Goethes ‚Faust‘ und die bürgerliche Gesellschaft

Thomas Metschers großer Essay

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Publizistik zu Goethes Faust-Dramen wurde und wird seit mehreren Jahrzehnten dominiert von einer krass negativen Wertung der Titelfigur. Faust, so das Urteil, ist der absolute Bösewicht „der Moderne“. Gerhard Kaiser, Albrecht Schöne und Oskar Negt stellen sich ihn als KZ-Kommandanten vor. Die emotionale Vehemenz stammt aus der Befindlichkeit der Publizisten, die an ihrer eigenen Zeit leiden und die sie auf die Titelfigur übertragen. Verstärkt seit dem endgültigen Sieg des Kapitalismus 1990 besteht ein offenbar dringliches Interesse, Faust zum scheiternden Unternehmer und als Warnfigur der eigenen Gegenwart zu werten.

An die Stelle einer historisch kritischen Textinterpretation ist eine Projektionsliteratur mit wissenschaftlichem Anspruch entstanden, die – und das ist das Signifikante – Erfolg hat. Bücher mit der radikalen Faust-Verdammung erlebten mehrere Auflagen und wurden in der Presse beachtet und gelobt. Wer sich diesem Trend nicht fügte, produzierte Ladenhüter und Aufsätze, die nicht beachtet wurden.

Diese Faust-Verdammung und politische Aktualisierung ist verbunden mit einer starken Aufwertung von Goethe als Propheten des 20. Und 21. Jahrhunderts, dem unterstellt wird, er habe die gravierenden Schäden der Globalisierung einschließlich des Finanzkollaps vorausgeahnt und in seiner Faust-Figur verdichtet.

Dass die Interpreten – Interpretinnen dieser Richtung gibt es kaum – sich von den Intentionen Goethes weit entfernen und sein Faust-Drama verkennen und dennoch beanspruchen, eine wissenschaftlich belegte Wahrheit über Goethes Drama zu formulieren, stellt einen Tiefpunkt in der Geschichte der Germanistik dar.

Daher ist ein Werk zu begrüßen, das sich gegen die absolut negative Wertung der Titelfigur wendet. Faust ist für Metscher Protagonist „der neuzeitlichen Weltgesellschaft: Citoyen und Bourgeois zugleich. Faust ist Subjekt der Kultur der Befreiung wie der Unterwerfung.“ „Erst diese Widersprüchlichkeit, keine plane Negativität oder Positivität, qualifiziert den Protagonisten dieses Werks zur Symbolfigur des zivilisatorischen Subjekts der neuzeitlichen wie der menschlichen Geschichte.“ „Eine rein negative Lesart wird dem Text nicht gerecht.“

Auch die Verunglimpfung der „Tat“ im Faust weist Metscher zurück: „Für die heute weit verbreitete Tendenz, Goethe einen nur negativen Tätigkeitsbegriff zu unterstellen, gibt es in den Texten selbst keine Grundlage. ‚Tat’ ist für Goethe ein dialektischer Begriff, […] In Goethes Tatbegriff überwiegt […] das aufbauende Moment“. In Fausts Vision bleibt für Metscher der „zerreißende Widerspruch“ der „Schlüsselfunktion des Wortfelds Tat/Tätigkeit“ in der „Synthesis“ von „produktiver Tätigkeit“ „versöhnt.“ Mephisto behält „nicht das letzte Wort“.

Metscher wendet sich gegen den Pessimismus. Entgegen der unisono negativen Wertung vom scheiternden Faust sieht Metscher in Fausts Schlussmonolog „die Vision befreiter Menschheit“, als „Utopie solidarischer Menschheit“, „eine Position geschichtlichen Bewusstseins jenseits des Nihilismus“. In der Schlussszene artikuliert sich „ein metaphysisch grundierter weltgeschichtlicher Optimismus.“ Der Weg Fausts im Zweiten Teil „führt aus der tragischen Welt des Ersten, […] der geschichtlichen Welt als bellum, […] zur Anschauung der Kräfte, auf deren Grundlage allein eine permanente Ordnung des Friedens der Völker untereinander und in ihrer inneren Verfasstheit errichtet werden kann.“

 Das ist achtbar als Ablehnung der Faust-Verdammung in der aktuellen dominanten Faust-Publizistik. Mit dieser Einstellung führt Metscher in die wissenschaftliche Textinterpretation zurück, eine wichtige Tat in der gegenwärtigen Faust-Publizistik. Metscher setzt den Tendenzen, die eigene Befindlichkeit in das Drama zu projizieren und diese gesellschaftspolitische Ideologie als Interpretation von Goethes Werk auszugeben, den Blick auf die dargestellten Widersprüche entgegen, und er versucht, diese gesellschaftshistorisch zu verstehen. Wenn Metscher auch nicht der Einzige mit dieser Ansicht ist, so bildet seine umfassende gründliche Analyse in der gegenwärtigen Faust-Publizistik ein wichtiges Gegengewicht.

Metschers Ansatz besteht in der zentralen Bedeutung der Dialektik und hier wieder des Widerspruchs im Faust-Drama: „Goethes Faust, dies die erkenntnisleitende These, ist im konstitutiven Sinn dialektisch verfasst, weil er den bestimmten Widerspruch: das Sein als Identität und Differenz, zu seinem Kern hat.“ „Nicht erkannt wurde, dass der Widerspruch für diese Dichtung konstitutiv ist; Widerspruch nicht im logisch-analytischen, sondern im dialektischen Sinn. Goethe ist, unserer Überzeugung nach, der größte Dialektiker unter Deutschlands Dichtern.“ Selbstbewusst verkündet Metscher: „Den überkommenen Lesarten […] setzte ich in dieser Schrift die These entgegen, dass Goethes Faust […] die Darstellung von Widersprüchen ist; […] Dieser Sachverhalt bestimmt die Struktur des Einzelnen wie des Ganzen“.

Mit dieser These, fulminant im Pluralis Majestatis vorgetragen, will Metscher ein neues, das entscheidende, Kapitel in der Faust- und der Goethe-Forschung aufschlagen. „Goethe gelingt es, die Geschichte Europas als Geschichte der Welt, und diese als Teil der Geschichte der Natur – des Kosmos – zu erfassen, […]. Mensch und menschliche Welt sind für Goethe das gewordene Resultat von Naturprozessen, und allein aus ihrem Naturverhältnis angemessen zu verstehen.“

Beim Bezug des Dramas zur historischen Realität bemüht sich Metscher um eine marxistische gesellschaftshistorische Situierung von Figuren und Gesellschaftsbereichen. Auf der Ebene der Gesellschaftsdarstellung „schildert der Zweite Teil die Transformation der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft“. Dieser Ansatz bedeutet die Fortsetzung der sozialgeschichtlichen Thematisierung der dargestellten Gesellschaftsbereiche, die im Marxismus mit Georg Lukács‘ Fauststudien, die zuerst gesammelt 1949 erschienen, begann. Metscher greift über den Horizont der Faust-Interpretation hinaus und deklariert sein Buch „als Prolegomena einer dialektischen Ästhetik, […] als Teile einer materialistisch-dialektischen Ästhetik.“

Metschers umfangreiche Studie zu Goethes Drama ist die Summe der langjährigen Beschäftigung des inzwischen neunzigjährigen Autors mit Goethes Faust, die mit „Faust und die Ökonomie“ 1976 begann, einem Aufsatz, der die sozialhistorische Faust-Interpretation in Westdeutschland anstieß. Metscher listet 16 eigene Beiträge zum Faust auf, „Stufen einer sich erweiternden Erkenntnis“. Metscher hat keine Gesamtinterpretation des Faust-Dramas veröffentlicht. Mit dem neuen Buch macht er einen Anlauf dazu, in Form eines Essays in acht Kapiteln, den er unter seine Generalthese stellt. Er nennt sein Buch „Studien“, seine Schrift erhebe „nicht den Anspruch, eine in sich geschlossene Faust-Deutung zu geben,“ meint dann aber doch, „das Ganze zugänglich“ zu machen.

