Kleines Tier, große Bedeutsamkeit
Mit „Der ewige Verschwinder“ hat Ulrich Stadler eine lesenswerte tierische Kulturgeschichte über den Floh verfasst
Von Thomas Merklinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDen Menschen heimsuchende tierische Parasiten kennt man trotz verbesserter Hygienemaßnahmen noch heute. Milben finden unsere Hautschüppchen, Stechmücken auf der Terrasse zu unseren Blutbahnen. Im hohen Gras wiederum lauern Zecken, und aus Urlaubsregionen erhält man mehr oder weniger aufgebauschte Nachrichten über Bettwanzen, während in Kindergärten und Schulen immer wieder Kopfläusen auftreten. Allein der Floh taucht in dieser Reihe der zeitgenössischen Alltagsparasitologie inzwischen kaum noch auf. Dabei ist er jahrhundertelang ein beständiger Lebensbegleiter aller gesellschaftlichen Schichten und darüber hinaus durch seine Allgegenwärtigkeit ein Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung gewesen.
Während anderen Kleinsttieren, die den Menschen plagen, ausschließlich Abneigung entgegengeschlagen ist, kam dem Floh hingegen eine besondere Stellung zu. Obgleich er als Ektoparasit verwünscht, verfolgt und getötet wurde, gab es daneben zugleich eine Faszination und Sympathie für den Floh. So galt er aufgrund seiner Wendigkeit und Sprungkraft gleichsam als lustiger Geselle, mit dem man sich ein Stück weit identifizieren konnte und dem man seine Stiche vielleicht sogar etwas verziehen hat. Wenig überraschend ist es daher, dass er nicht nur in literarischen Texten vorkommt, sondern zudem in nicht-literarischen Texten und auf Bildern thematisch ist und in unterschiedlichen Kontexten als Reflexionsgegenstand und „Bedeutungsträger“ auftritt.
Auf diese heute verebbten und weniger präsenten Diskursivierungen des Flohs geht der emeritierte Literaturwissenschaftler Ulrich Stadler in seinem Sachbuch Der ewige Verschwinder. Eine Kulturgeschichte des Flohs ein. Statt einer zeitlich geordneten Abfolge arrangiert er nach dem Vorbild eines Museums einzelne Themenbereiche in zehn Überkapiteln mit insgesamt 30 Unterkapiteln, die man quasi wie Räume mit ihren Schaukästen und Ausstellungstücken durchschreiten kann. Analog zu dem verhandelten Gegenstand springt das Buch damit zu unterschiedlichen Aspekten, wobei Vor- und Rückbezüge durch kleine, nach links oder rechts gewendete Vignetten in Form eines Flohs kenntlich gemacht werden. Auch inhaltlich lässt es sich mit einem informativen und abwechslungsreichen Ausstellungsbesuch vergleichen.
Insbesondere zwei Merkmale sind für den Floh charakteristisch: seine geringe Größe sowie seine Sprungkraft. Beide Eigenschaften machen ihn (im doppelten Sinne) schwer fassbar. Stadler versucht dies bereits mittels des Buchtitels auszudrücken, indem er darauf verweist, dass sich der Floh beständig entzieht. Seine Winzigkeit nähert ihn dem Nichts an, seine Agilität lässt ihn im einen Moment da, im anderen schon wieder verschwunden sein. Die juckenden Körperstellen zumindest verweisen auf ihn. Ihn zu fangen ist nicht einfach, und der Chitinpanzer erschwert es, ihn zu ‚knicken‘. Flohflecken aus Stoff oder die hochwertigeren Flohpelze sollten Flöhe wenigstens vom menschlichen Körper ablenken, aber auch Schoßhündchen besaßen in besseren Kreisen die Funktion des Flohmagneten.
Einerseits ist der Floh ein beständiges Ärgernis, andererseits wird er kulturell besetzt und mit Bedeutung aufgeladen. Flohjagden werden erotisch konnotiert und Flöhe aus männlicher Perspektive eifersüchtig beneidet, da sie an Stellen des weiblichen Körpers gelangen, die dem eigenen Begehren entzogen sind. Der Floh selbst erhält im vorrevolutionären höfischen Kontext eine erotische Einfärbung und wird modisch durch Schönheitspflaster in Form des Insekts oder die Bekleidungsfarbe ‚puce‘ aufgegriffen. Darüber hinaus wird die Thematik in mehr oder weniger expliziter Form in literarischen Texten und der bildenden Kunst behandelt. Stadler geht zwar durchaus auf Beispiele ein, verliert sich aber nicht im voyeuristischen Reproduzieren, sondern schaut eher auf besondere Genrevertreter.
