Notwendige Aufklärung über Widerstand
Ein General meldet 293 Denkmäler für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Von Dirk Kaesler
Es geschieht nicht allzu oft, dass eine Dissertationsschrift zum genau richtigen Zeitpunkt erscheint. Von dem hier anzuzeigenden Buch kann und muss das gesagt werden. Es wird hoffentlich dazu beitragen, dass in einigen Wirrköpfen Klarheit einzieht. Das Buch hilft gegen den Missbrauch des Wortes „Widerstand“, das spätestens seit den Corona-Verordnungen im Frühjahr 2020 nicht nur zu billiger Münze zu verkommen scheint, sondern zu einer gefährlichen Parole geworden ist. Der Begriff „Widerstand“ wird aus taktischen und ideologischen Gründen zweckentfremdet. Das wichtige Buch des pensionierten Generalmajors Josef D. Blotz könnte helfen, diesem Missbrauch besser informiert entgegenzutreten. Und es wird dabei helfen, die (west)deutsche Erinnerungslandschaft besser zu verstehen.
Um den Wert des zu besprechenden Buches würdigen zu können, sei zuerst der Missbrauch des Begriffs „Widerstand“ skizziert.
Über den aktuellen Gebrauch des Wortes „Widerstand“
Durch die Corona-Verordnungen wurde eine Mehrzahl von Grundrechten, wie sie im Grundgesetz (GG) festgehalten sind, eingeschränkt. Seitdem artikuliert sich an vielen Stellen ein Protest, der sich auf Artikel 20, Absatz 4 des GG beruft:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Es begann mit dem Dramaturgen und Publizisten Anselm Lenz, der sich bei Gründung der Protestbewegung „Demokratischer Widerstand“, die zu sogenannten „Hygiene-Demos“ aufrief, auf diesen Paragrafen berief. Lenz gelang es, Hunderte von Menschen in zahlreichen deutschen Städten zu motivieren, gegen den angeblich „größten und umfassendes Angriff auf das Menschenrecht seit 1945“ zu demonstrieren.
Im Gegensatz zur naheliegenden Annahme, dass der Absatz 4 bei Artikel 20 GG eine juristische Reaktion auf die NS-Diktatur gewesen ist, sei daran erinnert, dass diese Ergänzung erst seit 1968 im GG steht. Es handelte sich um eine politische und juristische Reaktion auf die „Notstandsgesetze“, die die Handlungsfähigkeit des Staates im Katastrophen- und Verteidigungsfall sichern sollten. Aus Furcht vor Missbrauch dieser Notstandsbefugnisse durch die Staatsgewalt wurde 1968 das Widerstandsrecht mit dem Absatz 4 ins Grundgesetz eingefügt.
Damals wurde heftig und fundiert diskutiert, wann „Widerstand“ im Sinne dieses hinzugefügten Absatzes gerechtfertigt ist und wann nicht. Das konsensuale Ergebnis der damaligen Auseinandersetzungen war, dass dieses Widerstandsrecht allein bei einem nachweisbaren Angriff auf die grundgesetzliche Ordnung als solche gelte. Als Beispiele galten alle Versuche, die Alleinherrschaft einer einzigen Partei aufzurichten, den Rechtsstaat dem Gesetz der „Scharia“ zu unterwerfen oder eine „ökologische Diktatur“ zu errichten. Nicht jedoch gelte die Inanspruchnahme des Widerstandsrechts bei einzelnen Verfassungsverstößen, für die ohnehin Abhilfe bereitstehe, beispielsweise vor Gericht gegen eine Grundrechts-Einschränkung zu klagen. Das haben einige Bürger auch bei den Corona-Einschränkungen getan, teilweise erfolgreich: So erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Verkaufsverbote für große Geschäfte für verfassungswidrig. Im Saarland kippte das Landesverfassungsgericht die strikten Ausgangsbeschränkungen.
