Ich trage einen großen Namen
Meike Katharina Gallina stellt die weltlichen „Neidhartspiele“ des Spätmittelalters in einem breiten horizontalen und vertikalen Rahmen vor
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass einerseits die Welt eine Bühne ist, die Bühne andererseits die Welt darstellt (‚die Bretter, die die Welt bedeuten‘), ist sicherlich eine der geläufigeren Feststellungen. Dennoch ist der Wahrheitsgehalt im Kern nicht von der Hand zu weisen. Deutlich wird dies anhand der kultisch geprägten Theaterstücke, die in unterschiedlicher Form und unterschiedlichem Umfang seit der Antike belegt sind. Bereits früh lassen sich auch gewissermaßen ‚religionsfreie‘ Formen ausfindig machen. Und im europäischen Mittelalter finden sich analog zu geistlicher und weltlicher Dichtung auch geistliche wie weltliche Theaterstücke. Letztere in beiden Konstellationen mögen den Kern zur säkularen Moderne in sich getragen haben – sei es, dass sie der bloßen Unterhaltung wegen entstanden und damit einen diesseitsbezogenen Lebensstil neben der spirituellen Ausrichtung auf das Seelenheil vorgaben, sei es gar, dass dramaturgische Bearbeitung von Lebenswirklichkeiten eine Form von Sozialkritik ermöglichte.
Dass die Neidhart zugeschriebenen – hier wäre grundsätzlich ein expliziterer Hinweis auf die Frage nach dem wirklichen Verfasser angebracht gewesen – Theaterspiele von hoher Qualität sind, steht außer Frage. Und so ist die vorliegende Edition der Neidhartspiele, basierend auf der Dissertation der Autorin Meike Katharina Gallina per se eines genaueren Blicks wert.
In der im Regensburger Verlag Friedrich Pustet herausgegebene Reihe Editio Bavarica werden „Erst- und Neueditionen bairischer oder in Bayern entstandener und überlieferter Texte“ veröffentlicht, womit die Neidhartspiele in einen würdigen Rahmen eingebettet sind. Dies gilt vielleicht mehr noch angesichts des Umstandes, dass diese Bühnenwerke keineswegs von Neidhart von Reuental stammen, sondern diesem – dem tatsächlichen oder vorgeblichen Bauernfeind – lediglich im wahrsten Sinne an- oder vielmehr nachgedichtet worden, sind sie doch deutlich nach dessen Lebenszeit entstanden. Hier führt der Weg vermutlich sowohl über die Herkunft des ‚echten‘ Neidhart, der tatsächlich in Bayern das Licht der Welt erblickte, den hier auch im Kontext des Kommentars zum Großen Neidhartspiel erwähnten (semifiktiven?) wienerischen Dichter Neithart Fuchs, als auch über Entstehungs- und Rezeptionsorte der Spiele, die auch in den bairischen (Sprach-)Raum verweisen.
Nun füllen diese angeblich auf Neidhart zurückgehenden Texte tatsächlich keine Regalmeter, und Meike Katharina Gallina weist bereits in ihrer Hinführung zu Texten und Editionsarbeit explizit auf die schmale Überlieferungsbasis hin, dennoch ist bereits der komprimiert ermöglichte Zugang zum Œvre des anonymen Dichters (oder gar mehrerer?) ein äußerst angenehmer Umstand.
Die Edition folgt einer klaren und in sich konsequenten Struktur, die allerdings gewöhnungsbedürftig ist. Die Edition der Neidhartspiele, deren Zahl wie jeweiliger Umfang überschaubar sind, steht am Anfang, was per se nachvollziehbar erscheint; jedoch hebt sie nach nur einigen einleitenden Zeilen recht unvermittelt an. Die in vergleichbaren Projekten vorangestellten Basisinformationen entfallen weitgehend, werden jedoch im Kontext des sehr umfangreichen Kommentarteils gegeben. Und dieser ist aller Ehren wert, weist er doch die vorliegende Publikation deutlich über die bloße, wenngleich kompakte, Herausgabe des Neidhart’schen Œvres hinaus. Dass mit Neidharts Großem Spiel das längste, mit seinem Kleinen Spiel eines der ältesten weltlichen Spiele vorliegt, sei an dieser Stelle nur randständig vermerkt.
In ihrer dem Buch zugrunde liegenden Dissertation konnte es Gallina auch nicht darum gehen, eine Neu-Edition der Spiele Neidharts ohne jegliches ‚Mehr‘ zu generieren. Dieses ‚Mehr‘ liegt in dem beachtlichen Kommentarteil vor, der ein literatur- und theaterwissenschaftliches, aber dankenswerterweise auch historisches Kompendium zu den Neidhartspielen darstellt und diese damit in ihren literarisch-dramaturgischen, aber ebenfalls soziologischen und historischen Rahmen einbettet (was bei zuvorderst literaturwissenschaftlich orientierten Arbeiten leider oft genug aus dem Fokus gerät). Dies erfolgt durch einen ausführlichen Rückbezug auf die Quellen und den Blick auf szenische Parallelen, die damit ein tragfähiges System vorgeben, innerhalb dessen die entsprechenden Gedankengänge und Arbeitsschritte vollzogen (und auch nachvollzogen) werden können. So ist es der Autorin gelungen, die Neidhartspiele adäquat in den Kontext der – sowohl weltlichen wie geistlichen – Theaterszene des Mittelalters einzuordnen.