Im Rückgriff auf bereits von ihm veröffentlichte Rezensionen referiert Metscher einleitend den Faust-Kommentar von Albrecht Schöne von 1994, die drei Faust-Bücher von Michael Jaeger 2005, 2008, 2014, Oskar Negts Publikation von 2006 und das Buch von Heinz Schlaffer 1981; von mir nimmt er meine „Geschichte der Faust-Forschung“ von 2011 wahr, nicht aber meine Gesamtinterpretation des Dramas „Die beschädigte Seele des großen Mannes. Goethes ‚Faust‘ und die bürgerliche Gesellschaft“ von 1982 (3. Aufl. 2011).

Metscher wendet sich nicht nur gegen die gegenwärtige Dominanz der negativen Wertung der Titelfigur, sondern auch gegen die Faust-Verherrlichung des 19. und 20. Jahrhunderts. Gegen beide Wertungen setzt Metscher seine Auffassung der Dialektik der Titelfigur, der dargestellten Gesellschaftsbereiche und Jenseitswelten sowie der Dramenhandlung entgegen.

Metscher bewegt sich mit seinen Themen und Argumentationen auf mehreren Ebenen. Die eine bildet die realgeschichtliche Wertung einzelner Szenen, eine zweite greift, eine Stufe der Abstraktion höher, auf die Gesamtheit der Darstellungen von Natur, Gesellschaft und Kunst aus, eine dritte beurteilt die Dramenform, eine vierte erörtert die Struktur von Goethes Denken. Dabei wechselt Metscher von der historisch materialistischen Argumentationsebene zeitweilig zu bürgerlich philosophischen Kategorien und Begriffen.

Metschers Thesen  

Von Metschers Thesen, zum Teil auf genauen Textanalysen basierend, leuchten die meisten ein. Dass die Dialektik nahezu alle Strukturen des Dramas durchsetzt, ist offensichtlich, ebenso dass der Begriff des Widerspruchs zentrales Merkmal der dramatischen Welt ist. Dass die dargestellten Gesellschaftsbereiche Widersprüche der realhistorischen europäischen Gesellschaften in der Phase der Auflösung des Feudalismus und des Übergangs zum Kapitalismus darstellen, ist richtig.

Auch die realhistorische Bedeutung einzelner Handlungszüge des Dramas identifiziert Metscher zutreffend. Er wiederholt seine von Georg Lukács übernommene These von 1976, dass die Vernichtung von Philemon und Baucis sich auf das Bauernlegen bezieht (den Begriff benutzt Metscher nicht), verweist auf die „Expropiation und Usurpation freier Bauern“, die im 16. Jahrhundert als Raub begann und im 18. Jahrhundert „mittels Gesetzgebung vollzogen“ wurde. „Philemon und Baucis können als Beispielfiguren der ‚freien, selbstwirtschaftenden Bauern‘ gelten, die, wie Marx am Beispiel Englands ausführt, im 14. und 15. Jahrhundert […]‚ plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden‘“. In Deutschland, so wäre zu präzisieren, heißt die letzte Phase des Bauernlegens ‚Bauernbefreiung‘. Das ist die staatliche Regulierung der Enteignung, die Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt und fünfzig Jahre dauerte. Daraus resultierte eine grassierende Massenarmut, die zur Auswanderung vieler deutscher Bauernfamilien nach Nordamerika führte.

Scharf herausgestellt wird Goethes „Feudalismuskritik“ im 1. Akt des zweiten Teils, die Kritik am Adel, der mit dem Feudalismus identifiziert wird. Bei der Papiergeldaktion werde „dem verfaulenden Feudalsystem […] das Ethos kapitalistischer Produktivkraftentwicklung“ entgegengestellt. „Der parasitären Konsumtion des Feudaladels stellt er [Faust] das Ethos produktiver Arbeit“ entgegen. Der Kaiser verkörpert „die Dekadenz des feudalen Systems am konzentriertesten.“ Im brennenden Kaiser werde „der Untergang der Feudalgesellschaft in allegorischer Form“ dargestellt.

In der Seismos-Parabel erkennt Metscher Goethes These zu den materiellen Grundlagen der Geschichte: „Nirgendwo sonst hat Goethe das sozialökonomische Fundament des Historischen, die Auffassung von Geschichte als einer durch die Produktionsverhältnisse determinierten Struktur in vergleichbarer Schärfe pointiert.“ Die „Arkadienutopie“ besitze „einen eindeutig tragischen Schluss“. Im 4. Akt entdeckt Metscher „die [zeit]geschichtliche Bedeutung“, „die viele nicht wahrgenommen oder schlicht geleugnet haben.“

Am ausführlichsten geht Metscher auf den 5. Akt ein. Das Bild, das der Türmer von Fausts Reich entwirft, „das idyllische Bild einer harmonischen Kulturlandschaft“, sei „die ideale frühbürgerliche Landschaft“, „das Oberflächenbild einer frühbürgerlichen Handelsidylle“. Hier komme „ein Grundthema der Faust-Dichtung […], der Komplex produktiver Tätigkeit zu einem Abschluss“. Die Parabel von Philemon und Baucis verdeutlicht nach Metscher die „Vernichtung des kleinen Eigentums als Ende einer Welt, Teil des Konstitutionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft“. „Die Parabel demonstriert […], dass der Weg zur Herrschaft der Bourgeoisie in die Annalen der Menschheitsgeschichte eingezeichnet ist mit Schriftzügen von Blut und Feuer.“ „In Baucis‘ Bericht über die Entstehung von Fausts Reich“ sei „die historische Genesis der bürgerlichen Gesellschaft eingeschrieben.“

Die Struktur des Kolonisationsprojekts bietet nach Metscher Merkmale des sich abzeichnenden neuen Klassengegensatz auf: „Fausts Reich weist klar erkennbare Kerncharakteristika der entwickelten bürgerlichen Formation auf: den kosmopolitischen Kapitalismus (so Marx’ und Engels‘ Begriff): Den Weltmarkt und das Klassenverhältnis von Bourgeoisie und Proletariat.“

In der Schlussszene artikuliert sich nach Metscher „ein metaphysisch grundierter weltgeschichtlicher Optimismus.“, eine positive Utopie: „Bergschluchten ist der Grundriss eines utopischen Gegenentwurfs zu der von Gewalt beherrschten Welt, wie auch Gegenentwurf zum Nihilismus“. In der Schlussszene „ersetzt ein Ensemble weiblicher Gestalten den männlichen Himmel und Gott den Herrn.“