Relevant kann das im Art. 20 Abs. 4 GG gemeinte Recht auf Widerstand nach allgemeiner staatsrechtlicher Auffassung nur werden, wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch Usurpatoren beseitigt wird und sich Menschen gegen die neuen Machthaber und deren Unrechtssystem beispielsweise auch mit Gewalt zur Wehr setzen. Diese Widerstandskämpfer hätten dann nicht im rechtsfreien Raum gehandelt, sondern haben eine verfassungsrechtliche Legitimation, bis wieder das Grundgesetz gilt.
Nicht erst seit den Corona-Beschränkungen lässt sich eine Mehrzahl von Versuchen verzeichnen, die ein Widerstandsrecht für sich in Anspruch nehmen, so die rechtsextreme „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD), die sich laut hessischem Verfassungsschutzbericht 2018 „gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von ‚Menschheit und Weltstaat‘, für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat“ ausspricht. Der Hessische Verfassungsschutz hielt dagegen:
Indem sich die IBD mit den Widerstandskämpfern der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Unrechts- und Terrorregime vergleicht und nach Art. 20 Abs. 4 GG das Widerstandsrecht für sich reklamiert, versucht sie ihr Handeln und ihre politischen Inhalte positiv zu deuten und gleichsam gesellschaftspolitisch zu legitimieren.
Der angeblich „aufgelöste“ extremistische „Flügel“ der AfD griff ebenfalls wiederholt den Begriff „Widerstand“ auf, so hieß es in der sogenannten „Erfurter Erklärung“ von 2015, die als Gründungsdokument des „Flügels“ gilt, dass die AfD die „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands sein“ müsse.
Doch nicht nur Rechtspopulisten berufen sich auf Artikel 20 Abs. 4 GG: Auch manche „Klimakleber“ führten ihn an, als sie rechtswidrig Straßen und Flughäfen blockierten, sich an ein Gemälde von Raffael in Dresden klebten oder das Brandenburger Tor mit orangener Warnfarbe beschmierten. Die Münchner Historikerin Hedwig Richter sah darin eine legitime „Geste der Verzweiflung“, mit der der Widerstand gegen den Klimawandel und das Artensterben markiert werden solle.
Wenn also „Widerstand“ derzeit in so unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen wird, erscheint es als sinnvoll, die hier anzuzeigende Publikation zu Rate zu ziehen. Und ihren hervorgehobenen Wert zu erkennen.
Was ist ein „Denkmal“? Was war „Widerstand“ gegen den NS?
Josef D. Blotz präsentiert mit seiner Dissertationsschrift, die er im Jahr 2022 der Fakultät Architektur, Bauingenieurwesen und Stadtplanung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg vorlegte, eine umfassende Bestandsaufnahme von 1.115 Objekten, die an 293 Orten in Deutschland und 55 im Ausland zum Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus errichtet worden sind. Gesammelt werden Denkmäler, Gedenktafeln, Erinnerungs- und Gedenkstätten und (Ehren)Gräber in ganz Deutschland. Als sein Erkenntnisinteresse formuliert er:
dieses Buch [geht] der Frage nach, wie in der Bundesrepublik Deutschland an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Medium Denkmal erinnert wird, welches Bild also die Deutschen mit diesen Objekten dem Widerstand zu geben versucht haben und ob und wie sich dieses Bild über mehr als sieben Jahrzehnte verändert hat. […] Unter einem Denkmal für den Widerstand wird im Folgenden, Definitionen und Eingrenzung zusammenfassend, ein materielles Erinnerungszeichen im öffentlichen oder nichtöffentlichen Raum der Bundesrepublik Deutschland verstanden, das einen Gedenkort markiert, der als individuelle oder kollektive Erinnerung an eine Person, eine Personengruppe, ein Ereignis oder eine Kategorie von Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland gedacht ist und als solcher wahrgenommen wird.
