Grenzgebiete
Anika Soraya Meißner untersucht „Kulturelle und literarische Transferprozesse am Beispiel der Saarbrücker Prosaepen“
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin kulturelles Angebot trägt immer auch einen Transfer-Aspekt in sich, dessen Anteil vom Grad des Unterschieds der ‚Ausgangsleistung‘ des Angebotenen zum Publikum abhängt; Schlager etwa sind (im Grundsatz zumindest) eingängiger als atonale Musik. Und selbstverständlich fanden und finden solche Vermittlungsvorgänge, ‚Grenzübertritte‘ mithin, auch im Rahmen literarischer Übersetzungen und Übertragungen statt. Anika Soraya Meißner legt in ihrem Buch Von welsch zu dütsch, der Überarbeitung ihrer an der Ruhr-Universität Bochum 2022 angenommenen Dissertation, Untersuchungen zu entsprechenden Transferleistungen anhand von Epenübersetzungen aus dem 15. Jahrhundert vor. Der Umstand, dass diese Übertragungen in Saarbrücken entstanden, bringt die entsprechende Transferleistung nicht nur mit dem sprachlichen, sondern auch dem geographisch-politischen Raum in Verbindung.
Der in drei Schwerpunktkapitel unterteilte Band weist neben dem Fazit und einem umfassenden Literatur- und Quellenverzeichnis nicht nur ein angehängtes „Abkürzungsverzeichnis der Epentitel“, sondern auch – für die eiligen Interessierten gar? – die „inhaltliche Zusammenfassung einzelner Chansons de geste“ auf. Allerdings handelt es sich lediglich um die Paraphrasen dreier französischer Texte, und der Bezug auf die vier thematisierten Prosaepen wird nur bedingt noch einmal verdeutlicht. Womöglich wäre es doch sinnvoller gewesen, diese Grundlagen an den Beginn zu stellen und eben ihre Bezüge zu den „Saarbrücker Versepen“ erkennbar zu machen.
Eines fehlt Von welsch zu dütsch zumindest auf den ersten Blick: Eine eigens ausgewiesene Einleitung. Diese wird jedoch im ersten Hauptteil geliefert, der den griffigen Titel „Am Anfang war Elisabeth“ trägt. Die Überschrift spielt auf das Bibelzitat „Am Anfang war das Wort“ an und ist nicht nur allgemein als Möglichkeit kultureller Verortung im weitesten Sinne geschickt gewählt: Die Anspielung auf den ‚Logos‘ transportiert zugleich die Konnotation von Übersetzung, Übertragung, auch Vermittlung und Interpretation, um die es in vorliegender Publikation geht.
Elisabeth steht tatsächlich lediglich „am Anfang“; es geht der Autorin aber primär nicht darum, in groß angelegten Beweisführungen die Rolle der Saarbrücker Adeligen im Zusammenhang mit der Entstehung dieser Prosaepen zu hinterfragen oder neu zu definieren, sondern um den kulturtechnischen Aspekt eben jener Übertragungsvorgänge, die „von welsch zu dütsch“ führten.
Die Epen und ihre Kontextualisierung werden denn auch bereits knapp vorgestellt, und der Zeitgeist brauste hier in erbarmungsloser Weise über die Tastatur. Erfahren die geneigten Leserinnen und Leser zunächst noch, dass die Epen von unterschiedlichen Abenteuern ihrer Heldinnen und Helden im Felde der Liebe, Freundschaft, Religion, Kampf et cetera handeln, wird das Element, das die handelnden (Haupt-)Personen verbindet, wie folgt dargestellt: „Den gemeinsamen Bezugspunkt aller vier Texte bildet die (meist familiäre) Beziehung der Protagonist:innen zu Karl dem Großen.“
Auch wenn es seit geraumer Zeit in der Mediävistik Ansätze der ‚queer studies‘ gibt, erscheint es reichlich unergiebig, im Personal von inhaltlich an arrivierten Traditionen orientierten Sprossdichtungen nach Transpersonen oder dergleichen Ausschau zu halten. Und, um ans Ende des Buches („Inhaltliche Zusammenfassung einzelner Chansons de geste“) zu blättern: In der Paraphrase von Parise la Duchesse kommen auch „Verräter“ und nicht etwa Verräter:innen vor. Mitunter erhebt sich, neben dem Wahrnehmen eines der Zeitmode angepassten Duktus, der Verdacht, dass derlei plakative sprachliche Achtsamkeit mitunter ein Desiderat tatsächlich angebrachter Sensibilität durch grelles Flutlicht überstrahlt.
