Tod der Tochter
Daniela Kriens Roman „Mein drittes Leben“ – nominiert für den Deutschen Buchpreis
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.“ Das schwarze Loch, in das die Protagonistin Linda in Daniela Kriens neuem Roman gefallen ist, weitet sich aus zu einer tiefen Lebenskrise. Sie war als Kuratorin beruflich erfolgreich und führte mit dem bildenden Künstler Richard eine glückliche Beziehung. Und dann war nichts mehr so, wie es vorher war.
Die siebzehnjährige Tochter Sonja stirbt bei einem Verkehrsunfall, wird auf dem Weg zu einem Arzttermin auf ihrem Rennrad von einem Lastwagen überrollt. Zwei Jahre liegt das tragische Unglück zurück, ohne dass Linda einen Weg gefunden hat, ihren Schmerz wirksam zu bekämpfen. Zum Leidwesen ihres Mannes bricht Linda aus dem bisherigen, so geordneten Leben in Leipzig aus und zieht sich auf einen einsamen Bauernhof zurück. Linda kann weder Kunst noch fröhliche Menschen ertragen.
Die 49-jährige, in einem mecklenburgischen Dorf geborene, Autorin Daniela Krien hatte zunächst eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin absolviert und später in Leipzig Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften studiert. Den großen literarischen Durchbruch hatte sie mit Die Liebe im Ernstfall (2019) geschafft. Schon in ihren Vorgängerwerken hat Krien ihren Figuren einiges an Leid aufgebürdet.
In der Abgeschiedenheit des Bauernhofes findet sie einen Ort, an dem es keine emotionalen Berührungspunkte mit der verstorbenen Tochter gibt. Über die Zeit des Alleinseins auf dem Hof heißt es: „In den ersten Sekunden nach dem Erwachen ist es dann, als müsste ich alles neu lernen: wer ich war, wer ich bin, wieso ich mich hier befinde, was ich verloren habe. Die Antworten auf diese Fragen sind wie Faustschläge in die Magengrube.“
Daniela Krien erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Linda; sie ist die Ich-Erzählerin, die lieber sterben als leben möchte und die neben ihren psychischen auch mit handfesten physischen Problemen zu kämpfen hat. Sie erkrankt an Schilddrüsenkrebs und übersteht die Operation relativ gut.
Da der Mietvertrag für ihren kleinen Hof nicht verlängert wird, muss Linda notgedrungen zurück nach Leipzig. Derweil hat sich Ehemann Richard auf eine Beziehung mit der Schriftstellerin Brida eingelassen und erkrankt auch an Krebs.
In Daniela Kriens Roman wird unendlich viel gelitten – sowohl körperlich als auch seelisch. Linda wurde durch den Tod der Tochter in eine Art Langzeit-Schockstarre versetzt, ein Zustand von Lähmung und völliger Selbstaufgabe. Ihr Alltag und ihr Denken wird von der Unfähigkeit, ein neues Leben zu beginnen, dominiert.
Krankheit und Tod sind auf der vollen Lesedistanz (zumindest latent) Dauerbegleiter. Eine todkranke Nachbarin hat nur noch wenige Monate zu leben, und Lindas beste Freundin will zusammen mit ihrer schwerbehinderten Tochter aus dem Leben scheiden.
Ganz bewusst hält Daniela Krien das Ende der Handlung offen, und man wünscht sich händeringend eine „kleine Prise“ Glück für die leidgeplagten Figuren.
Daniela Krien (und das ist wohl eine singuläre Fähigkeit) versteht es, eine außerordentlich authentische Atmosphäre des Leidens zu evozieren – ganz ohne Pathos und großes verbales Getrommel. Hier wird nicht um Mitleid gebuhlt, und es finden sich auch keinerlei Anzeichen von Voyeurismus. Eine bedrückende, unter die Haut gehende Lektüre.
Wie schrieb einst Arthur Schopenhauer: „Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle.“ Nachzulesen im neuen, vorzüglichen Roman aus der Feder von Daniela Krien.