Ironie des Abgrunds in 14 Paragraphen
Kurt Drawert ergründet in seinem Langgedicht „Alles neigt sich zum Unverständlichen hin“ die Zumutungen der Gegenwart
Von Diana Hitzke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKurt Drawerts Langgedicht Alles neigt sich zum Unverständlichen hin setzt die Suchbewegung fort, die das lyrische Ich bereits in Der Körper meiner Zeit aufgenommen hat. Während in dem 2016 erschienenen, auch schon als Langgedicht angelegten Buch noch eine große Liebe betrauert wird, sind in dem neuen Band nur noch Versatzstücke dieses Abschieds zu finden. Der Name Klara, der für zwei Teile des letzten Gedichts noch titelgebend war, wird im Verlauf des Buches sogar durchgestrichen. Und zuerst geht es auch gar nicht um Klara, sondern um Isabella.
Gleich im ersten Vers ist alles schon entzwei. Es folgt eine melancholische Anrufung: „Wenn du nur neben mir / besser einschlafen könntest. Mein Unglück wäre dann / die Hälfte des Weges (zu dir).“ Das „du“ wird sogleich mit einer Fußnote versehen, die eine fast schon schwindelig machende Zeitlichkeit an den Anfang setzt: „Historisches Personalpronomen. Heute würde ich ‚Sie‘ zu ihr sagen.“ An diesen wenigen Worten zeigt sich bereits die Vielschichtigkeit von Drawerts Lyrik. Etwas ist entzwei. Ein Du, das zu Beginn noch anwesend ist, wird durch die Fußnote zum bloßen Personalpronomen, zu einem historischen sogar. Die Fußnote verweist allerdings nicht nur auf die Grammatik einer Sprache der Liebe, sondern lässt auch an die Geschichte der Anrede- und Anrufungskonventionen denken, die sich über die Jahrhunderte in Gedichten und Liebesbriefen entfaltet haben.
So beginnt das Gedicht mit einer Liebesgeschichte in drei Zeilen, deren Ende vorweggenommen wird. Die Sehnsucht nach mehr Nähe leuchtet kurz auf, sie deutet aber schon darauf hin, dass etwas auseinandergeht. Die größtmögliche Distanz wird durch den Wechsel vom Du zum Sie heraufbeschworen. Der Abstand ist jedoch nicht nur zwischen den Liebenden entstanden, es existieren nun auch zwei Bilder der geliebten Person: Ein Du, welches noch als „neben mir“ imaginiert wird, als Präsenz in der Erinnerung. Und eines, welches durch die Fußnote in größtmögliche Distanz gerückt wird. Die im ersten Satz gesetzte Gegenwart („Was ich besitze, geht entzwei.“) wird sogleich durch die beiden Konditionalsätze überschrieben, mit „vorwärts“ und „Fortschrittlich“ geht es weiter in Richtung Zukunft.
Nach den ersten zweieinhalb Zeilen stehen andere Themen im Vordergrund: der Tod, der Mangel, Irrsinn, Aporien. Ein Name taucht auf, als Signifikant und als Referenz, dann Lacans Graph des Begehrens. Daneben die großen Zumutungen der Gegenwart: die Globalisierung, die politischen Krisen und die dadurch verursachte Migration, das Internet. Nun ließe sich schon leise fragen, wie viele Themen eigentlich in einen Gedichtband passen und auch, ob und wie sie überhaupt zusammenpassen. Sollte nicht gerade die Dichtung ein Ort sein, von dem die Banalitäten des Alltags, das endlose Geschwätz der Nachbarn und der Nachrichtensprecher, die Last der täglichen Verrichtungen, die Einkäufe im Supermarkt, die (Lokal-)Politik, das Fernsehprogramm und die vielen Werbe-E-Mails ferngehalten werden? Was geschieht mit dem poetischen Augenblick, der in den ersten beiden Verszeilen noch aufscheint, wenn er nicht festgehalten, sondern überschrieben wird?