Beim Geschichtsbegriff des Dramas sieht Metscher den Widerspruch zwischen „Geschichte als immergleich schlecht, als perennierender Kampf“ und dem „Kampf der Freiheit“ „als einer verborgenen Utopie“. „Magie im Faust steht für alle Formen der Gewalt: für Gewalt, die Menschen über Menschen, und für Gewalt, die Menschen über die Natur ausüben.“

Zum Verhältnis Natur-Gesellschaft formuliert Metscher: „Meine These lautet hier, dass die innere Bewegung der Faust-Handlung als Prozess […] zunehmender Kontrolle der Gesellschaft über die Natur […] zu verstehen ist.“ Goethe konzipiere „den historischen Prozess als Teil des Naturprozesses, Gesetzen unterworfen, die in der Gesetzmäßigkeit natürlicher Prozesse ihren Grund haben.“

Zur Dramenform meint Metscher:  Goethes Kunst stelle die Wirklichkeit durch das „Zusammentreten von Symbol und Realismus“ dar. Metscher versteht den „Faust als kohärenten Organismus“. Er spricht von „der Doppelstruktur der Faust-Dichtung, […] Mimesis eines historischen Prozesses und Artikulation eines Bewusstseinsprozesses zu sein“.

Metscher folgt der bekannten These, der Faust seine eine Tragikomödie: Die höchste Produktionsstufe der Natur sei im Faust die Kunst. Das Drama schließe mit einer „doppelten Komödie“. „Der Faust beider Teile“ ist „eine Tragödie, die dennoch im Blick auf das Ganze den Charakter einer Komödie besitzt.“ Goethe verabschiede „den männlichen Gott traditioneller Theologie […] durch den ironischen Modus der Darstellung.“ „Konstitutives Mittel im gesamten Text“ sei „die Ironie“.

Metscher wertet Goethes großes Drama als gesellschaftspolitisches Dokument und Vision der Dialektik von „‚Sozialismus und Barbarei‘“. (Zitat nach Rosa Luxemburg)

Dialektik und Widerspruch: Historisch dialektischer Materialismus und Seins-Philosophie

Bei der Begriffsbestimmung der beiden Hauptbegriffe „Dialektik“ und „Widerspruch“ betont Metscher: „Kern der Dialektik ist die Erkenntnis des Widerspruchs als Gegensatz und als Einheit.“ Metscher verwendet den Begriff des Widerspruchs für mehrere unterschiedliche Bedeutungen. Widerspruch bestimmt die Grundstruktur des Dramas, Widerspruch meint aber auch die Negationen Mephistos. Diese ist „der Herr des Widerspruchs“. Als Widerspruch bezeichnet Metscher auch das Weltbild von „Unheilsgeschichte und zivilisatorische[m] Progress“.  „Im Faust, dies also ist die Grundthese meiner Schrift, gestaltet Goethe Widersprüche in singulärer Radikalität. Es ist die Radikalität des geborenen Dialektikers.“

Goethes „eigenes Denken“ sei „‚synkretistisch‘“, es geht Goethe darum, „Geschichte und menschliche Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit ästhetisch zu begreifen“. Faust sei ein „Werk synthetischer Natur“, aufgebaut auf „Drama, Epik, Lyrik“, den drei – mit Goethes Begriff – „Naturformen der Dichtung“. Goethes Ziel sei „die Erkundung und die Darstellung von Welt und Welterfahrung im weitesten Sinn“. Faust sei „Drama der Menschengattung und Tragödie der europäische Zivilisation“.

Metscher greift bei seiner Interpretation von Goethes Drama auf die Philosophie aus. Er formuliert zentralen Thesen sehr abstrakt, ‚philosophisch‘. So meint Metscher, dass „Goethe Natur und Geschichte als zugeordnete Bereiche einer – pantheistisch, prämaterialistisch-dialektisch konzipierten – umfassenden Seinsordnung auffasst.“ Faust will „die Seinsgesetze“, „die ontologische Weltformel“ erkennen, und „zwischen ontologischer und metaphysischer Grundfrage ist philosophisch zu unterscheiden“, wobei Metscher Heidegger zitiert. Die Widersprüche im Faust seien „die Prinzipien des Seins. die principia entis als Concreta“ „Eros tritt bei Goethe an die Stelle der traditionellen metaphysischen und theologischen Konzeption eines ‚ersten prinzips‘ (primum movens).“

Im vierten Kapitel versucht Metscher „Grundlinien eines ontologischen Realismus“ in der Klassischen Walpurgisnacht zu zeichnen, schweift ab zu den Wilhelm Meister-Romanen, um weltanschauliche Positionen Goethes zu bestimmen. Dann erörtert Metscher die Symbolik. „Zum ontologischen  Garanten der Spiegelordnung in Goethes Denken avanciert der Begriff des Symbols.“  Das Symbol sei eine „Gestalt des Logos“, „die einzige seiner Gestalten, die das Absolute auszudrücken vermag. Das Symbol ist dann auch der Ort […] metaphysischer Erfahrung: der Erfahrung der Physis als Ordnung und damit des Sinns des Seins im Einzelnen wie im Ganzen. Die paradigmatische Gestalt des Symbolischen ist nun die Kunst.“

Bei seinem Ausflug in die Theorie der Kunst und „Philosophie“ formuliert Metscher: „Arbeit am Widerspruch. Ontologische Differenz und die Dialektik in den Künsten“ „Die Philosophie“, anders als die Kunst, erhebe den Anspruch. „das Seiende im Ganzen, als ontologische Einheit zu denken.“ Bei Goethe treffen nach Metscher Kunst und Philosophie zusammen: „Die Grundbestimmung des ästhetischen Verfahrens Goethes, seiner ästhetischen Weltaneignung im Faust dürfte lauten: Dialektik als Kunst des Widerspruchs, der Gegensatz als reale Bewegung des Seins.“ Goethes Punkt sei „poetologisch-ästhetisch wie philosophisch: Es ist die Arbeit am Widerspruch.“

Der philosophische Begriff „das Sein“ ist ein statischer Begriff, dem die Geschichtlichkeit fehlt. Er ist mit der historisch dialektischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung unvereinbar. Mit seinem Ontologie-Begriff weicht Metscher vor den Konsequenzen des historisch dialektischen Materialismus als Welterklärung zurück, wechselt zur bürgerlichen Philosophie und landet mit seiner Erörterung der Kunst in Abgrenzung zur Philosophie bei der Seinsmetaphysik, eine ähnliche Alterserscheinung wie bei Georg Lukács. 2015 hat Metscher in einem Aufsatz „Grundlinien einer ontologischen Ästhetik“ entwickelt. „Im Ägäischen Fest wie im 2. Akt im Ganzen treten Geschichte und Natur in dem Gedanken zusammen, die Urformen des natürlichen Seins zugleich die kulturellen Grundformen sind.“

Die philosophischen Partien sind der schwächere Teil von Metschers Essay. Man vermag nur schwer Erkenntnisse darin zu erkennen. Richtig an diesem Ausgriff in die Philosophie des Seins ist, dass Goethes Faust-Drama eine Gesamtdarstellung von Natur und Menschheit sowohl unter dem Aspekt der Ewigkeit wie dem Verlauf der Geschichte in mehreren Dimensionen, von der Antike bis zur aktuellen Gegenwart des 18./19. Jahrhunderts umfasst. Sonst aber gewinnt man den Eindruck, dem Autor sei es darum gegangen zu zeigen, dass er einfache Erkenntnisse auch in der abstrakten Sprache der bürgerlichen Philosophie formulieren kann.

