Walter Benjamin – ein Dichter?

Mit Band 5 der „Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß“ kommt Walter Benjamin als Dichter und Erzähler in den Blick, mit noch unbekannten schriftstellerischen Facetten

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn ein paar Worte zu dem Projekt „Kritische Gesamtausgabe“. Dass das Werk Walter Benjamins eine solche Ausgabe verdient, steht wohl außer Frage, und dass sie seit 2008 mit philologischer Vorbildlichkeit und auf höchstem Niveau sich dem Werk und Nachlass widmet, ist umso erfreulicher, denn damit erhält die Nachwelt die Möglichkeit, den kompletten Benjamin kennenzulernen inklusive ausführlicher werkgenetischer Erläuterungen unter Einbeziehung von Vorarbeiten und Text-Varianten, akribischer Kommentierungen sowie literatur- und wissenschaftsgeschichtlicher Einordnungen. Es lohnt so oder so allemal.

Auftraggeberin ist die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Als Herausgeber fungieren Christoph Gödde, Henri Lonitz und Thomas Rahn in Zusammenarbeit mit dem seit 2004 in der Akademie der Künste Berlin angesiedelten Walter Benjamin Archiv. Von den geplanten 21 Bänden sind mittlerweile elf erschienen, wobei nach dem ursprünglichen Editionsplan die Ausgabe bereits abgeschlossen sein sollte. Was immer der Grund für die Verzögerungen sein mag, zu hoffen bleibt, dass die Edition wieder an Fahrt aufnimmt – zumindest ist für dieses Jahr neben dem jetzt erschienenen Band 5 ein weiterer Band angekündigt. Nebenbei bemerkt: Der aktuelle Band sollte schon vor genau zehn Jahren herauskommen.

Nun also Benjamin als Dichter und Erzähler. Dass wir damit gewissermaßen eine grundlegend neue Seite an ihm kennenlernen, lässt sich allerdings nicht behaupten, außer dass nun die lange als verschollen gegoltenen, dem Gedenken des 1914 verstorbenen Freundes Christoph Friedrich Heinle gewidmeten Sonette zugänglich sind. Die beiden lernten sich 1913 in Freiburg kennen und engagierten sich in der Jugendbewegung um Gustav Wyneken. Heinle nahm sich 1914 das Leben.

Die Sonette beschreiben zwar eine weitgehend unbekannte Facette im frühen Schaffen Benjamins, aber die Frage, ob uns hier sozusagen ein Dichter verloren gegangen beziehungsweise wiederzuentdecken sei und seine schriftstellerische Biografie ein anderes Gewicht durch sie gewinnt, davon jedenfalls kann nicht die Rede sein. Er selbst hatte kein Interesse, diese Sonette zu veröffentlichen, so wichtig ihm ihre Entstehung in den Kriegsjahren 1914 bis 1918 offenbar auch war. Er hielt sie unter Verschluss und wechselte stattdessen die Seite und wurde Kritiker (und keineswegs zu seinem Schaden).

Für Benjamin muss Heinles Suizid ein wohl zutiefst verstörendes Erlebnis gewesen sein, an dem er sich über Jahre hinweg im wortwörtlichen Sinne poetisch abarbeitete. Am Ende kamen 50 Sonette zusammen. Vorangestellt ist ihnen eine Strophe aus Friedrich Hölderlins „Patmos. Dem Landgrafen von Homburg“:

Wenn aber stirbt alsdann,
An dem am meisten
Die Schönheit hing, daß an der Gestalt
Ein Wunder war, und die Himmlischen gedeutet
Auf ihn […]

Damit ist die Tonlage der nachgerade emphatischen Totenfeier vorgegeben – wo es heißt: „Enthebe mich der Zeit    der du entschwunden / Und löse mir von innen deine Nähe […]“. Von seinen Blicken des Erwachens ist die Rede als Leuchten auf den irren Fährten: „Und seiner Augen Sterne sie gewährten / Den einzgen Schein in meinen Schlafgemachen“. Oder an anderer Stelle: „In deinen Leib mein Lieben ist gemeißelt“. Von brennendem Gedenken und hoher Trauer ist die Rede und natürlich von einer Hölderlinschen Wundergestalt, aber immerhin auch mit einem leisen Hoffnungsschimmer: „Befreiter Blick in den Wendekreis / Der hohen Trauer   wo sich aus den bleichen / Wintern errichtete das neue Reis“, womit das ewige Werden und Vergehen als ein Trost in den Blick rückt.

Der Band enthält noch weitere Sonette, die in den 1920er Jahren entstanden sind. Darin begegnet uns ein Maler, von dem es heißt, er male aus Schatten das wunderbarste Bildnis. In anderen Sonetten herrschen trübe Gedanken und Traurigkeit vor. Die Seele irrt darin aus Nachtverstecken, „die verkündende Finsternis“ – „Vermessen im verzweifelten Gelage / Bei wüsten Zeiten stiller Lust gedenkend“.

Anders sieht es beim Erzähler Benjamin aus, also beim literarischen im Gegensatz zum späteren wissenschaftlichen Schriftsteller, der sich dem philosophischen und literaturgeschichtlichen Diskurs verschrieben hatte, denn der Literaturproduzent Benjamin mit seiner Vorliebe für die Prosa ist uns keinesfalls neu – abgesehen von dem im Band enthaltenen unveröffentlichten Texten. Festzuhalten bleibt, dass es am Anfang eine erkennbare Schriftstellerlaufbahn gab, wovon insbesondere seine Veröffentlichungen „Einbahnstraße“, „Berliner Kindheit“, seine Hölderlin-Arbeiten und Baudelaire-Übertragungen ein beeindruckendes Zeugnis ablegen. Hinzuzurechnen sind einige veröffentlichte frühe Gedichte und Erzählungen, dann die zahlreichen Feuilletons, die wir ohne weiteres zum literarischen Genre zählen dürfen.