Es geht mithin um ‚Neidhart größer als Neidhart‘ – eine Intention, die nur dadurch zu stemmen ist, dass der Blick über Neidhart hinaus gerichtet wird. Aufgrund mitunter fragwürdiger oder doch zumindest nicht unbedingt seriöser Interpretation und Axiomatik in der älteren germanistischen Forschungsgeschichte, was die Frage nach Ursprung und Überlieferungshistorie betrifft, sind diese rückverweisenden Aspekte in der jüngeren Vergangenheit der Forschung, so scheint es zumindest, ein wenig aus der Mode gekommen. Daher ist es auch in dieser Hinsicht interessant, wenn Gallina unter Einbeziehung aktueller (Be-)Funde und (Forschungs-)Ergebnisse die Frage insbesondere nach der Herkunft des Großen Spiels zu beantworten sucht.
Bevor es allerdings so weit ist, werden das Kleine Neidhartspiel, das St. Pauler Neidhartspiel, das Große Neidhartspiel, das Mittlere Neidhartspiel sowie das Sterzinger Szenar (eigentlich eine in Form einer Dirigierrolle überlieferte, gewissermaßen erweiterte Variante des Mittleren Spiels) vorgestellt. Hier verzichtet die Autorin neben knappen einleitenden Sequenzen nicht auf eine Ausweisung der für die Lesefreundlichkeit angewandten Nominalisierungen und weist auch darauf hin, wo diese unterblieben sind. Überdies wird explizit, womöglich der vermuteten Ferne der neuzeitlichen Interessierten geschuldet, die „Einrichtung“ (vornehmlich im Originaltext vorkommende Anweisungen und Hinweise dramaturgischer Art) für jedes der aufgenommenen Neidhartspiele erläutert. Somit ist die Basis bereitet, auf der dann der Kommentar aufbaut, in dem unter anderem die textgeschichtlichen, allgemein literaturwissenschaftlichen und transkontextuellen Beziehungen und Verflechtungen untersucht werden.
Die Untersuchung der Spiele im Kommentar folgt im nach dem ersten, die Überlieferungsträger benennenden Schritt – einem unter dem Überbegriff „Sprache“ zusammengefassten Arbeitsweg – durchgängig dem Muster „Schriftstand“, „einzelne Buchstaben“, „Lautstand“ und „Interpretation“, dem sich der jeweilige Blick auf „Publikum“ sowie „Bühne“ anschließt, bevor dann für jedes der Spiele ein „Szenenkommentar“ erfolgt. Diese Szenenkommentare nehmen jeweils den umfangreichsten Teil der Betrachtungen ein; im Fall des Großen Neidhartspiels etwa umfasst der Kommentar knapp 380 Seiten.
Die Autorin geht insofern über die Textbasis hinaus, als im Kontext des Großen Neidhartspiels nicht nur explizite „lokale Bezüge“ diskutiert, sondern auch „Neidharttänze in Wandmalereien“, die „Regensburger“ sowie die „Wiener Fresken“ vorgestellt werden. Zu letzteren bietet Gallina auch mehrere Interpretationsschemata beziehungsweise Lesehilfen‘ an, allerdings, das ist wirklich bedauerlich, keine einzige Abbildung. Angesichts des Umstandes, dass die Fresken dann auch für die restliche Interpretation und Argumentation des Werks ohne Belang sind, hätte ein Verzicht auf diesen Schritt dem Arbeitsgang keinen Abbruch getan.
Wie nicht anders zu erwarten, sind die Querverbindungen, die die Szenenkommentare beleuchten, höchst diverser und mannigfaltiger Natur, werden doch Bezüge sowohl zur ‚hohen‘ wie auch ‚trivialen‘ Literatur deutlich gemacht. So wird, wenig überraschend, etwa auf Heinrich Wittenwilers Ring Bezug genommen, aber auch auf die Nibelungensprossdichtung des Rosengarten zu Worms. Dass dieser Konnex zur heroischen Dichtung zunächst irritiert, liegt auf der Hand, andererseits hat bereits in den Fünfzigerjahren Henrik Becker – in der alten Bundesrepublik wohl eher marginal rezipiert – die verschiedenen Versionen des Rosengarten unter dem Verweis der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der RG-Versionen als Spottlied, Märchen und Heldenlied ediert. Gerade das parodistische weltliche Spiel des Mittelalters greift immer wieder, wenngleich in persiflierender Manier, Versatzstücke der Heldendichtung auf. Dieser Prozess der Subversion durch Affirmation kennzeichnet die städtische Dichtung des Spätmittelalters in weiten Zügen und lässt sich auch anhand der Neidhartspiele erkennen. Dies und vieles mehr erschließt sich bei der Lektüre der Kommentare und macht den besonderen Wert der Publikation aus.