Metscher und die Forschung

So wichtig Ansatz, Ziel, Durchführung und Resultate von Metschers umfangreichen Buch in der gegenwärtigen Situation der Faust-Publizistik sind: Neu ist das alles nicht. Metschers im Brustton der Überzeugung vorgetragene Behauptung, etwas ganz Neues zu bieten, basiert auf der Ausklammerung vorliegender Publikationen, die sein Thema Dialektik und Widerspruch und deren konkrete Bezüge zur historischen Realität berühren.

Metschers Hauptthema ist alt. Die Dialektik als strukturbildendes Moment wurde schon bald nach Erscheinen des zweiten Teils 1833 gesehen und zieht sich durch die gesamte Forschungsgeschichte: So schon Rosenkranz 1847, Trunz 1949, Requadt 1972. Meine Formulierung 1982: „Auf den verschiede­nen Ebenen von Natur und Gesellschaft entwickelt das Drama einen in letzter Harmonie aufgehobenen Antagonismus als universales Gesetz.“ Charles Alan Grair hat 1994 in der Kriegsmetaphorik die dialektische Auffassung von Gesellschaft und Geschichte und die politisch projektive Funktion von Goethes Dramas in der Publizistik seiner Zeit erneut nachgewiesen.

Mit seinem Ansatz, Dialektik und Widerspruch als Grundmerkmale von Goethes Faust-Dichtung auf allen Ebenen und bei allen Themen nachzuweisen, wiederholt Metscher mein Buch von 1982. Metscher kennt das Buch, zitiert aber daraus nur eine belanglose Stelle meiner Kritik an Schöne. Meine ausführliche Gesamtinterpretation des Faust lässt er weg, denn sonst könnte er nicht behaupten, dass noch niemand versucht habe, die Dialektik als Grund- und Gesamtstruktur des Dramas nachzuweisen. Oder er konnte sich daran nicht mehr erinnern.

Wenn Metscher also behauptet: „Doch ist nie, soweit ich sehe, der Versuch unternommen worden, Dialektik als konstitutiven Begriff der Faust-Deutung auszuarbeiten“, und glaubt, „in Neuland vorzustoßen“, so sollte er sich eine bessere Brille anschaffen. Wenn er der Forschung vorwirft: „Der Grund für den Mangel bisheriger Forschung, Faust als kohärenten Organismus zu erkennen, ist in dem Sachverhalt zu finden, dass Dialektik nie als konstitutiver Begriff des Textverstehens Anwendung fand, deshalb auch der besondere Widerspruchscharakter des Werks und der in ihm handelnden Personen unerkannt blieben“, so beruht das auf Metschers mangelnder Wahrnehmung von Forschungsliteratur. Für sich reklamiert er: „Der Gegenstand dieser Untersuchung ist die Frage nach der Rolle der Dialektik in Goethes Dichtung – hier im Faust, […] einer Dialektik, die für die Grundverfassung natürlichen wie menschlich-gesellschaftlichen Seins konstitutiv ist. In diesem zugleich ontologischen und kultur-anthropologischen Sinn ist die Frage nach Dialektik mit Blick auf Faust meines Wissens bislang nicht gestellt worden“.

Diese Behauptung ist falsch. Der umfassende Versuch lag direkt vor seiner Nase. Ich habe 1982 in meinem Buch: „Die beschädigte Seele des großen Mannes. Goethes ‚Faust‘ und die bürgerliche Gesellschaft“, die Dialektik des Weltbildes über die Natur, die Gesellschaft, die Figuren, die Geschichte, die Dramenform und den Szenenaufbau bis in die Symbolik und die Vers- und Sprachformen hinein in sorgfältigen Textanalysen nachgewiesen, die Dialektik des Individualismus im Faust wie in der Realität des Systems Kapitalismus auf der Stufe seiner letzten Übergangsformation herausgearbeitet. Auch der Begriff des Widerspruchs ist bei mir zentral. Unter den Begriffen ‚Antagonismus‘, ‚Gegensatz‘, ‚Kontrast‘, ‚Antithetik‘, ‚Ambivalenz‘, ‚Korrelat‘ und ‚Widerspruch‘ sowie deren Adjektiven habe ich ihn abgehandelt. Im Gegensatz zu Metscher bevorzuge ich den Begriff „Antagonismus“, weil bei den meisten Themen in der Dialektik die Gegensätzlichkeit vorrangig vor dem Widerspruch ist.

Auch bei der behaupteten Originalität seiner marxistischen Geschichtsauffassung liegt Metscher falsch, wenn er urteilt, neben seinen eigenen Schriften gehe in der „Faust-Literatur der letzten Jahrzehnte“ nur Heinz Hamm „von einer explizit marxistischen Position aus“. Er unterschlägt Rainer Dorner, Wolfgang Brenn, Jens Kruse, Oskar Negt, vor allem aber meine umfassende Gesamtinterpretation des Faust, eine marxistische und psychoanalytische Interpretation.

Metschers Ignoranz mir gegenüber ist groß. Er kennt mein Buch, wie aus seinem Kapitel über meine „Geschichte der Faust-Forschung“ hervorgeht; beide Bücher fehlen im Literaturverzeichnis. Er hat den Untertitel meines Buches von 1982 als Überschrift über den Wiederabdruck seines Aufsatzes von 1976 kopiert, der 2003 lautet: „Faust und die bürgerliche Gesellschaft“. Infolge desselben gesellschaftshistorischen Ansatzes und derselben marxistischen Geschichtsauffassung ist es fast zwangsläufig, dass Metscher Resultate meiner Interpretation wiederholt.

Dass Metscher meine umfassende marxistische Faust-Interpretation fortlässt, hat offenbar mit meiner Goethe- und Faust-Wertung zu tun. Meine Kritik an Goethe diffamiert Metscher aggressiv als „Goethe-Phobie“. Damit zeigt sich Metschers Motiv für die Unterschlagung meines Buches: sie hat mit Metschers Goethe-Verehrung zu tun, den er 1976 als Präsozialisten bezeichnete und auch im neuen Buch nahe an Marx und Engels heranrückt. Wer Goethe kritisiert, kann für Metscher kein Marxist sein. Deshalb spricht er mir einen marxistischen Ansatz ab und lässt mein Buch unter den Tisch fallen. Ebenso diffamiert Metschers die „prekäre Allianz“ „einer bestimmten Form von Psychoanalyse“ in meiner Faust-Interpretation, was auch sachlich falsch ist, denn ich stütze mich auf die neuere Narzissmus- und Schizophrenie-Forschung. Metschers Hemmungen vor einer Goethe-Kritik sind die Ursache von Fehlurteilen.

