Ein surreales Tigeruniversum
Joshua Groß und Sebastian Tröger entwerfen mit „Kiwano Tiger“ ein kryptisches Märchen
Von Marisa Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Raja, eine mittelalte Tigerin, reist auf einem morphenden Spaceshuttle, das ebenso ein Planet ist, von Verwerfungszone zu Verwerfungszone, wo sie mit ihrer Gitarre auftritt.“ So beginnt das kurzweilige, 88-seitige, als „Science-Fiction-Märchen über Weltraumtiger, Verwerfungszonen und das Duende“ betitelte Buch von Joshua Groß. Die Frage, wie es Tigern möglich sein mag, mit ihren Krallen eine Gitarre zu bedienen, wird nicht aufgeklärt. Ebenso bleibt die ekstatische Wirkung der Musik auf andere Tiger fantastisch-mysteriös: „Die Eleganz, mit der Rajas Tigerkrallen die Gitarrensaiten anzupfen, verursacht Hirnschmelze.“
Das Spaceshuttle erscheint als lebender Organismus unweit der Andromedagalaxie. Die stets verfügbare Nahrung der Tiger kommt aus 3D-Druckern. Abgekoppelte Verwerfungszonen sind schwebende Glaskästen, in denen von innen etwas kondensiert, zu denen die Tiger allerdings keinen Zugang haben. Alle Tiger haben eine Vorliebe für die titelgebenden Kiwanofrucht: „Kiwanos sind sehr wichtig für die Tiger auf dem morphenden Spraceshuttle. Die speziell behandelten Früchte beinhalten ein Spacehormon, das Tiger brauchen, um wach zu bleiben. Das Spacehormon der Kiwanos hilft den Tigern dabei, flink und melancholisch zu bleiben.“
Bereits die Illustration auf dem Hardcover erinnert an die Musterung eines weißen Tigers. Laut der editorischen Notiz von Kiwano Tiger entstand die Buchidee aus dem „markante[n] Tiger-Motiv des Künstlers.“ So greifen die insgesamt 35 Bilder von Sebastian Tröger Szenen aus der Geschichte auf. Der Text alterniert stetig mit den Tusche-Malereien, die im Vollformat dargestellt werden. Diese sind sowohl vor- als auch nachgelagert, das heißt, dass Bilder kommende Ereignisse antizipieren oder einen Textabschnitt nachträglich illustrieren. Die Malereien zeigen einzelne Objekte wie zum Beispiel einen Brombeereistee, Rajas Cadillac, Tiger oder Pflanzen. Schneeflächen, (Gebirgs-)Landschaften oder Wassertropfen werden in Form grober Tuschestriche und Tupfen angedeutet. Die Illustrationen sind überwiegend abstrakt.
Während des Konzerts entsteht das Duende. Das Duende wirkt als externe Energie. Das Duende ist die Distanz zwischen den Tigern. Das Duende verhindert, dass die Tiger ineinander übergehen.
Auf schwer nachvollziehbare Sätze folgen häufig Trivialitäten: „Die Tiger im Publikum trinken viele Softgetränke.“ Als weitere Inspirationsquelle für Kiwano Tiger dient Richard Brautigans In Wassermelonen Zucker, aus welchem Groß im Vorwort zitiert. Die 1968 erschienene Dystopie handelt ebenfalls von einem fantastischen Kosmos, in dem einst Tiger lebten.
Ein Spannungsbogen existiert in Kiwano Tiger nicht. Raja reist mit ihrem Bodyguard Gongor in einem fliegenden Cadillac umher und gibt Konzerte. Dass eine Gruppe junger Tiger bei einem Curling-Turnier Gongor anschießen, hätte womöglich einen dramatischen Höhepunkt des Textinhalts kennzeichnen können. Der Vorfall wird allerdings durch den Autor in unaufgeregter Sprache abgehandelt. Vielmehr beschreibt das Buch das Leben der Tiger – mit all den Ungereimtheiten als auch den Nichtigkeiten. Es findet keinerlei Entwicklung der Figuren statt, im Tigeruniversum gibt es keinen Fortschritt oder Glauben an eine höhere Kraft. Tigerkinder werden nach der Geburt weggegeben. Das Leben erscheint belanglos. Eine anonyme Atmosphäre wird erzeugt, wenn schwebende Tablette den Tigern Getränke oder frittiertes Kunstfleisch servieren, Rajas Cadillac autonom fliegt oder Roboterarme und Nanobots selbstständig Verletzungen operieren sowie Narkosemittel verabreichen.