Das für Leserinnen und Leser Interessante an den Neidhartspielen liegt zunächst schon in der kompakten Vorlage dieser Bühnentexte – das allein ist bereits der Vorzug einer jeglichen Gesamtedition. Doch das ist nur das geringere Verdienst, denn Bekanntes sowie vor allem vermeintlich Bekanntes werden (noch einmal) unter einem neuen Gesichtswinkel vorgestellt und bieten die Gelegenheit, Fundamentales und Hochstrebendes, lineare und Querverbindungen zu betrachten. Der von der Autorin nachgewiesene Bezug etwa auf den Rosengarten zu Worms ist nicht nur dahingehend bemerkenswert, als hier – wenngleich mit parodistischer Überprägung – heldenepische Aspekte anklingen, sondern auch, weil der Rosengarten als Sprossdichtung zum Nibelungenlied später als dieses entstand und mit seiner Entstehung und Verbreitung sicherlich der Versuch der Anbindung an ‚erhabene Traditionen‘ verbunden gewesen sein dürfte.
Die von Gallina gezogenen und verfolgten vertikalen wie horizontalen Linien ermöglichen es, diese Theatertexte in einen sowohl synchronen wie diachronen literarischen Kontext zu stellen und überdies psychologische wie auch soziologische Parameter anzulegen. Überdies, für literaturwissenschaftliche Arbeiten ziemlich ungewöhnlich, nimmt der linguistische respektive dialektgeschichtliche Aspekt sehr breiten Raum ein, sodass auch in dieser Hinsicht ausgesprochen komplex agiert wurde.
Obgleich also die kompakte Zusammenstellung der Neidhardspiele hier den Ausgangspunkt darstellt, ist das Buch als Ganzes demnach alles andere als kompakt. Geliefert wird ein breites Netz mit sorgsam ausgewählten Bezugspunkten, die es ermöglichen, sich nicht nur hinsichtlich der Neidhartspiele auf wohlbereitetem Terrain zu bewegen, sondern eigenständigen Wegen zu folgen, die über diesen engeren Bezug hinausweisen – eine interessante Straße in die rezipierend-produktive Welt des auch durch gesellschaftliche Dynamiken geprägten Spätmittelalters und seiner Literatur.
Dennoch, auch diese Rose hat ihre Dornen: Bereits die Einleitung hätte etwas umfangreicher ausfallen können. Auch wenn es keineswegs darum zu tun ist, Leserinnen und Leser im Sinne einer gegenwartsaktuellen Anwendungspädagogik ‚abzuholen‘, ein wenig mehr Einstiegsbasis hätte hier nicht schlecht angestanden. Vergleichbares gilt hinsichtlich der abschließenden „Zusammenfassung der Ergebnisse“. Dass diese aufs Minimalste beschränkt bleibt und gerade die interessanten Querverbindungen und (womöglich im Einzelfall wechselseitigen) Beeinflussungen allenfalls implizit aufscheinen, nimmt den Neidhartspielen ein wenig die Dynamik. Und dem – insbesondere für die Fundamentierung eigenständigen Arbeitens – wirklich positiven Aspekt einer umfangreichen Bibliografie steht der Malus gegenüber, dass ein Stichwortverzeichnis beziehungsweise Register bedauerlicherweise fehlt. Nun ließe sich in diesem Zusammenhang zwar damit argumentieren, dass die Neidhartspiele tatsächlich an Zahl wie an Umfang überschaubar sind; gerade aber die in den Kommentaren aufgewiesenen Quellen- und Querbezüge ließen sich mit einem entsprechenden Hin- beziehungsweise Nachweis leichter erschließen.
Dies sind kleinere Defizite, bei denen jedoch der positive Aspekt überwiegt. Für den Erwerb spricht denn auch der überschaubare Preis, der sein Zustandekommen wohl unter anderem einer Kultur- und Förderungspolitik Bayerns verdankt, auf die aus anderen Regionen der Republik vermutlich mit einem nicht ganz neidlosen Bedauern ob der dortigen Verhältnisse geschaut werden mag. Das freilich ist lediglich der Rahmen, in den diese lesenswerte Publikation eingebettet ist. Allerdings ist dieses ‚lesenswert‘ insofern auch unter einem gewissen Vorbehalt zu verstehen, als diese Lektüre wirklich mit Anstrengung verbunden ist. Insbesondere ist sie für diejenigen ein Obligo, die sich mit dem Œvre dieses Pseudo-Neidhart und seiner Zeit befassen – alle anderen werden vermutlich nach einem zweiten Blick auf die Neidhartspiele nicht umhinkönnen, dies ebenfalls einmal zu tun.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
|
||