Bei Metschers neuem Faust-Essay hat man es mit einem Buch zu tun, dass sich in die Reihe von Neuerscheinungen seit den 1990er Jahren einfügt, deren Autoren – etwa Gerhard Kaiser 1994, und 2003, Manfred Osten 2002, Oskar Negt 2006 oder Michael Jaeger 2004-2014 – vorliegende Forschungsergebnisse weitgehend ignorieren und das Rad ganz neu erfinden, oder, wie im Fall von Albrecht Schöne, mit der Ausklammerung ganzer Forschungszweige ihren Blick verengen. Diese Autoren geraten in den Geruch des Plagiats. Oskar Negt übernahm zum Thema Bauernlegen wörtliche Formulierungen von mir, gab die Gleichheit in einem Briefwechsel zu, blieb aber dabei, mein Buch nicht gelesen zu haben. Eine öffentliche Klarstellung kam für ihn nicht Frage, stattdessen lud er mich jovial ein, ihn mal zu besuchen. Auch Albrecht Schöne übernahm Erkenntnisse von mir in seinem Kommentar, zum Müttermythos, ohne mein Buch auch nur ins Literaturverzeichnis zu übernehmen. Solche Autoren verhindern dort, wo sie zu anderen Resultaten gelangen, die Auseinandersetzung. Das bedeutet das Ende der wissenschaftlichen Diskussion.

Es ließen sich zahlreiche Beispiele für Metschers Übernahmen anführen: Auch Metscher erfasst, dass Mephisto Fausts zweites Ich ist: „Faust als Protagonist, Mephisto als ihm zugeordnete Figur, als ‚Zweites Ich‘, als Partner, Kumpan und Gegner.“ Die dialektische Zusammengehörigkeit von Faust und Mephistopheles ist häufig diskutiertes Thema von Anfang an. Der Gedanke, Mephisto sei der alter ego Fausts, wird schon 1847 von Karl Rosenkranz und 1859 von David Asher vertreten. Ich habe in einem eigenen Unterkapitel: „Mephisto als alter ego Fausts“ die dialektischen Entsprechungen bei der Sexualität, der Naturbeherrschung, der Rationalität, des Sarkasmus und Zynismus und der Moral aufgezeigt und auch die Grenzen der alter ego-Funktion benannt. Die Dialektik der Figurenkonstellationen des Dramas ist einer der Punkte, die in der Forschung kaum strittig ist. Metschers These: „es gibt kaum eine Figur, die ohne Gegensatz wäre“, ist eine alte Erkenntnis.

Auch die Dialektik von Tragik und Komik wurde im Vergleich mit Dantes Göttlicher Komödie und in der Interpretation des Bergschluchten-Schlusses öfter vorgetragen. Moriz Carriere hat die Komödienelemente 1873 herausgearbeitet, Fietje Dwars hat die These von der Tragikomödie 1990 noch einmal vorgetragen und 2008 wiederholt. Metscher zitiert nur Borchmeyer 2000 und 2001.

Metschers Ausführungen zu Mephisto, dieser sei ein „Nihilist“, „das Böse als Wille zum Nichts“, zu Inhalt und Form, zu Faust und Prometheus, zur Theodizee, zum neuen „Weltprinzip der Liebe“, zu politischen Umwälzungen und zu Unterdrückung und Krieg in der Szene Am „oberen Peneios“, zu den gesellschaftspolitischen Bezügen der Tierallegorien, sind mehrmals erörtert worden. Die These von der Selbstreflektion der Kunst im Faust ist eine der Thesen von Gerhard Kaiser, den Metscher hätte zitieren müssen.

Metscher nennt keine Literatur dazu, tut so, als sei das alles seine neue Erkenntnis. Als ganz ‚neu‘ deklariert Metschers seine emphatische These, die Schlussverse des Dramas seien „Goethes letztes großes Wort“, das „den Charakter eines Testaments“ habe. Das ist schon mehrmals gesagt worden.

Die Formulierung längst bekannter Thesen gerät in den Bereich von Banalitäten und verstiegenen Formulierungen: „Helena bedeutet an dieser Stelle unmittelbar triebhaftes Verlangen nach Schönheit.“ „In der Gretchen-Tragödie jedoch ist die Liebe Medium einer tragischen Zerstörung.“ Fausts Kolonisationsprojekt ist die „Transformation von roher Natur in Kultur“. „Der erfüllte Augenblick ist utopische Vision, die Vision bleibt Illusion, solange sie nicht Praxis wird.“ „Das Thema Natur besitzt innerhalb der Gesamtkonstruktion der Faust-Dichtung eine leitmotivische Funktion.“ Abstrakter: „Die Erfahrung der Gesetzlichkeit der Natur sieht die Prozesse ihrer Formbildung als eine objektive Dialektik von Naturbewegungen.“ Der Begriff der Schönheit sei Ausdruck einer „teleologischen Kosmologie.“ „Der Helena-Akt gestaltet die Erfahrung der ästhetischen Welt, und er tut dies in der Form des Werdens der ästhetischen, der Kunstproduktion.“ „Mit großer Schärfe hat Goethe den Kern des Tragischen erkannt.“

Zum Teil erschöpfen sich die Interpretationen von Szenen in Nacherzählungen, so bei den Rahmenhandlungen und der Margarete-Handlung. Das führt dann zu Banalitäten wie: „Im Verlauf der Handlung wächst Mephistopheles in eine wahrhaft teuflische Rolle hinein.“ Wer hätte das gedacht?

Es fehlen wichtige Bereiche. Goethes dialektische Darstellung von Genuss, Verausgabung, Askese und Geiz in den Figuren Plutus, Knabe Lenker, Avaritia, wird nicht erörtert, sondern nur die Handlung nacherzählt. Störend wirken die vielen Wiederholungen, gehäuft bei der Margarte-Handlung und bei der These Faust sei auch eine Komödie. (5. und 6. Kapitel). Ganze Sätze werden wörtlich wiederholt. Das bescheidene Resultat steht im Missverhältnis zu den endlosen Erörterungen: „Tragikomisches Welttheater ist die Grundidee von Goethes Faust.“

Es ist zwar vertretbar, dass in der Forschung bereits formulierte Erkenntnisse wiederholt werden, um sie gegen das Vergessen in der neueren Faust-Publizistik erneut ins Bewusstsein zu rufen, oder den Anschluss an die eigenen neuen Thesen herzustellen, aber es muss dann gesagt werden, dass es sich nicht um neue Erkenntnisse handelt. Der Wert von Metschers Reformulierungen liegt in der Präsenz von Erkenntnissen, die durch den postmodernen Voluntarismus verschüttet waren.

Metschers Geschichtsauffassung

Neben der Detailkritik fordert vor allem Metschers historisch materialistisches Geschichtsbild, seine Auffassung des Kapitalismus und der Entwicklungsstufen aus dem Feudalismus zur Kritik heraus. Ich teile Metschers Ansicht, dass der marxistische Gegensatz von Feudalismus und Kapitalismus den entscheidenden Zugriff auf die Geschichte ermöglicht und dass das Faust-Drama auch deswegen so faszinierend ist, weil es die Gemengelage in den Übergangsformationen so anschaulich darstellt.  