Interessant ist das Vokabular: Der Autor nutzt Fachbegriffe der Bild- und Tonbearbeitung („Morphing“) sowie philsophische Terminologie, wordurch das Textverstehen erschwert wird. Die LeserInnen sind mit einem Überfluss an (Farb-)Adjektiven konfrontiert: „Der Sand ist bronzefarben und kupfern und neongelb. Die Disteln […] sind schwachgrün, mattgrün, kontingenzgrün, und die Blüten sind lila.“ Solche neologistischen Komposita verwendet Groß häufig: „Scheinwerfer in diversen Grellfarben, melonenfleischrot, melonenschalengrün, gurkengrün, lasieren laserhaft die Eisflächen.“ Je nach Verwerfungszone, in der sich Raja aufhält, steht manchmal eine bestimmte Farbe im Fokus – ein deutlicher Kontrast zu den Illustrationen, die sich alle lediglich aus Blau- und Lilatönen zusammensetzen und somit eine Zusammengehörigkeit vermitteln, aber nach einigen Seiten monoton auf die Betrachtenden wirken.
„Gongor ist ein professioneller Bodyguard. Er macht seinen Job. Er verhält sich professionell, was bedeutet, er verhält sich beschützend.“ Die Redundanzen, welche aneinandergereiht in kurzen Hauptsätzen wiederholt denselben Inhalt wiedergeben, wirken anstrengend: „Ein pulsierendes, zuckendes, tiefgelbes Licht tunkt über der Stadt. Es tunkt tiefgelb. Es glost tiefgelb.“
Mehrmals wird geschrieben, dass Raja einen pinken Kunstfellmantel und eine Sonnenbrille als ihre sogenannten „Signature-Objekte“ trägt. In einem Absatz verwendet der Autor das Lexem „unwirsch“ drei Mal für die Beschreibung der Existenz. Neben sich widersprechenden Formulierungen, die keinerlei Sinn in der außerliterarischen Welt ergeben wie „Der Nebel wirkt abrupt“ oder „nichtabrupt“, reizt Groß eine parataktische Satzstruktur sehr aus.
Was existiert, ist das Hotelzimmer. Was existiert, ist Gongor, der im Türrahmen steht und wartet. Was existiert, ist ein Freischwebender Bildschirm. Was existiert, sind mehrere runde Säulen in der Suite. Was existiert, sind schwere, samtene Vorhänge. Was existiert, sind tiefe Teppiche. Was existiert, ist falscher Marmor. Was existiert, sind Kronleuchter. Was existiert, ist eine Minibar. Sonst existiert nichts. Okay. Rajas Gitarre existiert in ihrem Koffer, aber sonst existiert nichts.
Das Thema der Existenz durchzieht die Geschichte. Persönlichkeitskrisen prägen das Leben der Tiger. Auch Gongor wird von einer „potenzielle[n] Sinnlosigkeit seines Daseins“ begleitet. Er „spürte, dass er permanent gefordert sein musste, um nicht abzugleiten in Persönlichkeitskrisen.“ Im Leben der Tiger erscheint nahezu alles determiniert. Die Textpassagen enden oft in einem negativen Ton; resignierend und depressiv: „Er konnte es nicht ändern, er war ein Tiger aus der Persönlichkeitskrisengeneration.“
Der Versuch, einen tieferen Sinn der Geschichte zu erfassen, erscheint zwecklos: „Kein Horizont ist zu sehen. Oder am Horizont ist nur der Horizont zu sehen. Der Horizont offenbart nichts.“ Es lassen sich nur schwer Muster erfassen. Vielmehr ist das Buch mit den enthaltenen Illustrationen als Gesamtkunstwerk zu verstehen. Die Sprache ist dabei oft so abstrakt wie die Bilder selbst. Widersprüche in ein und demselben Satz, Neologismen und Synästhesie generieren die einzigartig-surreale Atmosphäre der Geschichte.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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