Noch in den 1930er Jahren gibt es immer wieder mal eine Erzählung, deren Veröffentlichung vor allem dem Broterwerb diente. Für den Juden Benjamin verschlechtern sich die Lebensverhältnisse unter den Bedingungen der NS-Diktatur rapide. Innerhalb Deutschlands waren überhaupt nur Veröffentlichungen unter Pseudonym noch möglich – und die Angebote wurden immer seltener.

Dass es sich um bloße Brotarbeit handelte, gestand er unumwunden in einem Brief an Gretel Karplus, der späteren Ehefrau von Theodor W. Adorno, der er ein Exemplar der Geschichte „Gespräch über dem Corso. Nachklänge vom Nizzaer Karneval“ übersandte, erschienen 1935 in der „Frankfurter Zeitung“ unter dem Pseudonym Detlef Holz. Was wie eine Rechtfertigung klingt, lautet dort so:

Und nicht, als täte ich mich nicht nach allen Seiten um. Ein so dubioses Papier, wie ich es Dir gleichzeitig als Drucksache sende (oder hier beilege) ist ja nur in seiner sehr wenig mittelbaren Beziehung zum ‚Kampf ums Dasein‘ entschuldbar oder auch nur verständlich.

Dubios ist an der kleinen Erzählung gar nichts. Drei Männer unterhalten sich im Café des Casino Municipal in Nizza über den vorbeiziehenden Karnevalszug. Belesene Leute, die viel Kluges über die einzelnen Wagen mitzuteilen wissen – sei es Etymologisches, sei es Mythologisches. Unter ihnen befindet sich ein dänischer Bildhauer, der angesichts der Riesen und Zwerge auf einem der Wagen Tiefsinniges zum Besten gibt, und zwar als Antwort auf die Frage, was diese Gestalten für Kinder seien: „Das Wunderbare an Kindern ist, daß sie ohne alle Umstände zwischen den beiden Grenzbereichen des Menschlichen wechseln können […].“ Kinder können im Winzigen aufgehen, während sie sich unter den Riesen wie unter ihresgleichen bewegen würden.

Fantastisches, Erträumtes, Sinnliches finden wir vorzugsweise in den kleinen Erzählungen. In „Schiller und Goethe. Eine Laienvision“ beschreibt Benjamin einen visionären Gang durch eine wild zerklüftete literarische Landschaft, dazwischen Marmortreppen und Auftritte von Horaz und Cicero, zwischen Trümmerhaufen entwischt Opitz, auf einem Berg befindet sich Lessing, umgeben von einer Puppengesellschaft im Mondschein. Wir treffen auf Klopstock und Hölderlin und Schiller wird von viel Volk umlagert, dazu eine Menge marmorner Statuen und am Ende hat Goethes Mephisto noch seinen Auftritt.

In anderen Erzählungen grüßt sozusagen der Expressionismus mit Unheimlichem und seltsamem Begehren, einem Liebhaber, der einer nichtexistierenden Dame Tag für Tag Blumen bringt. Bekannt sind seine Erzählungen vom Kauf frischer Feigen, um uns den Unterschied von Genuss und Gier zu schildern, wo schließlich Überdruss und Ekel überwunden werden, um einen Ausblick auf eine ungeahnte Gaumenlandschaft zu gewähren. Fremde Länder und Orte sind bei Benjamin nicht selten. Das Bizarre darin überwiegt. Wo etwa ein Spaziergänger über ein staubiges Feld auf Ibiza wandert heißt es: „Der Boden hier klingt hohl […]. Mit diesem Klange legt ihm die Einsamkeit das Land zu Füßen.“

Eine von Benjamins Begabungen sei, wie Hannah Arendt in ihrem nach wie vor lesenswerten Aufsatz über den Freund schrieb, „dichterisch zu denken“. Ihm sei ein „Flanieren im Geistigen“ eigen gewesen. Das trifft es ebenso wie die originelle Mutmaßung, Benjamin sei Schriftsteller aus Unzufriedenheit gewesen, indem er nämlich selbst die Bücher schrieb, die man gerne lesen möchte. Auch sei er kein Botschaften-Sucher gewesen, eher einer, der in und mit Texten bohrt und beschwört. Diese Methode sei schwer zu fassen, aber der Autor hat schließlich genügend Material zur Ansicht hinterlassen.

Mit Blick auf seine literarischen Arbeiten schrieb Arendt:

[…] sprachliche Gebilde nicht auf ihren Nützlichkeits- und Mitteilungswert zu befragen, sondern sie in ihrer kristallisierten und daher prinzipiell fragmentarischen Form als intentionslose und kommunikationslose Äußerungen eines ‚Weltwesens‘ zu verstehen […].

Viele der im Band enthaltenen Erzählungen bestätigen genau das – sie lassen uns Lesende ohne jene berühmte ‚Moral von der Geschichte‘ zurück, enden unvermittelt und unerwartet und in jeder Pointe steckt mehr Rätsel als Lösung.

Verantwortlich für den hier zu besprechenden Band war Chryssoula Kambas, ehemals Professorin für Neuere deutsche Literatur, die, abgesehen vom souverän gehandhabten gewaltigen philologischen Apparat, vor allem im Nachwort viel Erhellendes über die Gedichte und Erzählungen und ihren sowohl literaturgeschichtlichen wie biografischen Stellenwert mitzuteilen weiß. Ihrer Arbeit gebührt höchstes Lob.

Titelbild

Chryssoula Kambas (Hg.) / Walter Benjamin: Gedichte und Erzählungen. Werke und Nachlaß - Kritische Gesamtausgabe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
826 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587768

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