Metschers marxistischer Gesellschaftsdarstellung fehlt aber eine ausreichende Systematik. Metscher setzt die Kenntnis der von Marx herausgearbeiteten Übergansstufen voraus, spricht öfter von der „ursprünglichen Akkumulation“, ohne zu erklären, worin die besteht, und er spricht von den „Industriellen und Politischen Revolutionen, welche die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft als Formation herbeiführten und begleiteten.“

Er unterscheidet nicht die historischen Stufen der formellen und der reellen Unterordnung der Arbeit unter das Kapital, welche die Geschichte der Neuzeit vom 14. bis 19, Jahrhundert gliedern. Metscher zitiert von Marx nur Das Kapital, nicht aber die Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses und nicht die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Außerdem wechselt er zwischen dem bürgerlichen Begriff der „Industriellen Revolution“ und dem marxistischen Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“, ohne zeitliche Präzisierung.

Dass Metscher Baucis’ Bericht über die Entstehung von Faust Kolonisationsprojekt als „metaphorische Referenz auf Prozesse der Industriellen Revolution“ deutet, zeigt die Ungenauigkeit von Metschers Geschichtsverständnis. „Industrielle Revolution“ ist der Begriff für die technische Revolutionierung der Produktionsmethoden. Der begann mit der Einführung von mechanischen Spinn- und Webmaschinen in der englischen Bauwollindustrie in den 1780er Jahren. ‚Industrielle Revolution‘ heißt bei Marx „die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital“. Möglich wird sie erst durch den vorausgehenden Prozess der „formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital“, der mit dem zeitgenössischen Begriff des „Verlags“ verbunden ist.

Die Verleger machten durch Kreditierung „Verlegen“ von Rohstoffen und Arbeitsgeräten wie dem Webstuhl die Spinner und Weber von sich abhängig, konnten dadurch die Preise diktieren, veränderten aber lange die Art des Spinnens und Webens nicht. Die Veränderung der Eigentumsform an den Produktionsmitteln im Verlagswesen fehlt bei Metscher.

‚Industrielle Revolution‘ betrifft die Arbeit auf Fausts Baustelle nicht, denn es wird nicht von der Einführung besserer Maschinen bei der Bewegung der Massen an Sand berichtet, im Gegenteil: Es sind schaufelnde Arbeiterheere, die das Werk vorantreiben. „Werkzeug, Schaufel, Spaten repräsentieren den Komplex der Produktionsmittel“, heißt es bei Metscher. Noch der Suezkanal wurde auf diese altertümliche Weise geschaffen.     

Metschers Zeitvorstellungen der Übergangsformationen vom Feudalismus zum Kapitalismus sind zu vage. Metscher bedient sich des schwammigen Begriffs „frühbürgerlich“ – „im Sinn der frühbürgerlichen Weltanschauung“ – „das Oberflächenbild einer frühbürgerlichen Handelsidylle“, ohne systematische oder zeitliche Terminierung. Goethe zeige „den Niedergang des feudalen Absolutismus und den Aufstieg der bürgerlichen Welt – von der Ursprünglichen Akkumulation, dem kolonialen Kapitalismus zur Industriellen Revolution und zur Entstehung des Proletariats“.     

Das ist sehr ungenau: Absolutismus ist eine Herrschaftsform, bei der sich der Herrscher sowohl auf den Adel als auch auf das kapitalkräftige Bürgertum stützt und beide Klassen gegeneinander ausspielen kann; er ist nicht mehr nur feudal. Der „koloniale Kapitalismus“, also die Eroberung der Kolonien, ist eine Folge der Zunahme des Handelskaptals, hat also nur mittelbar zu tun mit der Unterordnung der Arbeit unter das Kapital, die Voraussetzung der Revolutionierung der Produktion. Die „Stufen“ und die „Formation“ werden nicht erläutert und nicht präzisiert. Es bleibt beim Begriff „der sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft“. Ebenso ungenau wird der Begriff „frühsozialistisch“ verwendet.

Die Ungenauigkeit geht bis in Einzelheiten. Eine „mittelalterliche Universität“ gibt es nicht. Die ersten Universitäten sind in der frühen Neuzeit gegründet worden, sie markieren mit den Beginn der Neuzeit. Wittenberg, die Universität in der Historia, dem ersten Faustus-Buch, wurde 1502 gegründet.

Die unpräzisen Vorstellungen von Beginn und Ende des Feudalismus, des Kapitalismus und des Sozialismus/Kommunismus und ihrer Übergangsstufen führen zu Fehlbeurteilungen im Gesellschaftsbild von Goethes Drama. Obwohl Metscher seine These von 1976 vom fast sozialistischen Goethe im Faust in den nachfolgenden Aufsätzen zurücknahm, erscheint die Harmonisierung von Marx-Engels und Goethe in Metschers Spätwerk erneut. So rückt er Goethes Dialektik nach an die des historisch dialektischen Materialismus heran und verkündet im Pluralis Majestatis: „Die Positive Dialektik hingegen, wie sie das Denken im Anschluss an Marx und Engels vertritt, und wir möchten hier Goethe hinzufügen“ …  „Auch im Faust führt der Weg von der Philosophie in die Richtung ihrer Aufhebung in gesellschaftliche Praxis.“ Damit behauptet Metscher, Goethe habe im Faust Marx‘ 11. Feuerbach-These verwirklicht. „Sicher“, sagt Metscher, „Goethe war kein Sozialist“, „aber im Todesmonolog steckt „frühsozialistisches Gedankengut“.

Metschers These von der Nähe von Goethes Dialektik zu der von Marx und Engels ist entgegenzuhalten, dass der Bezug zur bürgerlichen Dialektik fehlt. Denn die Überwindung der Dialektik in einer göttlichen Harmonie und Ewigkeit unterscheidet Goethe grundlegend von der marxistischen Dialektik. Goethes Dialektik gehört in die Geschichte der Dialektik des deutschen Idealismus mit Hegel als Höhe- und Endpunkt, weil sich Goethes Aufhebung der Dialektik in der Überzeitlichkeit berührt sich mit Vorstellungen der idealistischen Dialektik, etwa mit Novalis‘ Goldenem Zeitalter, Schellings Mythos-Begriff und Hegels Absolutum. Goethe entwickelte die Geschichtstriadik – Einheit-Zerfall-höhere Einheit – vor allem in den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, im ‚Faust‘ ist sie konstitutiv.  

Individualismus

Gravierend ist, dass Metscher in seiner marxistischen Gesellschafts- und Geschichtsanalyse den Individualismus ausklammert, eine zentrale Erscheinung der Neuzeit, des sich herausbildenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Für Metscher ist Faust vorwiegend als Klassensubjekt definiert, als „Protagonist der bürgerlichen Gesellschaft“, „als Chiffre des Subjekts der Gattung“. „Faust ist zugleich auch historisches Gattungssubjekt: der Bürger als Klassensubjekt“, „Kollektivsubjekt“.

