Kaiser und Päpste
Sarah Hutterer ediert und interpretiert ein vergessenes deutschsprachiges Geschichtswerk aus dem Ende des 14. Jahrhunderts
Von Klaus Graf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls der Historiker Theodor von Kern, Mitarbeiter der angesehenen Editionsreihe Die Chroniken der deutschen Städte, im Jahr 1869 in einem längeren Aufsatz einen von ihm Konstanzer Weltchronik getauften volkssprachigen Text vorstellte, war ihm lediglich eine einzige Handschrift, der Münchner Cgm 426, bekannt. Inzwischen kennt man neun Handschriften, aber die spärliche Sekundärliteratur zum Werk, das bezeichnenderweise im Verfasserlexikon erst im Nachtragsband Aufnahme fand, hat gegenüber Kerns Ausführungen kaum Fortschritte erzielt.
Man muss es also sehr begrüßen, dass sich Sarah Hutterer in ihrer Wiener Dissertation der vergessenen Chronik zuwendet. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die – Stichproben zufolge – verlässliche Edition (S. 1–139). Ihr gehen voran Handschriftenbeschreibungen (jeweils ohne Verzeichnis der einschlägigen Beschreibungen), Darstellung der Abhängigkeit der Überlieferungszeugen voneinander und Editionsgrundsätze. Wiedergegeben werden drei Versionen. Als „Führungshandschrift“ des Grundstocks wurde die Klosterneuburger Handschrift 1253 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts gewählt. Dem Text sind ein reicher Variantenapparat und eine lesbare Übersetzung beigegeben. Die Handschrift ist online verfügbar und ermöglicht daher eine Kontrolle des Texts. Eine jüngere Redaktion wird nach den Handschriften in St. Gallen, Zürich und Chur ediert. Die dritte Version ist die Transkription der (ältesten datierten) Luzerner Handschrift von 1426, die leider noch nicht online abrufbar ist.
Was die Edition angeht, muss als grundsätzliches Monitum der Verzicht auf eine digitale Edition im open access und mit TEI-Codierung kritisiert werden. Gedruckte Editionen sind im 21. Jahrhundert schlicht und einfach nicht mehr zeitgemäß. Als Fehler des Lektorats ist zu werten, dass es nicht einmal zur Ausgabe ein Register gibt, obwohl Namensregister in historischen wie germanistischen Editionen bewährter Standard sind. Die Edition verzichtet leider auf jegliche Kommentierung und insbesondere auf den Nachweis der Quellen, obwohl die wesentliche Vorarbeit dazu bereits Kern geleistet hatte.
Der anschließende Interpretationsteil widmet sich hauptsächlich drei Themen, Da einige Textzeugen Illustrationen aufweisen, wird erstens die Bebilderung in den Blick genommen. Unter der Überschrift „Bewegliches Konglomerat“ geht es zweitens überwiegend um die lateinischen Quellen. Drittens: Den ambitionierten Abschnitt „Modulare Textualität“ ergänzt der Versuch eines Vergleichs mit neueren interpretatorischen Konzepten, die sich ebenfalls mit modularer Beweglichkeit auseinandergesetzt haben. Hutterer möchte so die klassische Vorstellung einer Werkeinheit bekämpfen.
Als Historiker möchte der Rezensent nicht zu den literaturwissenschaftlichen Darlegungen über Modularität Stellung nehmen. Eingeleuchtet haben sie ihm nicht. Was über das Genesis-Modul, das Chronik-Modul, das eschatologische Modul und die als Wiederverwendung von Modulen angesprochene Rezeption in der Chronik des Konstanzers Gebhard Dacher gesagt wird, eröffnet der Erforschung der spätmittelalterlichen Historiographie in deutscher Sprache schwerlich grundlegend neue Perspektiven.
Auch wenn der Untersuchungsteil viele wertvolle Beobachtungen enthält, muss bedauert werden, dass der rein philologische Ansatz alle Chancen interdisziplinären Arbeitens verschenkt. Das Studium historiographischer Texte erfolgt sinnvollerweise durch die Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Germanistik. Hutterer ist aber desinteressiert, was den mutmaßlichen Entstehungskontext, die Verbreitung und die Rezeption der Chronik angeht.
Der Text des Grundstocks endet mit der Wahl Papst Bonifaz’ IX. in Rom 1389. Weder sein Tod 1404 noch der des Gegenpapstes Clemens VII. in Avignon 1394 wird erwähnt. Man darf die Konstanzer Weltchronik also wohl um 1390 datieren. Wiederholte Nennungen von Ereignissen im Bistum Konstanz und vor allem im Bodenseeraum lassen an eine Entstehung in der Bischofsstadt Konstanz denken. Dafür spricht auch Hutterers überzeugender Nachweis (S. 226), dass die Konstanzer Weltchronik dem Münchner Clm 21259 folgt und die in ihm enthaltenen lateinischen Vorlagen (Pantheon des Gottfried von Viterbo, Kirchengeschichte des Tholomeus von Lucca, deren Fortsetzung durch Heinrich von Dießenhofen) in der gleichen Reihenfolge als Hauptquellen verwertet. Nur dieser Codex, der sich im 15. Jahrhundert in Ulm befand, überliefert die Zweitfassung der Chronik des Konstanzer Chorherrn Heinrich von Dießenhofen. Bei einer so autornahen Überlieferung darf man auch hier Konstanz ins Spiel bringen. Die Rezeption in der Chronik des Konstanzers Dacher wurde bereits erwähnt. Im 15. Jahrhundert war das Werk in Nürnberg bekannt. Kerns Annahme, eine Zürcher Chronik habe es benutzt, ist ein Irrtum, da die ihm bekannten Zitate aus dem Cod. Sang. 657, also aus einer weiteren Handschrift der Weltchronik, stammen. Die Handschriften entstanden alle im oberdeutschen Raum: im Bodenseeraum und in der heutigen Schweiz, in Bayern und in Niederösterreich.
Vermisst wird eine Einordnung in die Gattungsgeschichte volkssprachiger Weltchronistik. Etwa zur gleichen Zeit wurde ebenfalls in Schwaben eine kurze Kaiserchronik in deutscher Sprache verfasst (Gmünder Kaiserchronik), deren Widmung an den Rat der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd als Adressat ein Laienpublikum erkennen lässt. Die Bebilderung der Konstanzer Weltchronik unterstreicht den Trend zur historischen Orientierung der Laien durch auf Kürze angelegte volkssprachige Kompendien. Das Buch sei in allen sachen auf das kurczist geticht und geordent, heißt es in der Konstanzer Weltchronik (S. 44).
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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