Mit seiner Forschung stellte er sich das Ziel, die Rezeptionsgeschichte des Widerstands in der Bundesrepublik Deutschland zu dokumentieren, zu analysieren und zu korrigieren. In zwei Exkursen zieht er Vergleiche zur widerstandsbezogenen Denkmalpraxis in der DDR und einigen Ländern im Ausland. Ein unerhört differenziertes Panorama dieser mehr als dreihundert „Denkmäler“ breitet sich vor der Leserschaft aus: Entstehungsgeschichte der jeweiligen Denkmäler, ihre geografische Verteilung, das Entstehen immer wieder neuer Denkmaltypen, die eingesetzten Inschriften, die dahinterstehenden Initiativen, die verwendeten Materialien, die beteiligten Künstler. Bemerkenswerte Akzente werden gesetzt bei den Widerstandsdenkmälern in Liegenschaften der Bundeswehr – hier zeigt sich der ehemalige Berufsoffizier – und bei der Herausarbeitung der Rolle von Frauen und Christen im Widerstand gegen den NS.
Wer den öffentlich zugänglichen Katalog der Denkmäler für den Widerstand gegen den NS durchscrollt, erkennt unschwer die enorme Differenziertheit und Komplexität der Blotzschen Fragestellung:
https://opus4.kobv.de/opus4-zmsbw/frontdoor/index/index/docId/720
Es ist hier nicht der Ort, auf die Ergebnisse im Einzelnen einzugehen. Darum sei allein der Frage nachgegangen, wie Josef D. Blotz „Widerstand“ definiert.
Er selbst betont die Schwierigkeit:
Seit dem Ende des Nationalsozialismus wird eine Vielzahl an Definitionen und (Stufen-)Modellen diskutiert. Das Spektrum reicht von ablehnender Haltung, ‚kleinen‘ Formen des zivilen Mutes, Ungehorsam, Auflehnung, Opposition, Widerstand, Widerständigkeit, Widerstreit bis zu Resistenz, Resilienz – und so fort. Nichts davon kann eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, weil die zugrunde gelegten Kriterien dem Umstand nicht gerecht werden, dass Widerstand zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches bedeutete und ganz unterschiedlich motiviert war – vor 1945 wie in der Widerstandsforschung und in der Erinnerung der am Widerstand Beteiligten seither.
Eines der großen Verdienste der Arbeit von Blotz ist es, die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft wegzuführen von der lange Zeit in der Bundesrepublik dominierenden heroisierenden Verengung des Blicks auf den Widerstand gegen den NS durch die Fokussierung auf die Gruppe des gescheiterten Attentats um Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Für sehr lange Zeit in der Geschichte der Bundesrepublik fokussierte sich die deutsche Erinnerungslandschaft allein auf den militärischen und konservativen Attentatsversuch vom 20. Juli 1944, der sich im Jahr 2024 zum 80. Mal jährte. Nicht zuletzt durch die diversen medialen, literarischen und politischen Aktivitäten von Marion Gräfin Dönhoff hatte sich eine Unterscheidung von „großen“ und „kleinen“ Formen des Widerstands entwickelt, als sie urteilte: „Der Widerstand im Dritten Reich war also eine Sache der Qualität und nicht der Quantität“. Dementsprechend wurden nur jene Männer als die „wahren“ Widerständler gewürdigt, die den Versuch unternommen hatten, Hitler im Juli 1944 durch ein Attentat zu töten. Allenfalls noch die mutigen Aktivitäten der studentisch-bürgerlichen Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ um die Geschwister Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber haben es zur Behandlung im Schulunterricht geschafft. Dass dabei Männer, wie beispielsweise Georg Elser, Fritz Gerlich und Otto Weidt erst sehr spät zur Kenntnis genommen wurden und bis heute nicht im allgemeinen Gedächtnis verankert sind, war eine der Folgen dieser unnötigen und sachlich nicht gerechtfertigten Einengung der Perspektive. Vollkommen ausgeblendet wurde zudem die Wahrnehmung des Widerstands gegen den NS-Faschismus durch deutsche Sozialisten und Kommunisten, den Blotz in einem eigenen Exkurs („Widerstandsdenkmäler in der DDR“) würdigt.