Der neuzeitliche, wissenschaftliche Zugriff auf die Natur, empirisch beweisend und mathematische Naturgesetze formulierend, hat zur Voraussetzung, dass sich der Mensch aus der Natur wo weit herausgelöst hat, dass er sich als ihr gegenüberstehend begreift. Diese Voraussetzung wird erst durch die Autonomie des Handels- und gewerblichen Privateigentümers auf einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe geschaffen. Diese Autonomie ist die des Einzelnen. Wie weit der Individualismus das Denken beeinflusst hat, zeigt sich zum Beispiel bei Thomas Hobbes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der sich Gesellschaft nur als Vertrag zwischen Individuen vorstellen konnte.

Da die Autonomie des Subjekts durch die gesellschaftliche Gebundenheit begrenzt wird, ergibt sich beim Individualismus der Grundwiderspruch zwischen Selbstsetzung und sozialer Abhängigkeit. Karl Marx hat in seinem Aufsatz Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte schon 1852 auf diesen Widerspruch hingewiesen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Goethe hat diese Widersprüchlichkeit im Faust-Drama, vor allem in der Titelfigur, auf die Spitze getrieben. Faust löst sich aus allen sozialen Abhängigkeiten, er ist der Repräsentant der Autonomie des Subjekts, aber er ruiniert Mitmenschen, mit denen er in Kontakt tritt. Am Ende seines Lebens ist Faust das Sinnbild der nahezu totalen Vereinsamung und Isolierung des Individuums, aber eines, das die Menschheit beglücken will, indem Faust Millionen Menschen Land verschafft. Die Widersprüche des autonomen Individuums bilden eine Grundkategorie der Fausthandlung und des Menschenbildes des gesamten Dramas. Margarete und Helena gehen daran zugrunde, das Gegenbild zur Autonomie, die beiden Alten Philemon und Baucis samt Wanderersohn, werden vernichtet. Anders als Metscher behauptet, ist bei Faust nicht die Klassenzugehörigkeit signifikant, sondern sein Individualismus.

Zu kritisieren ist auch, das Metscher die Zwitterformen in den Eigentumsverhältnissen nicht erkennt: Faust wird als Landbesitzer Herrscher über ein von ihm selbst geschaffenes Imperium, aber das Land hat er als Lehen erhalten, also als feudale Besitzform. Metscher erwähnt das Lehen, meint aber, das feudale System sei abgeschafft. Die Arbeiter sind teils angeheuerte Arbeiter in der modernen Form als Lohnarbeiter („bezahle, locke“), zum Teil aber auch zur Arbeit gezwungene Leibeigene („presse bei“). Auch das sieht Metscher in seinem Begriff des disponiblen Arbeiterheers“ nicht. Goethe bildet mit seiner Mischung feudaler und kapitalistischer Strukturen die Situation seiner Zeit ab: Der Feudalismus ist noch präsent, aber die neue Form kapitalistischer Unternehmer- und Lohnarbeit setzt sich bereits durch.

In der Papiergeldszene erkennt Metscher nicht, dass es sich um den Reflex auf die Einführung von Banknoten und die Ausbreitung des Staatschuldensystem handelt. Hier hätte Metscher Das Kapital zur Bedeutung der Staatschuld für die Herausbildung des Kapitalismus zitieren können, eine Erkenntnis, die schon Heinrich Heine 1840 im ersten Buch seine Börne-Denkschrift formuliert hat. Metscher verweist wenigstens in einer Fußnote auf die Textstelle bei Marx. Metscher erkennt auch nicht, dass Goethe in der Rettung des Kaisers durch Faust und Mephisto und in der Neuinthronisierung des Kaisers ein Modell einer vom Bürgertum abhängigen Zentralgewalt darstellt als Diskussionsbeitrag zur möglichen Verfassung des sich bereits abzeichnenden deutschen Nationalstaates.

Sexualität

Metscher lässt zentrale Bereiche aus, die für das Weltbild des Dramas konstitutiv und seit langem in der Forschung dargestellt sind: die Landschaften und ihre Symbolik, die Antagonismen der vier Naturelemente Wasser, Feuer, Luft und Erde, die Sexualität, das Frauenbild, die Kindesmordproblematik.

Am Beispiel der Sexualität sind die Konsequenzen von Metschers Defiziten zu skizzieren. Nur einmal sagt er „Faust selbst ist Repräsentant sexueller Gewalt, Gretchen ihr Opfer“ – und das ist auch noch falsch. Margarete will die Liebesvereinigung, weder vergewaltigt Faust Margarete noch schlägt er sie. Es gibt nicht einmal Streit. Faust Versagen besteht darin, sie nicht beschützt zu haben. – Die Sexualität, die im Drama über weite Strecken dominant ist, fortzulassen, ist so gravierend, dass Metscher sein Ziel, das „Ganze“ zugänglich zu machen, verfehlt.

Dabei hätte ein Blick in die vorliegende Forschung Metscher darauf aufmerksam machen können. Die Dialektik von sinnlicher und zärtlicher Liebe in Faust Liebesgeschichte mit Margarete, der Widerspruch von Hetero- und Homosexualität, von Vergewaltigung und sinnlicher Liebeserfüllung – alles fehlt bei Metscher. Er übergeht auch, dass in der Liebesgeschichte von Faust und Margarete pubertäre Jünglingsängste vor dem ersten Koitus gestaltet sind und die Wahl von Helena als Liebesobjekt mit den vier Merkmalen: Vergebensein in einer bereits bestehenden Ehe, Bedrohung, Rettung, Höchstwertigkeit als sexuell anziehendes Liebesobjekt – der Objektwahl bei einem an die Mutter fixierten Mann entspricht, einem Typus, den Sigmund Freud bereits Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Dass der Vollzug der Liebe mit Helena zur Voraussetzung die Vergewaltigung der Mutter hat und dass die Arkadienidylle endet, als und weil Euphorion ein Mädchen vergewaltigt und symbolisch den sexuell konnotierten Höhenflug wagt und abstürzt. – all das fehlt bei Metscher, liegt aber in der Faust-Forschung vor. Metscher hätte es bei mir nachlesen können.

Welche Konsequenzen die Ausklammerung der Sexualität hat, zeigt Metschers Interpretation des Müttermythos. Metscher bietet nur das übliche abstrakte Geraune: „Fausts Gang zu den Müttern ist ein Bewusstseinsakt, sein Gegenstand Natur als ewig wirkende Materie,“ sein „Erkenntnisvorgang führt in das Innerste der Natur, […] in die Tiefe des Ich.“ Dass Goethe hier in aufdringlicher Sexualsymbolik – blitzender Schlüssel als erigierter Phallos, Dreifuß als weibliches Genitale und Koitus – die Vergewaltigung der Mutter durch den Sohn als Voraussetzung der Liebeswahl Helena darstellt, wie ich nachgewiesen habe, lässt Metscher weg. Mein Kapitel über die Mütter nahm Werner Keller 1991 in seinen Band Wege der Forschung zu Faust II auf.

Es fehlt auch die so charakteristische Dialektik von Sexualaskese und Lust im kapitalistischen Arbeitsbegriff. Dass Faust als Gelehrter der Anfangsszenen und als Großunternehmen sexuell asketisch lebt, die sexuelle Liebe ihn in Katastrophen stürzt und was das mit dem Wandel des männlich bürgerlichen Subjekts im Kapitalismus zu tun hat – nichts davon erörtert Metscher.

