianischen Adelsfamilie Tomasi di Lampedusa“ vor – in Bild und Text, und dies auf sehr aktuelle Weise. Mögen dabei die erwähnten „Betrachter*innen“ noch zeitgeistlichem Duktus geschuldet sein, ist der Verweis auf „Mystiker*innen“ jedoch grotesk. Nur zur Erinnerung: Gerade der aktuelle Diskurs sucht ja Geschlecht als soziales Konstrukt zu begründen, und es ist definitiv nicht davon auszugehen, dass katholische Mystikerinnen oder Mystiker, selbst wenn sie anders empfunden haben sollten, sich in irgendeiner Weise als ‚queer‘ definiert hätten. Sicher, auch in theologisch-kirchlichen Kontexten kommt der Regenbogen vor, das hat dann allerdings nichts mit LGTBQ zu tun, sondern mit Gott, Noah und der Sintflut.
Zurück ins Mittelalter: Etwas weltlicher orientiert ist der Beitrag „Tristans Wunde“ von Tobias Bulang, auch wenn er in seiner Durcharbeitung von Gottfrieds von Straßburg Tristan auf das Konzept des vorliegenden Bandes verweist, einen im Motiv der „offenen Wunde“ liegenden „Schnittpunkt medizinischer, religiöser und kultureller Diskurse“ auszumachen. Besonders die Wunde Tristans ist über die mit ihr verbundene Giftmagie in gewissem Sinne religiös überprägt.
Noch wesentlich symbolischer (und individuell-irdischer) sind die in der entsprechenden Lyrik besungenen Leiden an der Liebe, die Gaia Gubbini in ihrem Beitrag „The Sweet, Cherished Wounds in Troubadour Poetry“ beispielhaft darstellt. Die Liebe und ihre Folgen sind demnach ein gravitätisches allgemein menschliches Thema wie spezifisch literarisches Sujet. Und inwieweit Liebe, Gottesliebe, Selbstliebe zusammenfallen oder zumindest miteinander zu wechselwirken vermögen, klingt bei Birgit Ulrike Münch („Rubens – Christus – Chiron“) an, die Peter Paul Rubens’ Ecce Homo nicht nur in eine evolutionäre (Bild-)Beziehung zum Œvre Albrecht Dürers und Michelangelo Merisi da Caravaggios stellt, sondern über den christomorphen Aspekt eines Selbstporträts in eine – nicht eben uneitle – Wechselwirkung mit dem Heilsgeschehen bringt, das durch den Kentauren Chiron überdies in einen antik-mythologischen Kontext transferiert ist. Im Resultat offeriert Rubens sich damit seinem Publikum „und stellt damit sich selbst sowie sein gesammeltes Eingeweihtenwissen einer Community von Initiierten zur Schau“.
Damit ist ein neues Denken erkennbar: alte Muster aufnehmend, diese jedoch anders ausdeutend. Ähnlich ist dies auch bei dem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebenden englischen Adligen Sir Kenelm Digby, dessen Werk poudre de sympathie Sergius Kodera in den Fokus stellt. Hier geht es um Ehre, Duelle, Wundermittel, um Waffen erfolgreich zu machen, aber erkennbar als ein Blick zurück in eine Zeit, deren Metaphern noch gelesen werden können und deren (soziale) Verhältnisse noch vorhanden sind, die jedoch dem Wandel unterlegen ist. Aristokratische Standpunkte zu Ehrverständnis und -verteidigung sind, hier belegt am Beispiel der literarischen Fiktion, einerseits noch gültig, andererseits aber auch wieder nicht.
Diesen Übergangshorizont macht auch Francesco Paolo De Ceglia zum Thema, indem er in „Boiling Blood“ unter Rückgriff auf ‚barbarische‘ wie ‚zivilisiert-antike‘ Mythologien den Weg in die frühneuzeitliche europäische Naturphilosophie nachzeichnet. Bemerkenswert ist hier besonders der Hinweis auf lebende Tote beziehungsweise den Vampirismus; ein Motivblock, der später im Genre der Gothic Novel eine sehr produktive Komponente darstellen sollte.
Marlen Bidwen-Steiner lenkt den Blick auf das (literarische) Spanien der Frühen Neuzeit. In ihrem sehr lesenswerten Beitrag „Die sprechende Wunde der Toten in der frühneuzeitlichen Literatur Spaniens“ werden Tradierung und Durchbrechen literarischer wie gesellschaftlicher Parameter sowie die Indienstnahme entsprechender Schemata – vornehmlich Bahrprobe und Verwandtes – im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Konflikte wie explizit antijüdischem Agieren und anhand der Rivalität zwischen Miguel de Cervantes und Lope de Vega, die auf literarischem Wege gesellschaftliche Wirkung zeitigen sollte, behandelt.
Da es beiden auch um politische Gunst zu tun war, wird hier eine Komponente berührt, die in gewisser Hinsicht im abschließenden Beitrag „‚Kiss dead Cesar’s wounds‘“ von Felix C. H. Sprang unter dem Blick auf „[s]taatstragende und staatszersetzende Wunden bei Shakespeare“ aufgegriffen bzw. fortgeführt wird. Und dass William Shakespeare womöglich aktueller denn je ist, macht ein Hinweis des Verfassers auf Antonius und Cleopatra deutlich. In diesem Drama „dient die Wunde als Mahnung, dass Staaten als dynamische Gebilde nicht mit Stärke regiert, sondern mit Umsicht gestaltet werden müssen“. Schön, wenn das auch gegenwärtig allen in der Verantwortung Stehenden klar wäre.
Der vorliegende Band ist seinerseits dynamisch; er wirkt auf den ersten Blick (zu) weit angelegt, lässt auf den zweiten eine überraschende Geschlossenheit erkennen, um dann doch eine Perspektive der Weite aufzuweisen. Die ‚ewige Wunde‘ bietet Anregungen zum eigenen Arbeiten und dabei auch die Chance, neue Perspektiven zu entdecken. Für den Erwerb sprechen die solide Gestaltung, die Abbildungen im Text wie auch der angehängte, farbig gehaltene Abbildungsteil, nicht zuletzt der überschaubare Preis trotz der soliden Ausgestaltung. Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte Publikation, deren Anschaffung oder doch zumindest Kenntnisnahme sich lohnt.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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