Im Anfang war das Wort
Iso Camartin webt in „Verdorbene Buchstaben, heilige Schriften und letzte Worte“ ein komplexes, aber zugängliches Netz aus Erzählungen um seine Sammlung religiöser oder ritueller Kunstobjekte
Von Silvio Barta
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseArtefakte als Zeugen der schriftlichen Kultur begleiteten uns seit Jahrtausenden. Die Beschreibung derer dienen Camartin jedoch eher als Einstieg, um sich mit grundlegenden Themen wie Glauben, Kultur und Hoffnung auseinanderzusetzen.
Zunächst zum Erwartungsmanagement: Es handelte sich um ein sehr persönliches Buch, nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung von Textformen oder schriftlicher Kultur mit dem Anspruch auf Objektivität oder Allgemeingültigkeit. Camartin beschrieb die Exponate seiner über 50 Jahre umfassenden Sammlung, schilderte die Geschichten dahinter, wo und wie er die Kunstobjekte fand und warum er sich entschied, sie zu erwerben. Als Literaturprofessor versteht er es, die Objekte durch intensive Literaturrecherche in einen Kontext zu setzen, und beschäftigt sich mit deren ikonographischer Bedeutung: Was hatte dieses kleine Puzzleteil mit der großen Entwicklung der Schriftkultur zu tun? Und vielleicht noch wichtiger: Was sagte dieses ästhetisch zweifellos faszinierende Objekt heute über uns aus, in einer zunehmend digitalen Welt?
Eine abenteuerliche Reise durch Raum und Zeit
Die Reise beginnt im Alten Ägypten mit einem Würfelhocker aus dem Neuen Reich. Indische Gottheiten, afrikanische Korntafeln, orthodoxe Ikonen, aschkenasische Mesusas, eine Tuschfederzeichnung von Lyonel Feininger… Die Artefakte sind vielfältig, und die Auswahl erinnert auf den ersten Blick an das Sammelsurium eines Kuriositätenkabinetts. Camartins Erzählungen eröffnen zwar eine Metaebene, die alles miteinander verbindet, doch am Ende fügt sich nicht alles nahtlos zusammen, sodass das Buch in Einzelteilen verharrt. Die Kapitel sind für sich stehende Essays, auch wenn sie grob thematisch gruppiert sind. Je nachdem, wie intensiv die Suche nach Klarheit ist, kann dies ein Vor- oder ein Nachteil sein. Kurzweilige Unterhaltung bietet es allemal.
Man könnte einfach behaupten, dass ohnehin alles mit allem verbunden sei – die Welt wäre nicht so, wie sie ist, gäbe es nicht die Ikonen von Rebecca Horn, Gebetsteppiche aus Kayseri oder Esther-Rollen. Genau hier liegt die Pointe des Buches: Es geht eben darum, was wir betrachten und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Oder vielmehr, welche Verbindungen wir hervorheben.
Manchmal lässt Camartin das Geheimnis ungelöst, wie bei der Bemerkung zu einem Jadesiegel aus China: Er habe dessen Bedeutung nicht ermitteln können, da er kein Sinologe sei. Doch auch das passt zur Geschichte: Es geht eher darum, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben. Oft bleibt uns so auch die Enttäuschung erspart und das Objekt behält seinen mysteriösen Glanz. Man stelle sich vor, das Jadesiegel trüge lediglich den banalen Abdruck „bezahlt!“ und die Verbindung zu babylonischen Rollsiegeln würde bemüht oder gar lächerlich wirken.
Eine indirekte Autobiografie
Iso Camartins internationale und kulturübergreifende Auswahl unterstreicht, dass uns bestimmte Themen seit der Entstehung der Schriftkultur immer wieder beschäftigen. Wörter bilden das Fundament, auf dem sich Begriffe wie Selbsterkenntnis oder Gerechtigkeit stützten. Gerade diese Fähigkeit, durch Texte Vergangenheit und Zukunft zu vergegenwärtigen, ermöglicht es uns, über Ursprünglichkeit und Ewigkeit nachzudenken.
Dabei verrät Camartin nicht, ob ihn ein Textstück zum Objekt führte oder ob das Objekt als Inspiration für das Schreiben diente. Er thematisiert seine Suche nach bildnerischen Entsprechungen für die Texte in seinem Kopf und analysiert dabei auch den autobiografischen Charakter seines Schaffens im Nachhinein. Seine Auswahl, Selbstzensur oder Absicht seien eben persönlich, es gehe um Literatur.
Wer sich für die Überlegungen, Perspektiven und Leidenschaften Camartins interessiert, wird hier reichlich fündig: Humorvolle, geistreiche und kluge Gedanken durchziehen das Werk.
Am Ende stehen jedoch die großen Fragen: Was bedeutet die globale Schriftkultur für uns Menschen im Jahr 2024, mitten im nicht enden wollenden digitalen Wandel? In den Kunstobjekten Camartins suchen wir Trost, doch diese Sehnsucht wird nicht gestillt. Denn genau an dem Punkt, an dem das Narrative der Kontextualisierung am meisten Befriedigung hätte bringen können, bricht es ab. An diesem Punkt insistiert die Erzählung auf die Subjektivität. Die seltsamen und wunderbaren Kunstobjekte scheinen notwendig, um unsere Gegenwart zu verstehen. Man wüsste allzu gerne, wie.
Oder zumindest Iso Camartins Meinung dazu.
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