Constantin Brancusi oder Das visionäre Element des Unvollendeten
Ein profundes Wörterbuch von A bis Z über diesen säkularen Bildhauer
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1903 verließ der junge Bildhauer, der gerade erst sein Studium an der Kunstakademie Bukarest beendet hatte, sein rumänisches Heimatland und brach zu einem Fußmarsch mit Zwischenstationen in Wien, München und Langres nach Paris auf , das er völlig erschöpft genau am französischen Nationalfeiertag, am 14. Juli 1904, erreichte. Constantin Brancusi, der einen eigenständigen künstlerischen Weg einschlagen und die Bildhauerei sozusagen neu definieren sollte, fand zwar schnell Anschluss an die künstlerische Moderne, musste aber auch viele Widerstände in Kauf nehmen. Er war überzeugt, dass das Material, mit dem er arbeitete – Marmor, Stein, Holz, Gips und Bronze –, ein Eigenleben hatte, eine Einzigartigkeit und Essenz, die er aufspüren wollte, um die darin enthaltene Form freizulegen. Er wollte eine perfekte Form gewinnen, sozusagen das Materielle ins Immaterielle überführen. Dieser Prozess der „Entmaterialisierung“ ist als sein wichtigster Beitrag für die Entwicklung der Plastik angesehen worden – das Material wird bis in die äußerste Oberflächenspannung, bis zur spiegelnden Form ausgeführt. Als sein „Vogel im Raum“ 1928 für eine New Yorker Ausstellung in die USA eingeführt werden sollte, sah der amerikanische Zoll in dieser Skulptur nur einen Metallgegenstand und verlangte eine beträchtliche Zollabgabe, was den Bildhauer zu einer Klage und einem langen Prozess vor dem Zollgericht führte.
1907 hatte Brancusi das Atelier des Wegbereiters der Moderne, Auguste Rodin, verlassen und von ihm das Fragmentarische übernommen, das bei ihm zum Inbegriff des Ganzen wurde. Das wurde seine einzigartige künstlerische Vision: Er vereinigte die Fragmentierung mit der Geschlossenheit der Form und ließ die von ihm bevorzugten Torsi geradezu zu Sinnbildern psychischer Dichte und anonymer Gehalte werden.
Bevor das Centre Pompidou in Paris 2025 wegen Renovierungsarbeiten schließen wird, hatte es noch bis Juli 2024 eine umfassende Brancusi-Retrospektive gezeigt und die Welt dieses säkularen Bildhauers in einem thematischen Rundgang von fast 200 Skulpturen erkundet. Im Mittelpunkt stand die Rekonstruktion eines Teils des Ateliers des Bildhauers in der Impasse Ronsin 11, das für ihn ein Ort des Lebens und Schaffens war und das der Künstler dem Musée national d’art moderne vermacht hatte. Geblieben aber ist der Katalog, der diesmal keine Essays zu relevanten Themen und Erläuterungen zu den in der Ausstellung gezeigten Werken enthält, sondern – und darin liegt sein besonderer Wert – als Nachschlagewerk von A bis Z dient, unentbehrlich für jeden, der sich ausführlicher mit diesem faszinierenden Bildhauer beschäftigen will.
Schlagen wir in diesem Band ein paar Stichworte auf, die die Werk- und Lebenswelt Brancusis erläutern sollen. Sein Atelier war das Museum seiner Werke und zugleich ein Gesamtkunstwerk. Seine Skulpturen traten hier miteinander in Austausch, eine Skulptur kündigte jeweils den Übergang zur anderen an. Durch Änderungen ihrer Position oder unterschiedliche Sichten erlebten sie eine unvorhergesehene Transformation und Metamorphose. Seit den 1920er Jahren stellten sich im Atelier die Besucher ein, Brancusi befreite dann seine polierten Skulpturen von ihren schützenden Hüllen und setzte den in den Sockeln verborgenen Motor seiner „Leda“ in Bewegung. Mit Fotos hat er selbst die sich ständig wandelnde Struktur seiner Werke dokumentiert. 1927 musste er sein Atelier aufgeben und dank der Unterstützung von Marcel Duchamp lebte er nun bis Lebensende in der Impasse Ronsin 11.
Fliegen können war zeitlebens sein Wunschtraum und er hat ihn in 30 verschiedenen Vogel-Variationen in Bronze und Marmor verkörpert. Der „Vogel im Raum“ verkörpert die verborgene Macht des rumänischen Sagenvogels Maiastra (ab 1910), seine letzte Version (1942) verkündet die Befreiung von der Schwerkraft , ruft zur Überwindung des Menschseins auf. Ebenso wie die der griechischen Mythologie entlehnte Leda (ab 1920), die „unaufhörlich ein neues Leben, einen neuen Rhythmus schafft“ (Brancusi), stellen die Tierskulpturen die unauflösliche Verbindung zwischen formeller Ausarbeitung und mythischer Inspiration dar. Eindringlich werden „Der Fisch“, „Der Hahn“, „Das Krokodil“ oder „Der Seehund“ im Wörterbuch erläutert.
