Geheimnisse einer Beziehung

Eine Frau tötet ihren Mann – doch warum? „Arctic Mirage“ der Finnin Terhi Kokkonen ist ein Roman über Macht und Manipulation

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand muss Angst haben, gespoilert zu werden, wenn man verrät, dass dieser Roman blutig enden wird. Schließlich steht sein Ausgang gleich auf der ersten Seite: Eine Frau hat gerade ihren Mann ermordet, das Opfer liegt mit leerem Blick im Schnee, am Himmel leuchten girlandenartige Nordlichter. Aber wie kam es zu der Tat? Es gibt bekanntlich zwei Arten von Spannung in der Literatur. Bei der einen will man wissen, was passiert, bei der anderen, wie und warum es dazu kam. Der Debütroman der finnischen Autorin und Musikerin Terhi Kokkonen gehört zu jenen Werken, die ihren Reiz vor allem aus der Wie-Spannung beziehen.

Um diese maximal auszureizen, tut die Autorin gut daran, das Setting des Romans zunächst möglichst harmlos erscheinen zu lassen: Ein Paar auf der Rückfahrt aus dem Urlaub hat auf vereister Straße einen Unfall, kommt aber mit einigen kleineren Blessuren davon. In einem nahen Luxushotel, irgendwo in Lappland, finden Karo und Risto eine Unterkunft und beschließen, das Beste aus der Situation zu machen: Warum nicht einfach noch ein paar Tage anhängen und in dieser traumhaften Gegend Ski fahren? Leisten können es sich die beiden Endvierziger; er hat in Helsinki ein Softwareunternehmen gegründet, und sie eine PR-Agentur.

Doch bald schon schleichen sich in das Idyll Irritationen ein: Woher rühren die Spannungen zwischen den beiden? Warum will Risto seine Halskrause nicht abnehmen und hat wie aus dem Nichts einen emotionalen Zusammenbruch? Warum hat Karo, die Hauptfigur des Romans, immer wieder Wutausbrüche und stellt merkwürdige Behauptungen auf?

Zum Beispiel, dass ständig Sachen von ihr verschwinden, vor allem aber, dass bei dem Unfall noch ein fremdes Auto beteiligt gewesen sei:

„Das ist mal wieder typisch für dich. Du hast irgend so eine dumme Wahnvorstellung und kommst davon nicht los, obwohl alle dir was anderes sagen. […] Die Straße war einfach nur glatt. […] Wir haben Pech gehabt. Pech und Zufälle muss man akzeptieren lernen.“

„Warum bist du dir eigentlich so sicher, dass ich mich irre und nicht du? Du könntest genauso gut falschliegen.“

Ristos Blick wandert zur Pillenpackung auf dem Küchenblock. Er lächelt. „Warum bin ich mir da wohl so sicher? Denk mal nach.“

Schnell wird klar: Karo ist offenkundig eine Frau mit psychischen Problemen. Auch der Hotelarzt Martti und die Rezeptionistin Sinikka machen sich so ihre Gedanken über die Touristin mit der gebrochenen Nase, die ihnen mit ihrer Ungeduld schnell auf die Nerven geht. Für den verwitweten Arzt, der liebenswertesten Figur des Romans, geht von Karo dennoch eine seltsame Anziehung aus. 

Aber ist wirklich Kokkonens Protagonistin das Problem oder nicht doch eher ihr Freund, der zwar Selbsthilfebücher über Achtsamkeit liest, aber Karo noch in den unpassendsten Momenten mit seiner Kamera nachstellt? Selbst, als sich Karo im Bad befindet:

Am Rand des Spiegels bewegt sich etwas. Das Rauschen der Spülung versiegt. Risto steht mit der Kamera an der Tür.

„Was machst du da?“, fragt Karo.

„Sorry. Stör ich?“

„Ich dachte, die Tür wäre zu.“

„Nein, sie ist auf.“ Karo ist sicher, die Tür abgeschlossen zu haben. Sie hat den Schlüssel umgedreht und sich dann aufs Klo gesetzt. Risto hat im Küchenbereich herumgeklappert, als würde er was suchen, und jetzt ist die Tür plötzlich auf.

Es dauert, bis man merkt, was sich hier, in der klaustrophobischen Atmosphäre des Gästehauses, in der winterlichen Einsamkeit Lapplands, tatsächlich abspielt: ein Fall von Gaslighting nämlich. So nennt man es, wenn ein Mensch von einer nahestehenden Person auf eine Weise getäuscht wird, dass dieser an seiner Wahrnehmung und schließlich auch an seinem Verstand zu zweifeln beginnt. Geschickte Gaslighter verstehen es sogar, Menschen in ihrem Umfeld auf ihre Seite zu ziehen. In diesem Fall den Paartherapeuten, der der Protagonistin einredet, selbst schuld zu sein, dass Risto sie im Bett plötzlich misshandelt: Männer fühlten sich von beruflich erfolgreichen Frauen einfach allzu schnell „psychisch kastriert“ …

Dennoch ist Terhi Kokkonens Arctic Mirage mehr als ein packender Roman über eine Beziehungshölle. Dazu weisen die Nebenschauplätze des von Elina Kritzokat in ein geschmeidiges Deutsch übersetzten Romans zu sehr in eine Richtung, vom depressiven Arzt, der seiner herrischen Chefin allwöchentlich sexuell zu Diensten sein soll, bis zur Rezeptionistin, die sich in ihrer „original“ samischen Tracht vor den Gästen lächerlich zu machen hat. Mehr als ein Werk über Gaslighting ist Arctic Mirage daher eines über die Allgegenwart von Macht und Manipulation.

Titelbild

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Roman.
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat.
Hanser Berlin, Berlin 2024.
188 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279599

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