Der personale Bezug steht bei den Saarbrücker Prosaepen zwar nicht im Zentrum, wird jedoch auch nicht ausgeblendet. Im weiteren Sinne ausgehend von der Frage nach Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und ihrer Rolle (Urheberin, gar Autorin?) im Zusammenhang mit der Übertragung der Epen von Königin Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel sowie Herpin (und wiederum, „der einzige Text, in dem die Protagonist:innen nicht in direkter Linie mit Karl dem Großen verwandt sind“) werden zunächst einmal Forschungsgeschichte und Forschungsstand dargelegt und teils hinterfragt. Vornehmlich jedoch wird Sprach- und Kulturkompetenzen auf den Grund gegangen, die entsprechenden Adaptions- und Transferleistungen dargestellt und in ihrer Entwicklung diskutiert und somit ein Gewebe erstellt, das Texte und Traditionen zu tragen vermag.
Mit dieser gewissermaßen in Raum und Zeit wirksamen Konzeption „bewegt sich diese Studie der Untersuchung kultureller und literarischer Transferprozesse am Beispiel der Saarbrücker Prosaepen im ständigen Spagat zwischen zwei Kulturen, zwei Jahrhunderten, zwei literarischen Gattungen und nicht zuletzt zwischen Frankreich und Deutschland“, so die Aussage der Autorin. Die detaillierte Untersuchung kulturtransferbezogener Aspekte folgt dann auf insgesamt knapp 300 Seiten und wird durch die Setzung der Schwerpunkte „Kulturtransfer als Erzählweltanalyse“ sowie „Kulturtransfer als Übersetzen“ definiert.
Im Rahmen der „Erzählweltanalyse“ setzt die Autorin drei grundlegende Schwerpunkte: protagonistische, chronologische sowie topographische („Figuren(genealogie)“, „Zeit“, „Räume, Orte, Karten“), denen – als erweiterter Zugangsweg – der Aspekt „wiederkehrende Erzählmuster“ angehängt ist. In diesen Kontexten bewegt sich Meißner sehr geschickt, sie weist einerseits auf rückwirkende Bezüge, andererseits jedoch explizit auf eigenständige und gewissermaßen ‚selbstverständliche‘ in den Saarbrücker Prosaepen hin. Dies wird im „Zwischenfazit“ verdeutlicht, denn
insgesamt ist für die vier Prosaübersetzungen zu beobachten, dass sie die narrative Struktur ihrer Vorlagen stets systematisch übersetzen und für Rezipierende ohne Erzählweltwissen zur Chanson de geste oder zu anderen literarischen Texten verstehbar machen.
Diese Eigenständigkeit macht gewiss einen Teil des Reizes aus, den diese Epen ausstrahlen. Der andere Aspekt der Anziehungskraft mag eher im lokalen beziehungsweise regionalen Bezug gesucht werden, denn es stellt schon eine beachtenswerte literarische (Adaptions-)Leistung dar, karolingerzeitliche Sujets glaubhaft in einer Region zu verorten, die zumindest für die Ausbildung episch-literarischer Stoffe im Frühmittelalter allenfalls eine marginale Rolle gespielt haben dürfte.
Damit wäre der Blick auf den zweiten Untersuchungsschwerpunkt, das Übersetzen gelenkt, das gegebene Vorlagen mit Hilfe sprachrelevanter Techniken nicht nur in ein anderes Idiom, sondern wohl auch zumindest in Teilen andere Vorstellungswelten transferiert. Dass hier zumindest subkutan vergleichbare Erinnerungskulturen und Traditionslinien vorlagen respektive vorliegen, dürfte die entsprechenden Prozess-Schritte und Prozesse erleichtert haben, gleichwohl ist eben insbesondere der Aspekt der unterschiedlichen Sprache eine Komponente gewesen, die zumindest entsprechende ‚mentale Investitionen‘ erforderlich machte.
