Lesend schreiten wir voran!
Douna Loup sucht in „Verwildern“ einen verschollenen Bruder und findet Politik jenseits der Männerphantasien.
Von Timo Krstin
Was ist „Verwildern“?, das neue Buch von Douna Loup? Es ist ein Märchen, so viel steht fest. Das Märchen vom Erwachsenwerden eines jungen Mädchens in einer Welt, die zwar mit keiner Magie aufwarten kann, keine (echten) Hexen, keine Zauberer, die aber dennoch etwas Zauberhaftes hat. Denn nichts ist real in dieser Welt, weder die Figurennamen, noch die Orte und Zeiten, in und von denen erzählt wird.
Es ist eine im besten Sinne entrückte Welt, in der die Protagonistin mehr einlädt, ihr zu folgen, als zu erzählen, wie sie sich mit ihrer Mutter auf die Suche nach dem verschollenen Bruder macht. Womit der Plot, wenn man von einem solchen sprechen kann, weitgehend umrissen ist. Mutter und Tochter begeben sich wie aus dem Nichts auf die Suche nach einer Bruderfigur und – auch das wird schnell klar – suchen und finden auf dem Weg sich selbst: als Mutter, als Tochter, vor allem aber als zwei Frauen verschiedener Generationen.
Am dreizehnten Geburtstag der namenlosen Protagonistin machen sie sich auf den Weg. Und wie es das Märchen fordert, führt sie die erste Station in den Wald. Während erzählerisch in der Natur geschwelgt wird – auf lange, fast elegische Landschaftsbeschreibungen, folgen pflanzenkundliche Passagen, Aufzählungen von Tiernamen, Arten, Gattungen –, findet sich die Leser*in unvermittelt im Bildungsroman wieder.
Denn auch das ist „Verwildern“: eine Coming-of-Age-Geschichte; allerdings, und hier wird es auch für den weiteren Verlauf des Romans interessant, ohne jeden zwischenmenschlichen Konflikt. Wir bleiben im Wald. Es gibt keine Schule, keine falschen oder echten Freund*innen, kein Mobbing, nichts von alldem, was man erwarten würde, nur das Mädchen, das sich mit Hilfe seiner Mutter und der Einsiedlerin Lola selbst entdeckt: den Körper und seine in der Pubertät sich wandelnden Funktionen, neue Bedürfnisse, neues Begehren.
„Verwildern“ erweist sich hier diskursiv auf der Höhe der Zeit, ist queer-feministisch, intersektional, auf jeden Fall antipatriarchal. Und trotzdem bleibt die Geschichte in ihrem märchenhaften Kosmos, lässt – mit Ausnahme der politischen Vokabeln – keine dem Buch äußerliche Realität an sich heran.
Diese selbstgewählt Isolation steigert sich sogar noch, wenn der Roman den nächsten Schritt des Comin-of-Age nimmt, die Protagonistin von ihrer Mutter trennt und sie die erste Liebe finden lässt. Auf der fiktiven Insel Locla-yom verabschiedet sich die Mutter. Sie muss – ohne, dass die Gründe genannt würden – ihrer eigenen Wege gehen. Das Mädchen bleibt allein zurück und trifft auf die nonbinäre Person Barnabea.
Eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern entspinnt sich; interessanterweise nicht zwischen zwei Teenanger*innen. Barnabea wird abwechselnd mit weiblichen oder männlichen Pronomen angesprochen, nie werden neutrale Pronomen wie „they“ oder andere Genderzeichen, etwa das Sternchen, verwendet. Warum das so ist, ob politische Entscheidung der Autorin oder eventuell ein Übersetzungsproblem aus dem Französischen, bleibt unklar. Jedoch unterstreichen die fehlenden Sternchen und Doppelpunkte, die man in einem dermaßen auf Gendergerechtigkeit pochenden Text eigentlich erwarten würde, das Gefühl, es beim Lesen mit einer gänzlich unpolitischen Welt zu tun haben. Alles ist Harmonie. Konsequenterweise überwiegen Metaphern und Bilder natürlicher Wildheit. Körper und Natur werden beinahe eins:
„Ich entdeckte den Ozean“, heißt es.
Ich schwamm in ihm, ich tauchte in ihm, war umgeben von Salz und schob seine Wellen zur Seite, tanzte in seinem Rhythmus und öffnete meinen Körper, um groß zu werden, riesig, gewaltig wie er, der Ozean, erst im Wasser erschloss er sich mir.
Hier könnte der Roman, hat man das Gefühl, dann auch enden. Die fehlende Politik, die Abwesenheit von Konflikten, lösen sich auf in ein allgemeines Fließen. Es wird viel mit und im Wasser gespielt, während die Erzählung selbst ihren Sog als eine Art ungerichteter Fluss entfaltet: Dinge passieren, oder auch nicht, eine Fabel, die auf Aussage abzielen könnte, wie sie im Klappentext unter anderem angekündigt wird, stellt sich nicht ein. Einzig das fließende Element scheint Bedeutung zu haben, ungerichtet und ziellos:
Das lebendige Wasser auf Locla-yom, massenhaft und immer in Bewegung, war meine erste Lehrerin.