Hier schiebt sich schon die Schreibszene in die Leseszene, denn natürlich ist die Frage danach, wie ein Gedicht zu schreiben sei, in umgekehrter Richtung auch die Frage danach, wie in einer Zeit der ständigen Unterbrechungen – nicht nur durch die Pushnachrichten – Gedichte eigentlich gelesen werden. Diese Frage stellt sich bei Drawert nicht nur, weil das lyrische Ich ständig danach fragt, was Sprache überhaupt bewirken kann. Sie wird augenscheinlich unter anderem durch die auffälligen Zeilenumbrüche, die häufig Sinnunterbrechungen sind und Worte immer wieder einfach mittendrin auftrennen. Die Inkohärenz der Semantik wird formal durch die Binnenreime und den daktylischen Grundrhythmus zusammengehalten, das Nebeneinander von Rede und Ironie der Rede finden so zueinander.
Auf dieser Ebene, zwischen dem schreibenden Ich und dem lesenden Gegenüber, entwickelt sich der starke Gegenwartsbezug des Langgedichts. Das lyrische Ich bleibt nicht hermetisch bei sich selbst, sondern lässt sich ständig von der Umwelt unterbrechen. Ein Kroko-/Horror über eine Mutantenechse steht dann unmittelbar neben der intertextuellen Referenz auf die Briefe der Marianna Alcoforado, die „mit keinem Geld der Welt zu bezahlen“ sind. So wie die auf das lyrische Ich einprasselnde Gegenwart den lyrischen Raum verdrängt, weisen die literarischen und theoretischen Referenzen kontrapunktisch aus dem Gedicht heraus. Die präsente Abwesenheit von etwas, von dem nicht einmal klar wird, ob es sich noch auf eine konkrete Person bezieht oder schon auf das Gefühl an sich, die mit verschiedenen Bildern beschriebene Einsamkeit und damit verbundene Kraftlosigkeit, die Frage nach der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks und die im Titel zitierte Unverständlichkeit werden so zu Fenstern in eine Welt, in der sich etwas bereits Verlorenes vielleicht doch noch wiederfinden lässt. Mit Marianna Alcoforado zum Beispiel die Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne aus dem 17. Jahrhundert.
Eine ähnliche Bewegung, die in den Text hinein und gleichzeitig immer wieder aus ihm herausführt, erzeugen die Verweise auf Jacques Lacans psychoanalytisches Begriffsuniversum. Mit Lacan findet das lyrische Ich immer wieder Worte, die versuchen, das Begehren und die Liebe zu erklären. Dies kann naturgemäß nicht gelingen, weil die Liebe mit Lacan (und auch schon bei Platon) auf einem Mangel gründet. So heißt es in Lacans VIII. Seminar über die Übertragung: „Liebe ist geben, was man nicht hat“.
Von den vielen literarischen Referenzen, die sich im Gedicht in Konkurrenz zu Verweisen auf Popkultur, Musik, Konsumprodukten usw. befinden, sei hier noch eine besonders hervorgehoben. Der Ausruf „Weiß das einer aus der Engel Ordnungen?“, mit dem Rilke hier herbeizitiert wird, ist fast schon wieder Selbstzitat, denn auch im Langgedicht Der Körper meiner Zeit klingen die Duineser Elegien an. Dort hieß es noch: „Wer, wenn ich weiterhin schriebe, bezahlte mich denn aus der // An-/gestellten Ordnungen?“ Der feine Humor, mit dem dort die ökonomische Seite des Schreibens angesprochen wird, klingt hier auch an anderer Stelle an, etwa wenn der Hinweis auf das letzte Gedicht mit ISBN-Nummer ausgestattet wird.
Drawerts Lyrik nimmt durch die Intertextualität den Dialog mit den Lesenden auf. Der offene Raum des Internets, der sich für das schreibende Subjekt als ständige Störung erweist, lässt sich auf der Seite der Lesenden (neben der Bibliothek) produktiv zum Nachspüren der Referenzen nutzen. Das sich ständig selbst unterbrechende lyrische Ich gibt dafür viel Raum. Drawerts Gedicht erschließt sich aber nicht nur im interpretierenden Lesen. Es sollte unbedingt auch zum Mündlichen gewechselt werden – beim lauten Lesen entfaltet sich allerspätestens nicht nur der bestechende Humor, sondern auch die sich stärker an der Oberfläche der Worte befindliche, durchaus hörbare Textschicht, die das Unverständliche verständlich macht.
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