Frauenbild und Schuld

Beim Frauenbild ist gravierend, dass Metscher die Änderung in der Beurteilung der Margarte-Handlung nicht berücksichtigt, seit bekannt wurde, dass Goethe sich aktiv für die Hinrichtung von Johanna Höhn eingesetzt hat. Ebenso streift er nur einmal „die Tragödie der Kindesmörderin“, mehr aber erfolgt nicht. Es fehlen die Forschungen zur Kindestötung und die Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe für dieses Delikt in Bezug auf die Margarete-Tragödie.

Die biographischen Bezüge sind dürftig. Der Bezug zum Schicksal von Cornelia fehlt. Dass die erste Fassung der Faust-Tragödie in der Zeit der großen Krise mit der Schwester Cornelia entstand, die an dem psychischen Inzestverhältnis zu ihrem Bruder zugrunde ging und mit 26 Jahren starb, ist für Metscher kein Thema, obwohl gerade Goethe dafür bekannt ist, dass er seine Konflikte in Dichtungen agierte. Metscher schätzt offenbar Kurt Robert Eisslers psychoanalytische Goethe-Studie so wenig, dass er ihr ausweicht. Nach Metschers ist für „eine werkorientierte Philologie (wie ich selbst sie vertrete) die Instanz des Autors von sekundärer Bedeutung“. Mit diesem Votum bleibt ihm eine wichtige Ebene der Faust-Interpretation verschlossen. Er hält diesen Ansatz auch nicht durch, macht Aussagen über Gothe in Bezug auf das Faust-Drama und gerät damit in Widerspruch zu seiner These.

Bei all dem fällt Metscher weit hinter den Forschungsstand zurück.

Geradezu rückschrittlich sind Metschers Thesen zur Schuldfrage, eines von Anfang an kontinuierlich engagiert diskutierten Themas. Zu Fausts Verhalten gegenüber Gretchen und Philemon und Baucis formuliert Metscher: … „seine vielfach schuldhafte Verstrickung“. Der Begriff war das Standardargument zur Milderung von Faust Schuld und diente seiner Rechtfertigung. Nach einer Jahrzehnte langen Diskussion über die Schuldfrage, die ich in meiner Geschichte der ‚Faust‘-Forschung ausführlich dargestellt habe, diesen zu Recht kritisierten Begriff „Verstrickung“ ohne jedes Eingehen auf die Forschung wieder hervorzukramen, ist ein Rückfall in eine widerlegte Argumentation.

Zu den Fehlbeurteilungen zähle ich auch Metschers überschwängliches Lob der Bücher von Michael Jaeger. Obwohl Metscher Jaegers „diffusen Moderne-Begriff“ schon 2011 kritisiert und urteilt, Jaeger betreibe nichts anderes als die von ihm bekämpfen „Perfektibilisten“, seine Lesart „ersetzt, scheint mir, ein schlechtes Extrem durch ein anderes: der planen Positivität überkommener Deutungen wird die plane Negativität entgegengestellt. Widersprüche, Ambivalenzen werden ignoriert,“ und diese Kritik in seinem neuen Buch wiederholt, lobt Metscher Jaegers Schriften über den grünen Klee: Jaegers Bücher dürften „wohl da Beste sein, […] das die gegenwärtige Goethe-Forschung aufzuweisen hat.“

Warum Metscher Jaegers Wuttiraden und Projektionen als wissenschaftliche Leistung feiert, bleibt sein Geheimnis. Das Lob ist umso befremdlicher, als der von ihm so überaus geschätzte Heinz Hamm 2013 ebenso wie ich zwei Jahre zuvor geurteilt hat: „Jaeger benutzt den Faust als Projektionsfläche eigener Befindlichkeit.“ (Heinz Hamm, Der falsche Zeuge) Wenn Metscher mir „die peinliche Abkanzelung Michael Jaegers“ vorwirft, dann gebe ich das zurück: Ich empfinde Metschers Lob von Michael Jaegers Texten als Entgleisung. Wenn Metscher bei seiner Kapitalismusanalyse im Faust urteilt, seine Resultate „decken sich durchaus mit Ergebnissen […] in Arbeiten Michael Jaegers“, nur „im Einzelnen“ sei er anderer Meinung. (S. 469), dann entwertet er seine eigene Darstellung.    

Die Wertungen

Metscher konstatiert zwar die Dialektik der Dramenstrukturen, trägt wenig zur Begründung der Dialektik bei. Warum hat Goethes im Faust dargestellte Welt die Struktur der Dialektik? Zentral wäre auch die Herleitung des Begriffs der unendlichen schöpferischen Arbeit im „Streben“. Die Erlösung und Fortdauer Fausts im Jenseits entspricht Goethes eigener Weltanschauung, da Goethe aus dem unendlichen Arbeiten die Fortdauer der Seele nach dem Tod abgeleitet hat. Dass hier die protestantische Ethik im kapitalistischen Arbeitsbegriff ihren Triumph feiert, fehlt bei Metscher.

Goethes Drama ist keine abgehobene Kunst um der Kunst willen, sondern eine politische Schrift. Aber mit welcher Parteilichkeit? Die Aufgabe einer Textinterpretation besteht auch darin, diese Weltsicht aus den Erkenntnissen und Interessen Goethes herzuleiten. Metscher versucht trotz aller Beteuerung, Goethes Klassenstandpunkt sei bürgerlich, Goethe nahe an die proletarische Parteilichkeit von Marx und Engels heranzurücken. Ich sehe das anders. Ich habe an Metschers These vom fast sozialistischen Goethe schon 1983 in einer ausführlichen Erwiderung auf Faust und die Ökonomie Metschers These vom frühsozialistischen Goethe entgegengehalten, dass es sich hier um bürgerliche Idealvorstellungen handelt. Ich werte die Parteilichkeit Goethes als bürgerlich-bourgeoise. „Das erfolgreiche Bestehen des Kampfes mit der Natur, welches das Drama in Faust so glänzend und so überzeugend vorführt, ist das stärkste Legitima­ti­on­sargument der Bourgeoisie, mit dem alle negativen Züge überdeckt, entschuldigt und aus­gelöscht werden. Dass der strebende Faust die Natur besiegt und dem Teufel standhält, ist eine glänzende Apologie des kapitalistischen Unternehmers.“ (Scholz, Beschädigte Seele) Auch diesen Diskussionsbeitrag übergeht Metscher in seinem neuen Buch.

Vorzug und Bedeutung von Metschers Faust-Buch liegt darin, dass die Diskussion über die Strukturen der Weltsicht des Dramas wieder eröffnet ist, dass wissenschaftliche Argumentationen über den Zusammenhang von dargestellter und historischer Wirklichkeit an die Stelle des unscharfen Begriffs der „Moderne“ treten und eine differenzierte Sicht der Titelfigur und ihrer Widersprüche die projektive Negativität beendet. Metschers Leistung besteht in der Präzision der Frage, in welchem Ausmaß und in welchen Details die materiellen sozialen Verhältnisse der europäischen Gesellschaft am Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismusviel im Drama zur Erscheinung kommen. Das kann weiter diskutiert werden.

Titelbild

Thomas Metscher: Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung.
Mangroven Verlag, Kassel 2024.
610 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783946946410

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