Und dennoch: Vielleicht ist es gerade dieses Fließen, diese scheinbar unpolitische Weigerung, mit Worten auf etwas zu zielen, die dem Text seine eigene Politik verleiht. Das einfach Konfrontative wäre ein Wettkampf: Mann gegen Mann – eine Männerfantasie im besten Sinne. Wer diesen Mechanismus durchbrechen will – das hat Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ ausführlich dargelegt –, muss auch strukturell dagegen halten. Douna Loup nimmt die Herausforderung an und liefert mit „Verwildern“ eine echte Anti-Männerphantasie, kein Kampf (weder ums Rechthaben noch um Anerkennung), sondern ein im Fluss allmähliches Verwildern.
Wer dieses Vorgehen als unpolitisch kritisieren würde, entlarvte wohl eher sich selbst als in konfrontativen Männerphantasien verhafteten Mann. Gleichzeitig ist das beim Lesen aufkommenden Bedürfnis zur Kritik der beste Beweis, dass „Verwildern“ eben doch nicht in jenem unpolitischen Raum stattfindet, den die Autorin scheinbar beschwört, sondern Teil einer sehr konfrontativen Gegenwart ist und in dieser Gegenwart Stellung bezieht – Stellung gegen das einfache Wir-gegen-Die, Mann-gegen-Mann. Douna Loup entwirft in „Verwildern“ ihre eigene, nicht-männliche Form literarischer Kritik an den politischen Verhältnissen. Das Eigene (die fließenden Geschlechterkategorien) wird hervorgehoben, ohne dass Andere niederzumachen.
Voraussetzung, dass sich eine solche Konfrontation auf der Metaebene einstellt, ist, dass das Buch gelesen wird. Und hier zeigt sich, wie bewusst die Autorin mit ihrer Art der Politik umgeht. Nach der Insel Locla-yom verschlägt es die Protagonistin zuerst in eine Stadt. Von dort aus gelangt sie in eine anarchistische Kommune, in der sie schließlich die Mutter wieder trifft und ihren Bruder findet.
Der Bruder ist im besten proletarischen Sinne ein belesener Mensch. Er bringt stapelweise Bücher mit in die Kommune, die gemeinsam studiert werden. Es handelt sich um traditionelle sozialistische und anarchistische Theorie von Stirner bis Proudhon. Die kleine Kommune im Wald wird mit Hilfe der Theorie zur politischen Gemeinschaft und gleichzeitig befreit sich die Erzählstimme aus den Naturbeschreibungen, die immer wieder drohen, ins Esoterische zu kippen, und kommt doch noch im Politischen an. Verwildern heißt, in die Naturgehen, das wilde Selbst kennenlernen – aber es heißt auch: lesen.
Meisterhaft, wie Loup es schafft, die Leser*in beim Lesen den exakt gleichen Weg gehen zu lassen, den die Protagonistin nehmen muss: aus der naiven Märchenwelt über die Coming-of-Age-Erzählung ins politische Manifest. Nur leider versagt ausgerechnet hier ihr politischer Stil, der im Feiern des Eigenen, in der Antikonfrontation besteht. Was im Zusammenhang mit progressiven Geschlechterkonzepten funktioniert, vielleicht, weil sich die Politik in der Liebe so gut als zwischenmenschliche Beziehung erzählen lässt, gerät in der Auseinandersetzung mit Theorie zur reinen Oberfläche. Der ernüchternde Grund ist wohl, dass die politische Theorie eben keine Wahrheiten anzubieten hat (Wahrheiten etwa über den eigenen Körper), sondern den Streit – die Männerphantasie? – braucht, um sich zu entwickeln.
Wenn an einer Stelle etwa aufgezählt wird: „[…] dass Anarchist zu sein auch bedeutet, dekolonial, feministisch, inklusiv, anti-rassistisch und ökologisch zu denken […].“ dann spürt man förmlich, wie die Autorin um Zustimmung durch die Leser*in bangt. Denn nur Zustimmung hält den Fluss am Laufen. Leider reicht heute schon ein Blick ins politische Feuilleton, um zu wissen, dass diese Begriffe auch aus einer progressiv linken Perspektive kritisiert werden können, bzw. dass immer etwas fehlen wird: Dekolonial aber nicht gegen Antisemitismus? Wirklich nur Anarchisten und keine Anarchist*innen? Feministisch oder queer-feministisch? Und so könnte endlos weiter kritisiert werden.
Ähnlich verhält es sich mit der im dritten Teil hereinbrechenden Realität: in der Stadt angekommen, muss die Protagonistin arbeiten, ohne es zu wollen. Der entstehenden Konflikt wird einfach übergangen – hinweggeschwemmt, könnte man sagen. Und am Ende heißt es einmal: „Die Regierung ging härter gegen die Streiks vor, gegen die Feuer, die Sabotage.“ Wer hat hier gestreikt? Warum? Wofür? Man erfährt es nicht.
„Verwildern“ führt ganz wunderbar vor Augen, wie eine gewisse Politik – eine Politik mit Körperlichkeit – heute schon ohne das ermüdende Kämpfernarrativ erzählt werden kann: eine nicht männliche Fantasie, eine Anti-Männerfantasie – vielleicht ein Moment echter politischer Anarchie. Dass der Stil vor anderen Politiken versagt, ist da weniger Scheitern als Auftrag an die Leser*in, sich mit der anarchistischen Kommune aus „Verwildern“ auf die Suche nach neuen Wegen zu machen: Lesend schreiten wir voran!
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