Zunächst bietet die Autorin einen „Forschungseinstieg“, in dem tradierte Fragestellungen und deren Bearbeitungen in den Fokus gestellt werden. Explizit auf das Feld der ‚translatorischen Kulturleistung‘ verweist der folgende Unterpunkt „Übernehmen – adaptieren – übersetzen“, der einer perspektivischen Erweiterung der entsprechenden Übersetzungstheorieansätze Wolfgang Haubrichs dient, die dann im Unterpunkt „Ersetzen als Übersetzen“ nochmals aufgegriffen respektive fortgeschrieben wird. Dem sich anschließenden quasi ‚technischen‘ Schritt eines „Übersetzen – vom Vers in Prosa“ folgen dann auf gut 50 Seiten die „Übersetzungsprinzipien der einzelnen Texte“. Wenngleich als Fazit zu Huge Scheppel verfasst, lässt sich die Schlussfolgerung, es sei bei der Übertragung der motivspendenden Dichtungen „von welsch zu dütsch“ darum gegangen, „einen für deutsche Rezipierende gut lesbaren Text zu produzieren, der sich als Einzeltext so liest, als sei er direkt in der Zielsprache verfasst worden“, auch auf die restlichen Werke anwenden.
Mit den Unterpunkten „Übersetzen in Saarbrücken“ sowie „Stilistische Eigenheiten in der Varsberg-Korrespondenz und den Prosaepen“ werden – teils unter stilistischer Akzentsetzung – nochmals regionalspezifische Komponenten in den Blick genommen und diskutiert, wobei Meißner die Desiderate hinsichtlich einer absolut eindeutigen Klärung der Umstände der Entstehung der Saarbrücker Prosaepen freimütig einräumt. Dies und die Diversität und Komplexität der translatorischen Kulturleistung sowie eine produktive chronologische Perspektivik werden im abschießenden „Fazit und Ausblick: Mit der Übersetzung in die Zukunft“ noch einmal verdichtet dargestellt.
Heute, so wirkt es gelegentlich, wirkt das Saarland in der bundesdeutschen Wahrnehmung mitunter wie eine ‚Welt am Rande‘. Dass dem in der jüngeren Geschichte keineswegs so war, sondern die Region an der Saar gewichtige politisch-historische Bedeutung hatte, mag vielleicht noch erinnert werden. Dass dies aber auch für das Mittelalter Geltung hatte, scheint hinter dem Horizont verschwunden. Dies wird durch die Arbeit Meißners geändert, die mit literaturwissenschaftlichem Fokus neben der Frage nach entsprechenden kulturellen Fertigkeiten und Leistungen auch gesamteuropäische Traditionslinien sichtbar macht. Austausch, Rezeption – und zwar ohne den moralisierenden Duktus einer inflationär theoretisierten ‚kulturellen Aneignung‘ – und die daraus resultierende Eigenleistung, eben die einer Adaption, sind die weiten (Themen-)Felder dieses Buches.
Im Ganzen zeigt sich ein Bild einer regional verorteten literarischen Leistung, die trotz ihrer im Kontext der Entstehung betrachteten Kleinräumigkeit modellhaften Charakter beanspruchen kann. Dem Erich Schmidt Verlag sei für die Solidität des Endproduktes gedankt, die sich allerdings auch im Preis deutlich niederschlägt und dadurch für einen Erwerb des Produktes kontraproduktiv wirkt. Gleichwohl gilt festzuhalten: Der Inhalt des Buches gewährt – erweitert durch die adäquaten wissenschaftlichen Abschnitte wie etwa die breite Bibliographie und das Register – trotz mitunter zu plakativer sprachlicher Zeitgeistigkeit eine interessante und Interesse weckende Lektüre.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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