„Der Kuss“ (1910), das sich umarmende, miteinander verschlungene Paar, ist die wohl bekannteste Skulptur und sozusagen zu seinem Erkennungszeichen geworden. In 40 Jahren hat Brancusi immer wieder Variationen des Kuss-Motivs geschaffen. Eine frühe Form (1910) steht als Grabplastik auf dem Cimetière Montparnasse in Paris – aber auch im rumänischen Craiova -, doch – so ist gefragt worden – dürfte sie nicht auch die Utopie einer allgemeinen Verbrüderung verkörpern, die Forderung nach mitmenschlicher Solidarität? In der „Pforte des Kusses“ (1937/38), Teil des den rumänischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges gewidmeten Ensembles in Targu Jiu, und im „Grenzstein“ (1945), die dieses Motiv variieren, kommt der Gedanke der Versöhnung und Brüderlichkeit zum Ausdruck.
Für die „Schlummernde Muse“ (1910) saß die Baronin Frachon für Skizzen Modell. Brancusi löste sich von einer individuellen Darstellung und überführte sie in eine universelle. Was man sieht, ist nur die Andeutung einer Wirklichkeit. Die Gesichtszüge sind auf einfache Linien reduziert und der reale Körper wird überhaupt ignoriert. Ein Werk leitet bei Brancusi zum anderen über, alles verläuft in Variationen: Ein Vogel birgt einen anderen, eine Muse zeugt eine andere, die Säule verdoppelt sich: Alles verweist auf die Grundidee, den Flug des Vogels, den Schlaf der Muse, den Himmel oder das Unendliche der Säule.
„Prinzessin X“ (1915/16) wird, wie es im Kommentar heißt, als die „vollkommene Reduktion auf das Symbolische“ angesehen. Und doch ist sie damals als androgyne Figur wahrgenommen worden, sogar als schamlos ausgestellter Penis. Die unterschiedliche Wahrnehmung ein und derselben Figur wird als Resultat eines optischen Spiels, der Doppeldeutigkeit eines Werkes erklärt.
Im rumänischen Targu Jiu bilden dann die Skulpturen 1937/38 auf einer mehr als ein Kilometer langen Achse ein architektonisches Ensemble von symbolischem Charakter: die „Endlose Säule“ als rhythmisch gestufte Vertikale, Symbol des Aufstiegs und der Transzendenz, von Himmel und Erde; die „Pforte des Kusses“, die die Botschaft der Liebe und Vereinigung vermittelt – zwei Kuss-Motive befinden sich auf den Säulen, 40 umarmende Paare sind rhythmisch auf den Pfeilern angeordnet; den „Tisch des Schweigens“, von 12 Hockern bzw. Skulptur-Sockeln umgeben, ein Ort der Stille, die Zeit symbolisierend, nur vom Rauschen des benachbarten Flusses unterbrochen. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, des Versuches Nazi-Deutschlands, eine faschistische Terrorherrschaft in Europa zu errichten, legt dieses skulpturale Ensemble Zeugnis für eine sich opfernde und geopferte Menschlichkeit und brüderliche Gemeinsamkeit ab.
In welcher formalen Nähe befindet sich Brancusi zur afrikanischen Kunst, zur Antike, zur rumänischen Volkskunst? Das Lexikon geht auf Künstlerfreunde ein (Hans Arp, André Breton, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Amedeo Modigliani oder Man Ray, der Brancusis fotografisches Schaffen beeinflusst hat) und Kunstströmungen (Dada, Minimal Art), auf Kunstkritiker, Mäzene und Sammler. Von welchen Personen wurden die Skulpturen inspiriert? Wichtige Ausstellungen werden benannt, einzelne Lebensabschnitte, der Arbeits- und Formprozess des Bildhauers, seine kombinatorische Methode untersucht. Wer stand für die Porträts Pate, obwohl Brancusi immer weniger nach dem Modell gearbeitet hat? Wie entwickelte Brancusi seine universale Formensprache, warum gehört er zur Avantgarde?
1955 hatte Brancusi einen Besucher wissen lassen: „Meine Arbeit ist beendet“. Doch in seinem Todesjahr 1957 ergriff er noch einmal nachdrücklich das Wort: „Nur Dummköpfe könnten sagen, meine Werke seien abstrakt. Was sie für abstrakt halten, ist tatsächlich die realistischste Sache, die möglich ist. Denn Realität ist nicht die äußere Form, sondern die Idee, die Essenz der Dinge“.
Auf einige – wenige – fehlenden Stichworte darf aber doch noch hingewiesen werden. Milarepa, der tibetanische Dichter-Mönch aus dem 11. Jahrhundert, der für Brancusi wegweisend gewesen war, hätte einen Beitrag verdient. Und die Begegnung mit Lehmbruck, die auch durch gewisse Ähnlichkeiten in ihren Skulpturen unterstrichen wird, vermisst man bei der Aufzählung der Künstlerkollegen. Wenn man dem Schliff bei der Endbearbeitung der Oberfläche besondere Aufmerksamkeit schenkt, dann hätte man das auch beim gleichwertigen Schnitt tun können.
Die Lektüre dieses Bandes, der viel mehr als nur ein Nachschlagewerk ist, lässt zudem reichhaltiges Bildmaterial zu einem faszinierenden Erlebnis werden.
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