Vom Landstreicher zum passionierten Cineasten

In seinem Roman „Das flüchtige Licht“ erzählt Florian L. Arnold von einem Außenseiter, der durch Zufall zum Film kommt

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Staubige Straßen eines heruntergekommenen italienischen Vorortes und ein Freundschaftsquartett, bestehend aus Elio, Gianni Aurelio und Spucino. Das ist das trostlose Umfeld des Protagonisten Enzo in Florian L. Arnolds neuem Roman Das flüchtige Licht. Enzo erfährt in seiner Kindheit und Jugend keine Freundschaft unter Gleichaltrigen – im Gegenteil, er wird bewusst abgelehnt: „Wie man einen räudigen Hund verscheucht, jagtet ihr ihn fort, fragtet nicht lang, was er hier wollte.“ Trotz aller Erniedrigungen lässt sich Enzo nicht aus der Stadt vertreiben. Nicht zuletzt sein Äußeres – magere Gestalt und rothaarig – versetzt ihn in den Status eines klassischen Außenseiters. Obwohl er noch so hartnäckig die Gesellschaft der vier Freunde sucht, gelingt es ihm nicht, Sympathiepunkte zu gewinnen. Er zieht hinaus, irrt ziellos umher. In seiner Einsamkeit verlernt er beinahe das Sprechen. Florian L. Arnold schildert die Entwicklungs- und, wenn man so möchte, die Bildungsreise eines jungen Mannes, der seinen Platz und seine Rolle innerhalb der Gesellschaft sucht:

Seine blinden Wanderungen trugen ihn an Orte, die vielleicht niemand außer ihm kannte. Er fragte sich vergnügt, warum er diese Orte gefunden hatte, warum er diese Wege gegangen war, hätte er doch auch ganz andere Wege gehen können.

So stößt er zufälligerweise auf ein Filmteam bei Dreharbeiten und läuft unbedacht mitten in eine Aufnahme. Fortan erhält Enzo Aufmerksamkeit des zunächst zornigen Regisseurs, den alle „Monsignore“ nennen. Um ihn ranken Legenden, wie Enzo schließlich durch die Maskenbildnerin Luisa erfährt. Sie führt ihn geduldig in die Welt des Cinecittás und des Drehens ein. Der an Kinderlähmung leidende Filmschaffende gibt Enzo schließlich die Rolle eines Landstreichers. Zum Star wird Enzo nicht, zu fremd scheinen ihm zunächst diese künstlich geschaffenen Welten. Fast schon verstört beobachtet Enzo, wie die Kulissen nach den Dreharbeiten vernichtet werden. Hieran verdichten sich kluge Reflexionen über die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit, über das Kino, über die Illusion des Films, ohne dass ausschweifende Abhandlungen nötig sind. Die Traumwelt, in der sich Enzo zuhause fühlt, ist mehr als ein Setting: Es ist ein endliches Lebensgefühl, das die Klaviatur aller Emotionen bedient. 

Als der Film mit Enzo abgedreht war, braucht der Monsignore ihn nicht mehr und widmet sich neuen Projekten. So schaut sich Enzo eines Tages einen Film an, dessen Geschichte der Regisseur von ihm geklaut und neu besetzt hat. Der Gang ins Kino ist eine melancholische, aber zugleich befriedigende Handlung, die Erinnerungen und Hoffnungen evoziert. Vor der Leinwand erinnert sich Enzo an den Monsignore, aber auch an Luisa, in die er sich verliebt hat. Der Kinosaal erweist sich als Ort, an den es Enzo immer wieder hinzieht. Dort kann er sich der Illusion leidenschaftlich hingeben: 

Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. 

Eine solide gesellschaftliche Verankerung gelingt Enzo jedoch nach wie vor nicht. Weiterhin lebt er in prekären Verhältnissen, so dass er an seinem 30. Geburtstag ein Fahrrad stiehlt – und dabei sofort von der Carabinieri erwischt wird. Er bemerkt, dass er das Leben auf der Straße nicht mehr so beherrscht wie früher. Alte Rückzugsorte existieren nicht mehr, er verbringt die Nächte „im Dickicht aus Ginster und Lorbeer, das ihn wenig schützte vor der Kälte.“ Der mittlerweile gealterte Monsignore hat seinen einstigen Landstreicher noch nicht aufgegeben und wird mehr und mehr zu einem Mentor. Er betrachtet Enzo als sein Fundstück und sogar als Sohn. Enzo kann auf eine Rückkehr zum Film hoffen. Fast schon magisch zieht es ihn immer wieder vor die Leinwand oder hinter die Kulissen. Er verfällt einer immerwährenden Sehnsucht, die nie wirklich gestillt werden kann. 

Arnold reißt überdies die Entwicklung der anderen Jungen an, die mit Enzo auf den Straßen gespielt haben. Was ist aus ihnen geworden? Konnten sie der Tristesse des Kleinstadtlebens entfliehen? Der Schriftsteller lässt mehrere Erzählinstanzen zu Wort kommen, darunter beispielsweise den Monsignore, der Enzo ausgiebig charakterisiert, so dass die Leser:innen Enzo nicht ausschließlich nur aus der personalen Erzählperspektive wahrnehmen. Der polyphone Roman verfügt somit über eine Perspektivenvielfalt. Gianni zum Beispiel blickt kritisch auf die Grausamkeiten zurück, die er Enzo angetan hat, als er den markanten Rotschopf auf der Kinoleinwand wiedersieht. 

Erst während oder nach der Lektüre erscheinen die einführenden und zugleich lyrisch anmutenden Zeilen des ersten Kapitels wie ein vorangestelltes Motto der darauffolgenden Geschichte:

Ich schreibe über eure Träume.
Ich bin die Stimme hinter euren Gedanken.
Wo ihr leere Landschaften seht,
unentdeckte Länder,
dort war ich zuvor schon,
wanderte gegen Horizonte,
die niemand kannte,
sah Farben, wo keine Farben existierten.

Arnold legt einen klug durchkomponierten Roman vor, der nicht nur durch die Polyphonie seiner Figuren besticht. Zusätzlich verstärken die Schwarz-Weiß-Illustrationen des Autors die magisch-melancholische Stimmung des Textes.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht. Roman.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2024.
248 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783947857203

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