Bis heute weitestgehend unbekannt ist ebenso der mutige Widerstand der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas während der Zeit des NS, den auch Josef Blotz nicht erwähnt. Am Beispiel des ersten deutschen Wehrdienstverweigerers, August Dickmann, hätte auch dieser „stille Widerstand“ es sehr wohl verdient, aufgenommen zu werden: Dickmann wurde am 15. September 1939 auf Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, vor den Augen aller versammelten Häftlinge auf dem Appellplatz des KZ Sachsenhausen als „Volksschädling“ erschossen. Aber vielleicht gehört Wehrdienstverweigerung für einen ehemaligen General ebenso wenig zu „Widerstand“ wie seine Aussparung von Desertion: „eine grundlegende Diskussion darüber, ob Desertion eine Form des Widerstandes gegen den Nationalismus darstellte und wie deren Rezeptionsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland verlief, soll hier nicht geführt werden […]“.
Programmatisch schreibt der Autor einleitend: „Für die vorliegende Arbeit gilt, dass die vielen ‚Königswege des kleinen Widerstands‘ in ihren weniger ambitionierten Kontexten keineswegs minderwertig oder der angemessenen Erinnerung und Erforschung weniger würdig wären.“ Die anschließenden drei hundert Seiten beweisen, dass der Autor dieser Ankündigung gerecht geworden ist. Gerade den „stillen Helden“, die auch ohne „große Tat“ ihren Widerstand dem Unrechtsystem gegenüber unter Beweis gestellt haben, wird durch die umfangreiche, gründliche und behutsame Inventarisierung ein weiteres Denkmal in der Form dieses Buches mit seinen zahlreichen Abbildungen die posthume Ehre erwiesen.
Die abschließenden Kapitel über den „Widerstand gegen den Widerstand“ durch die Zerstörungen mancher Denkmäler durch Vandalismus, Schändung, Farbsprayattacken und Diebstahl macht die heutige Leserschaft hoffentlich besonders wachsam: Die Bamberger Gedenktafel für den Grafen Stauffenberg wurde mindestens viermal (2012, 2013, 2017 zuletzt 2020) Opfer von Sprayattacken („Nazischwein“) und Zerstörungen. Wie schreibt der Autor? „Die Denkmallandschaft verändert sich permanent.“
In seinem „Resümee und Ausblick“ zitiert Blotz einleitend die Inschrift einer Bronzetafel, die in Marburg an der Lahn an die „Weiße Rose“ erinnert, und der nichts hinzuzufügen ist:
Wer in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland Widerspruch und Widerstand wagte, setzte Existenz und Leben aufs Spiel. Von 80 Millionen Deutschen nahmen nur wenige Tausend dieses Risiko auf sich.
Seine eigene Ergebniszusammenfassung lautet:
Denkmäler können zu wichtigen Elementen in Lernprozessen werden, besonders in Zeiten der missbräuchlichen Berufung auf das Recht auf Widerstand und die Instrumentalisierung des Widerstands gegen das NS-Regime durch Extremisten.
Diesem Buch ist eine große Leserschaft zu wünschen, insbesondere in Zeiten, in denen sowohl der Bagatellisierung („Fliegenschiss“: Alexander Gauland) als auch der anscheinend nicht mehr notwendigen Verbrämung der NS-Verbrechen mediale und politische Plattformen geboten werden. Vor allem in Zeiten, in denen dem Begriff des „Widerstands“ inflationäre Inanspruchnahme zuteilwird.
P.S. Dem in Bayern sozialisierten Rezensenten sei es erlaubt, anzumerken, dass es auch ein Akt des mutigen Widerstands in jenen Jahren war, auf ein „Heil Hitler“ mit einem „Grüß Gott“ zu antworten. Auch wenn dieser Erwiderung kein Denkmal gesetzt wurde.
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