Ein Text etwa, der aus dem Gros der Flohliteratur heraussticht, ist das Gedicht „La Puce“ von Catherine Des Roches. Als an ihrem Halsbereich ein Floh wahrgenommen wird, entsteht im Salon ihrer Mutter Madeleine des Roches die Idee zu einem Dichterwettbewerb. Die überwiegend galanten Verse der männlichen Teilnehmer wie auch das Gedicht der jungen Frau werden schließlich unter dem Titel La Puce de Madame Des Roches gedruckt. Obschon der Floh im Französischen (und bis ins 18. Jahrhundert auch im süddeutschen und schweizerischen Sprachgebiet) ein weibliches Genus besitzt, ergeben sich doch überwiegend männlich-sexuellen Assoziationen. Dass Des Roches mit der Ähnlichkeit von ‚la pucelle‘ und ‚la puce‘ spielt und mit der Verwandlung einer jungen Frau in einen Floh eine weibliche Perspektive und Innensicht vornimmt, bildet daher eine echte Ausnahme.
Das reich und farbig bebilderte Buch geht auch auf Bildzeugnisse ein. So wird etwa die kunstwissenschaftliche Frage diskutiert, ob auf dem bekannten Gemälde Der arme Poet von Carl Spitzweg eine deklamierende Handgeste zu sehen ist oder doch eher der von Vergeblichkeit getragene Versuch, einen Floh zu knicken. Für eine genauere Studie des Gemäldes Femme à la puce von Georges de la Tour aus dem frühen 17. Jahrhundert reist Stadler gar nach Nancy, um einen näheren Blick zu erhalten. Wenn sich auch nicht klären lässt, was die junge Bedienstete in ihren Händen hält – ist es ein Rosenkranz oder eine Flohfalle? –, zeigt Stadler doch, dass es sich bei der halbbekleideten Frau nicht um ein erotisches Bildsujet, sondern um eine Hygienedarstellung handelt, die sich nach den Konventionen der Zeit nicht bloß auf eine äußerliche, körperliche Reinigung, sondern auch eine innere bezieht.
Religiöse Vorstellungen mischen sich auch in die naturwissenschaftliche Beschäftigung. Das Mikroskop ermöglichte es, unter anderem den Floh in einer vergrößerten Ansicht zu betrachten. In Robert Hookes 1665 erschienener Micrographia erscheint die in Seitenansicht zu sehende Zeichnung eines Flohs als Beispiel für höchste Perfektion im Kleinsten, indem die in seiner Sprungkraft liegende Stärke und die Schönheit seines schwarzen Plattenpanzers herausgestellt werden. Für den physiko-theologischen Diskurs präsentiert sich der Floh dabei als Beispiel für die selbst im Kleinen gegenwärtige Größe der göttlichen Schöpfung (maxima in minima), so dass der Schweizer Gelehrte Johann Jacob Scheuchzer in Rückbezug auf die Bibel von „David pulex“ sprechen kann. Mikroskopieren ist dann zudem „gleichsam ein Gottesdienst“, wie der Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller meint.
In der kulturellen Beziehung des Menschen zu einem Tier nimmt der Floh als mutmaßlich kleinster Vertreter nicht nur aufgrund seiner Größe eine Sonderrolle ein, sondern insbesondere aufgrund seiner ambivalenten Bewertung. Für einen Parasiten und Störenfried erfährt er zumindest schriftlich durchaus wohlwollende und belustigende Behandlung und er wird mitunter gar aufgrund der Nähe zu seinem Wirt vermenschlicht. In politischen Texten kann er für den Monarchen oder das Volk herhalten – je nachdem, ob man vom Floh oder von Flöhen spricht. Juristisch wurde in scherzhaften Streitgesprächen die Frage erörtert, ob sein Tun als „Tötungsversuch mit untauglichen Mitteln“ bewertet werden kann. E.T.A. Hoffmann schließlich zieht ihm auf dem Frontispiz zu seinem Meister Floh gar Stiefel und einen Mantel an und treibt die Menschenähnlichkeit auf die Spitze.
In ausführlichen Lektüren literarischer Flohtexte lässt Ulrich Stadler seine literaturwissenschaftliche Expertise aufscheinen und findet neben den bekannteren Beispielen wie John Donnes The Flea und Johann Wolfgang Goethes „Floh-Lied“ aus dem Faust auch kleinere Texte. Bei Johann Peter Hebel und Kurt Tucholsky ergibt sich der Flohbezug gleichermaßen inhaltlich wie aus der literarischen Kleinigkeit der kurzen Texte. In Franz Kafkas bekannter „Legende“ Vor dem Gesetz sitzen die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters, einem wegen der Wärme im Halsbereich auch real bevorzugten Ort. Zugleich rückt sie das inhaltlich in die Nähe des Torwächters, wobei sie dem ortsgebundenen Hüter aufgrund ihrer sprunghaften Beweglichkeit als zweite „schwellenkundige Instanz[]“ sogar überlegen seien.
Ohne das Buch zu überfrachten, gelingt es Ulrich Stadler in seiner gut lesbaren „Kulturgeschichte des Flohs“ die (historische) Faszination für das parasitäre Insekt und seine kulturelle Bedeutung lebendig werden zu lassen. Die Mischung aus Bild und Text, kurzen Überblicken und ausführlicheren Analysen macht den Museumsbesuch in Buchform zu einer angenehmen Begegnung mit pulex irritans, dem gemeinen Menschenfloh, der in diesem Fall aber keine juckende Stelle, sondern eine lohnenswerte Lektüreerfahrung hinterlässt.
|
||