Ein sozialistischer Dr. Frankenstein
In „Die große Kette des Seins“ verfolgt André Georgi den Lebensweg des russischen Biologen Ilja Iwanow zwischen Wissenschaftsglauben und Verblendung
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIlja Iwanowitsch Iwanow (1870–1932) machte seinen Plan, ein Mischwesen aus Mensch und Affe zu erzeugen, zum ersten Mal 1910 im Rahmen einer zoologischen Konferenz in der Schweiz öffentlich. Bis dahin hatte sich der promovierte Biologe und weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus bekannte Tierzüchter mit Fragen der künstlichen Befruchtung beschäftigt und konnte auf sehr erfolgreiche Züchtungserfolge hybrider Lebewesen zurückblicken. Warum also sollte es nicht möglich sein, mit der Kreuzung von Mensch und Affe eine Lücke zu schließen, die den erklärten Feinden der Darwinschen Evolutionstheorie sämtliche Argumente aus den Händen schlagen würde?
Mit Die große Kette des Seins hat der in Berlin lebende Autor André Georgi (Jahrgang 1965) nach dem pfälzischen Auswanderer Friedrich Trump (1853–1918) – Großvater des 45. US-Präsidenten – eine weitere, ebenso besessene wie faszinierende historische Figur in den Mittelpunkt eines Romans gestellt. Sein Ilja Iwanow widmet einen Großteil seines Lebens den (immer wieder scheiternden) Versuchen, durch die Züchtung eines Hybridwesens aus Mensch und Affe die in der Darwinschen Theorie offensichtlich klaffende Lücke zwischen Mensch und Tier zu schließen. In der dadurch entstehenden „großen Kette des Seins“ hätte der auch durch die russische Revolution nicht auszurottende Glaube an Gott und den Menschen als göttliche Schöpfung dann keinen Platz mehr, wäre der endgültige „Sieg über sämtliche Kathedralen und Zwiebeltürme“ wohl errungen.
Kein Wunder deshalb, dass Iwanows Pläne bei den Architekten des Sowjetsystems auf fruchtbaren Boden fallen. Zwar mag man den Mann, der sich auch Jahre nach der Oktoberrevolution noch kleidet wie ein Anhänger des Zaren und dessen von ihm getrennt lebende Frau nicht in der jungen Sowjetunion, sondern im imperialistischen Deutschland lebt, in der Moskauer Nomenklatura nicht unbedingt. Aber man sieht die Chance, von Iwanow mit Argumenten ausgestattet zu werden, die dem eigenen materialistischen Weltbild von großem Nutzen sein könnten, durchaus und stellt dem Biologen deshalb anfänglich einen Großteil der von ihm erbetenen Mittel zur Verfügung.
Georgi beginnt seinen vierten Roman mit einem im Jahr 1932 spielenden Prolog, der das Scheitern der Pläne des Wissenschaftlers bereits vorwegnimmt. Mit 62 Jahren – Iwanow „fehlen fünf Zähne, ein sechster wackelt. Die Haare sind grau und struppig, Arthrose im linken Knie“ – befindet er sich seit zwei Jahren im kasachischen Exil, wohin ihn Stalin 1930 verbannen ließ. Er wird am 20. März 1932 in Alma-Ata sterben, ohne dass sein wissenschaftlicher Lebenstraum Wirklichkeit geworden wäre.
Von diesem späten Punkt in der Vita seiner Hauptfigur aus inszeniert der Roman dann, unterteilt in zwei größere Abschnitte, die Anstrengungen seines Helden, für seine immer aberwitziger werdenden Pläne finanzielle Mittel und ideelle Unterstützer zu finden. In Frankreich, anschließend in Guinea und letztlich im abchasischen Sochumi, wo sich dank der günstigen klimatischen Bedingungen die erste, von Stalin der Wissenschaft der jungen Sowjetunion spendierte Affenstation befindet, sucht und findet er Verbündete, Wissenschaftler und Ärzte wie er, die den letzten Geheimnissen des Lebens auf der Spur sind, ohne dass ihre Bemühungen jemals von Erfolg gekrönt wären.
In den Mittelpunkt des zweiten Teils hat der Autor dann eine Frau gestellt. Die 24-jährige Galina B. ist eine von fünf Gefängnisinsassinnen, die Iwanow mithilfe seiner Kontakte zur sowjetischen Führung ausgewählt hat, um wenigstens eine von ihnen nach ausführlichen Voruntersuchungen mit dem Sperma eines in der Affenstation von Sochumi lebenden Berggorillas zu befruchten. Verurteilt zum Tode durch Erschießen, hat die Kindsmörderin nichts mehr zu verlieren. Und das Versprechen, dass sie nach ihrer erfolgreichen Teilnahme an einem wissenschaftlichen Experiment mit einem neuen, von ihrer Vergangenheit unbelasteten Leben beginnen könne, tut ein Übriges.
Dass es das Sperma eines Primaten ist, mit dem sie befruchtet werden soll, ist der jungen Frau im Übrigen nicht klar, als sie die Chance, die sich ihr unerwartet bietet, sofort ergreift. Ihr maßloses Entsetzen allerdings, als sie dem Tier zum ersten Mal gegenübersteht – es „wog einhundertundachtundsechzig Kilogramm und war einen Meter einundsechzig groß“ –, vermag nur der Gedanke an die versprochene Freiheit nebst einem kleinen Obulus für den Start in ein neues Leben für eine Weile einzudämmen.
Doch letzten Endes kommt es nicht zu dem Eingriff, der ohnehin so erfolglos geblieben wäre wie alle vorhergehenden Versuche Iwanows, der Darwinschen Entwicklungslehre durch das Schließen der Lücke zwischen Primaten und Menschen die Krone aufzusetzen. Inzwischen weiß man, dass ihre unterschiedliche Chromosomenanzahl eine Kreuzung aus Mensch und Affe von vornherein unmöglich macht. Und bittere Erfahrungen haben auch gelehrt, dass man den Menschen einer „neuen Zeit“ nicht in der Retorte züchten kann, sondern mit den Geschöpfen auszukommen hat, die eben da sind. So fehlerbehaftet, eitel, hinterhältig, auf den eigenen Vorteil bedacht und rücksichtslos im Umgang miteinander die auch sein mögen – es gibt nur sie und keine anderen.
Mit Die große Kette des Seins hat André Georgi eine raffinierte, gut lesbare Geschichte aus real überprüfbaren Fakten und geschickt mit diesen vermischter Erfindung vorgelegt. Der Autor präsentiert seinen Leserinnen und Lesern einen sich über alle ethisch-moralischen Vorbehalte hinwegsetzenden Wissenschaftler innerhalb einer Gesellschaft, die genauso blind, verbisssen und bar jedweden Feingefühls wie er an seinen Plänen am „sozialistischen Menschenbild“ arbeitet. Idealismus hier wie da, nur hat der, welcher rücksichtslos und rigoros eine neue Gesellschaft aufzubauen sich vorgenommen hatte, Millionen von Opfern hinterlassen.
Friedrich Trump und Ilja Iwanow: Die beiden letzten Romanfiguren Georgis ähneln sich in dem Furor, mit dem sie ihre hochfliegenden Lebenspläne zu verwirklichen suchen. Freilich endet das rücksichtslos geführte Abenteurerleben Trumps – der im pfälzischen Kallstadt Geborene stirbt 1918 in New York an der Spanischen Grippe – damit, dass er in den letzten Jahren seines Lebens als Grundstücksspekulant und Geschäftsführer eines der besten New Yorker Hotels jenen Reichtum zusammenrafft, von dem noch seine Kinder und Enkel profitieren werden. Ähnliches ist Ilja Iwanow nicht vergönnt. Er stirbt fern seiner Familie, mit der den Wissenschaftler nie innige Gefühle verbunden hatten, in der Verbannung.
|
||